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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

955–958

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roth, Ursula

Titel/Untertitel:

Die Beerdigungsansprache. Argumente gegen den Tod im Kontext der modernen Gesellschaft.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 435 S. gr.8 = Praktische Theologie und Kultur, 6. Kart. Euro 34,95. ISBN 3-579-03485-5.

Rezensent:

Lutz Friedrichs

I. Fragen der Bestattung sind zur Zeit akut. Vielleicht deshalb, weil sich an ihnen gesellschaftliche Umbrüche besonders markant spiegeln. Bestattung ist das Feld der klassischen Kasualien, in dem weltliche Ritualanbieter im urbanen Milieu den Kirchen am stärksten Konkurrenz machen. Von daher kann eine Arbeit über Fragen der Beerdigungsansprache mit erhöhter Aufmerksamkeit rechnen.

Ursula Roth ist, um ihrem Thema Profil und Basis zu geben, mit dem Tonband losgezogen und hat 39 Bestattungsansprachen aufgezeichnet, die 1996 auf zwei Münchener Friedhöfen gehalten wurden. Sie hat nicht nur evangelische, sondern auch katholische und Ansprachen freier "Trauerredner" festgehalten. Diese Ansprachen, zufällig ausgewählt, konkretisieren die zentrale These, wie sie im Titel zusammengefasst ist: Bestattungsansprachen argumentieren gegen den Tod. Sie trösten, indem "sie argumentativ eine bestimmte Deutung des Todes vermitteln" (390).

Gegenüber dieser Eindeutigkeit ihrer Zielrichtung träten Differenzen in den Ansprachen ganz in den Hintergrund, zumal diese etwa quer zu den Konfessionsgrenzen verliefen: Die Unterschiede "innerhalb der evangelischen Beerdigungspredigten" seien "wesentlich auffälliger als die Differenz etwa zwischen evangelischen Ansprachen und nichtkirchlichen Trauerreden." (140) Solche eigentlich nicht unwesentlichen Beobachtungen fallen ganz nebenbei und bleiben randständig, R.s zentrales Interesse gilt dem Nachweis, dass "Beerdigungspredigten", "Bestattungsansprachen" oder "Traueransprachen" - die Begriffe werden synonym gebraucht - nicht nur am gesellschaftlichen Todesdiskurs angeschlossen seien, sondern diesen auch in spezifischer Weise weiterführten.

Mit dieser These beansprucht R., sich vom herrschenden Konsens einer seelsorglich-emotionalen, vor allem auf die Angehörigen ausgerichteten Bestattungshomiletik abzusetzen. Die Sinnvergewisserung der Bestattungsansprache ziele "nicht nur auf die durch den jeweils konkreten Todesfall erforderliche Neukonstruktion der Lebenswelt der Trauernden ab. Vielmehr kann der konkrete Todesfall durch spiegelbildliche Identifikation auch unter den entfernten Teilnehmern und Teilnehmerinnen einer Beerdigung Reflexionen darüber auslösen, dass die Strukturen der je eigenen Lebenswelt durch den potenziellen Tod oder den Tod einer nahen Bezugsperson in ihrer Stabilität bedroht und die der eigenen Lebenswelt zugrundeliegenden Deutungsmuster nur begrenzt gültig sind." (385)

II. R. entfaltet ihre These in vier Hauptkapiteln, die der klassischen homiletischen Dreiteilung in prinzipielle, material-inhaltliche und formal-sprachliche Aspekte folgen. So bleibt, trotz Detailfülle etwa in der Rekonstruktion des gesellschaftlichen Todesdiskurses, der Argumentationsfaden sichtbar, unterstützt von hilfreichen Zusammenfassungen und Überleitungen.

Nach einer kurzen problemeröffnenden Einleitung (1.) wird in Kapitel 2 die "beerdigungshomiletische Grundlegung" in prinzipieller Absicht entfaltet. In den Spuren von Alfred Schütz und Peter Berger/Thomas Luckmann wird das Phänomen wissenssoziologisch rekonstruiert und unter Aufnahme der Ritualtheorien van Genneps und Turners ritualtheoretisch präzisiert: "Das Beerdigungsritual ist vor diesem Hintergrund als gesellschaftlich institutionalisierte Form der lebensweltlichen Sinnvergewisserung zu begreifen." (386) Zur Grundlegung gehört auch die kritische und sehr lesenswerte Verortung des eigenen Ansatzes im gegenwärtigen Diskurs um die Kasualien (81-122).

Diese Grundlegung wird in Kapitel 3 inhaltlich an Hand der 39 Bestattungsansprachen konkretisiert: "Der mit den aufgezeichneten Beerdigungsansprachen gewonnene exemplarische Ausschnitt aus der gegenwärtigen Bestattungspraxis wird [...] daraufhin zu analysieren sein, inwiefern sich die anlässlich eines konkreten Todesfalls auf dem Friedhof öffentlich gehaltene Rede als Abbild der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Tod und Sterben erweist und zugleich, in diese eingebettet, selbst einen Bestandteil dieses diffus geführten Diskurses darstellt." (139) R. rekonstruiert diesen Diskurs, indem sie ihn unter dem Leitbegriff der Todesverdrängung systematisiert und durch Jenseitsvorstellungen der Moderne ergänzt. Auf dieser Grundlage geben die Beerdigungsansprachen einen dreifachen thematischen Bezug zu erkennen: erstens entfalten sie gegen eine Vorstellung des Todes als Abbruch ein Modell, das "irgendwie" Kontinuität zum Ausdruck bringt; zweitens begründen sie meist eine Haltung, "die nicht durch Verzweiflung, Angst und Resignation, sondern durch Dankbarkeit, Freude und Hoffnung geprägt ist" (355), und drittens zielen ihre Argumentationsgänge hinsichtlich des Todes allgemein auf eine "Kultur des memento mori" ab, hinsichtlich des konkreten Todes "dominieren die argumentativen Bemühungen, die Notwendigkeit intensiv gelebter Trauer deutlich zu machen." (356 f.)

Markiert so das dritte Kapitel das inhaltliche Profil, so folgt mit Kapitel 4 der formal-sprachliche Aspekt. Hier geht es R. darum zu zeigen, "inwiefern der diskursive Charakter der Traueransprache deren konkrete Textgestalt und die der Predigt zugrundeliegende Text-Logik prägt und daher über die konkrete Sprachgestalt ermittelt werden kann" (122). Mit Methoden der Textlinguistik rekonstruiert R. Kohärenz und Struktur der Beerdigungsansprachen. Dabei zeichne sich als dominantes Sprachmuster das der Argumentation ab, teils explizit, teils nur implizit nachweisbar, insbesondere dann, wenn Ansprachen stark biografisch bestimmt sind. Auch für solche Ansprachen behauptet R. eine argumentative Gesamtlogik, weil für Textpassagen biografischer Rekonstruktionen eine "argumentationsinitiierende Funktion" (371) nachweisbar sei; solche Rekonstruktionen riefen kulturelle Modelle von Leben wach, "auf deren Basis der Tod [...] nicht mehr als alles in Frage stellendes, anomisches Geschehen aufgefasst werden muss, sondern sich vielmehr als in einen Sinnzusammenhang integriertes, natürliches und daher zustimmungsfähiges und zu bewältigendes Ereignis erweist." (373) So gesehen seien auch biografische Traueransprachen "argumentativ strukturierte Überzeugungsversuche" (376), die dadurch gekennzeichnet seien, "dass sie gegen den Geltungsanspruch eines den Tod als anomisches, sinnwidriges Ereignis deutenden Konzepts die Geltung einer solchen Todesvorstellung plausibel machen, in der sich Sterben und Tod aufgrund ihrer Integration in einen Sinnzusammenhang als legitimierungsfähig erweisen." (374)

III. Ohne Zweifel ist die Studie von R. anregend, nicht zuletzt, weil sie mit ihrer These einen Kontrapunkt setzt und so zur Nachdenklichkeit anregt. Einsichtig und für praktisch-theologisches Denken unverzichtbar sind ihre Rekonstruktionen der thematischen Anschlüsse an die gesellschaftlichen Diskurse von Sterben und Tod. Tatsächlich partizipieren Bestattungsansprachen, ob ausdrücklich oder unausgesprochen, ob bewusst oder unbewusst, an gesellschaftlichen Todesvorstellungen. Bestattungsansprachen haben einen spezifischen "Kontext" (123), den es kritisch zu berücksichtigen gilt. Das gilt insbesondere auch deshalb, weil Inkonsistenzen innerhalb einzelner Ansprachen auf kritischen Klärungsbedarf der zentralen Motivik von Bestattungsansprachen aufmerksam machen.

Nachvollziehbar ist zudem der Hinweis auf die Argumentationsstruktur dieser Reden. Zu fragen bleibt jedoch, ob die Generalisierung, die R. an dieser Stelle vornimmt, überzeugend ist. Auffallend jedenfalls ist, dass die These an urbanem Material gewonnnen ist. Träfe R.s These zu, könnte das als Indiz für die rhetorische Durchschlagskraft der Moderne gelesen werden, wonach der Tod auch im Raum der Kirchen nur (noch) argumentativ zu bewältigen ist. Doch hat die Moderne diese Kraft? Oder ist die Dominanz des Argumentativen in den (vorliegenden) Bestattungsansprachen Ausdruck einer auch höchst verlegenen Urbanität, so dass gegen den Tod gar nicht anders als mit dem Argument vorgegangen werden kann? R. reflektiert solche und andere Zusammenhänge nicht. Auffallend ist, dass auch sprechakttheoretische Ansätze, wie sie bisher in der empirischen Homiletik verschiedentlich versucht wurden, unberücksichtigt bleiben. Dass die Ansprachen als Reden aufgezeichnet sind, verpufft gleichsam im textlinguistisch abstrahierenden Zugriff allein auf Argumentationsketten.

Dass und wie Bestattungsansprachen argumentativ strukturiert sind, kann R. plausibel nachzeichnen. Aber warum sollten sie nicht auch ethisch-appellativ, warum nicht emotional-expressiv gegen den Tod vorgehen? Hat die Moderne die Klage - und damit auch die Vielfalt religiöser Rede angesichts des Todes- gleichsam verschluckt? Oder kommen sie bei R. deshalb nicht in den Blick, weil keine der Traueransprachen "anlässlich des Todes eines Kindes oder eines Jugendlichen vorgetragen" (138) wurde, auch nicht anlässlich einer Selbsttötung, eines Unfalls oder eines Gewaltverbrechens? - R. bleibt gegenüber solchen Fragen sperrig. Ihr Interesse ist ganz auf den Nachweis der einen Form ausgerichtet. Darin hat diese Arbeit ihre Stärke. Damit sind aber auch ihre Grenzen markiert. Wer an Gestaltungsfragen kirchlicher Bestattung und ihrer Kriterien interessiert ist, muss zu einem anderen Werk greifen.

Erfreulicherweise ist das Buch nicht nur mit einem Personen-, sondern auch mit einem Sachregister ausgestattet, das hilfreich für das Auffinden von Motiven im Zusammenhang mit Sterben und Tod ist.