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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

954 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Jörg

Titel/Untertitel:

Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film.

Verlag:

Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 255 S. m. Abb. 8 = Praktische Theologie und Kultur, 4. Kart. Euro 34,95. ISBN 3-579-03482-0.

Rezensent:

Thomas vom Scheidt

Die theologische Beschäftigung mit Film- und Kinokultur ist nicht neu. Bisher stand jedoch das europäische Kunstkino im Mittelpunkt des Interesses. Die Dissertation von Jörg Herrmann nimmt bewusst das bisher eher verpönte populäre Kino in den Blick. Für H. muss sich "eine Theologie, die mit der Kultur ihrer Zeit im Gespräch bleiben will" auch mit den "Kulturphänomenen auseinandersetzen, die faktisch im Gespräch sind" (11) - und das ist das Hollywood-Kino der 90er Jahre auf Grund des Zuschauerzuspruchs unbestritten. In Zeiten zunehmender Säkularisierung hat das Kino als Medium der Weltdeutung und Sinnvermittlung für viele Menschen größere Bedeutung als die Kirche. Provozierend wird daher auf dem Klappentext die Frage gestellt: "Ist das Kino dabei, die Kirche als Sinnstifterin zu ersetzen?" Stellvertretend für eine solche Substituierung der Kirche durch das Kino zitiert H. in der Einleitung den Schriftsteller John Updike, der zugesteht, dass "das Kino mehr für mein spirituelles Leben getan (hat) als die Kirche" (10). Grund genug für H., dem Phänomen "populärer Film" und der in ihm enthaltenen expliziten und impliziten Religion nachzuspüren.

Der Aufbau des Buches folgt dem Schema eines Drehbuchs. Dem Dreischritt von Exposition, Konfrontation und Auflösung entsprechen bei H. die Kapitel Voraussetzungen, Analysen und Ergebnisse.

Im ersten Teil (15-106) geht H. der Frage der Kulturhermeneutik als theologischer Aufgabe im Kontext der Postmoderne nach, skizziert die Geschichte der evangelischen Filmarbeit und benennt Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Film- und Religionskultur. H. entwirft eine theologische Kulturhermeneutik, deren Hauptaufgabe er in einem kritischen Austausch mit der populären Kultur der Gegenwart sieht, einem "Prozeß der wechselseitigen Deutung von Tradition und Gegenwartserfahrung" (37 f.). Dabei legt er seiner Untersuchung einen funktionalen Religionsbegriff zugrunde und versteht Religion mit seinem Doktorvater Wilhelm Gräb als "Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte alltagsweltlicher Lebensorientierung" (56).

Im Teil "Analysen" (107-208) untersucht H. exemplarisch die sechs erfolgreichsten Filme der 90er Jahre unter den Aspekten impliziter und expliziter Religion, Zeitdiagnose und Ästhetik: Pretty Woman, Jurassic Park, Forrest Gump, Der König der Löwen, Independece Day und Titanic. Der Kultfilm "Pulp fiction" - für H. auf der Grenze zwischen postmoderner und populärer Ästhetik anzusiedeln - wird dabei als Kontrastbeispiel zur Verdeutlichung vorangestellt.

Aus den Analysen entwickelt H. abschließend als Ergebnis (209-243) einen "versteckten Katechismus" (211) "impliziter Religion" des Pop-Kinos mit drei vorherrschenden thematischen Perspektiven: Liebe, Natur und Erhabenes. Das populäre Kino spiegelt nach H. allgemeine Trends der Gegenwartskultur wider, die sich in den Phänomenen Liebesreligion, Öko-Trend und Faszination durch das Technisch-Erhabene wiederfinden. Das populäre Kino ist für H. jedoch - im Gegensatz zum Kunstkino - nur bedingt geeignet, um daraus differenzierte gesellschaftliche Problemanzeigen ableiten zu können, es entwirft "einen geschlossenen Sinnkosmos" (231) und bietet auf Leid- und Problemerfahrungen nur klischeehafte und wenig befriedigende Antworten. Dennoch sieht H. im populären Kino auch in Zukunft einen wichtigen Dialogpartner der Kirche.

H. gelingt mit seiner Dissertation ein weitsichtiger Blick auf das Verhältnis von Religion und Kultur mit Fokus auf dem populären Kino. Geschickt montiert er vielfältiges Material zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk und liefert somit einen wichtigen Beitrag zum Nachdenken über Religion und Pop-Kultur. Auf Grund der ausführlichen Filmanalysen eignet sich das Buch auch als "Steinbruch" für die praktische Arbeit auf religionspädagogischen Arbeitsfeldern.

Gibt es - wie im Mainstream-Kino ja durchaus üblich - eine "Sinnmaschine Teil II", dann wäre es interessant, der Frage nachzugehen, warum in der Traumfabrik Deutschland "Der Schuh des Manitu" zum erfolgreichsten Film aller Zeiten werden konnte. Gibt es auch eine "Un-Sinnmaschine Kino"?