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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

951–954

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Engemann, Wilfried

Titel/Untertitel:

Einführung in die Homiletik.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2002. XVI, 502 S. kl.8 = UTB, 2128. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-8252-2128-8.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Der Münsteraner Homiletiker, bekannt durch seine starke Beachtung findende "Semiotische Homiletik" von 1992 (ThLZ 119 [1994], 463-466) und durch seine einfallsreichen Predigten "Wider die Verdummung des Salzes" (ThLZ 119 [1994], 466-468), legt eine erste Bilanz seiner homiletischen Überlegungen vor, ein Buch, das vom Verlag als "Lehrbuch und Kompendium, Studienbuch und Arbeitshilfe in einem" beschrieben wird. Man wird sagen dürfen, dass diese Charakterisierung nicht zu hoch gegriffen ist. In dem Buch finden sich alle wesentlichen homiletischen Diskurse der letzten Jahrzehnte wieder, die (evangelische) Literatur ist nahezu umfassend erschlossen und kommentiert, die eigene Position ist erkennbar im Plädoyer für eine form- wie kommunikationsbewusste und dabei evangelisch profilierte Predigt, umfangreiche Register und viele die Konzepte erschließende Tabellen im Text machen den umfangreichen Stoff nicht nur für die zusammenhängende Lektüre, sondern auch für das Nachschlagen zugänglich. Der Schwerpunkt liegt nicht wie so oft auf der Geschichte der Predigt und der Homiletik seit der Reformation und im 19. Jh., sondern es ist die Homiletik der letzten Jahrzehnte seit der empirischen Wende um 1970, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht, verbunden mit einzelnen Rückgriffen auf frühere Diskurse.

Man merkt dem Buch an, dass es im Zusammenhang der homiletischen Ausbildung entwickelt wurde: Es ist primär interessiert an einer theoretisch verantworteten und an einer theoretisch inspirierten Predigtpraxis (so endet es denn auch mit einem Modell zur Erarbeitung einer Predigt, 450-465, und mit einem Merkblatt zur Anfertigung eines Predigtentwurfs für Seminar und Examen, 466-468).

Im Einzelnen: E. beginnt mit einem aus der eigenen Seminarpraxis entstandenen homiletischen Lasterkatalog (I. "Homiletische Missverständnisse und die Probleme der Predigt", 1- 76), in dem das Material zwar aus Anfängerpredigten stammt, in dem aber auch dem Routinier der Spiegel vorgehalten wird. Dazu zählt etwa - um nur ein Beispiel zu wählen - die "Geschenk-Metaphorik", die meistens einen "freundlichen Moralappell" darstellt (43). Der Kern der beispielreich vorgeführten Problematik aber liegt in einer schlichten Übertragung exegetischer und systematischer Argumentationsmuster in die Predigt unter Ausblendung der Lebenswirklichkeit, an deren Stelle häufig homiletische Klischees vom Leben und dessen Veränderbarkeit durch "kleine Schritte" (19) geboten werden. Zutreffend heißt es später zur politischen Predigt, dass das Problem der Moralpredigt gerade darin besteht, die Gewissen zu beruhigen mit einem Appell zum guten Willen und zu etwas gemeinsamer Anstrengung (389). Allein der erste Teil des Buches lohnt sich als ein homiletischer "Beichtspiegel" für alle, die predigen.

Ein wenig überrascht ist man allerdings nach diesem Teil, dass das Buch nun nicht die aufgeworfenen Probleme bearbeitet, sondern seinerseits mit einem systematisch argumentierenden Teil II "Theologie der Predigt" (77-162) seine Fortsetzung findet. Eher unvermittelt beginnt der Teil mit der These: "Predigt kommt davon, dass Gott sich offenbart" (79, dort kursiv). Im Fortgang wird dies dann mit der späteren kommunikativen Konzeption in Teil III des Buches so vermittelt, dass unter der These "Predigt ist Kommunikation" (117) pastoralpsychologische und systematische Beschreibungen der Predigt miteinander kombiniert werden. Wie schon in der "Semiotischen Homiletik" von 1992 dient dazu eine Theologie der Inkarnation als dogmatischer Schlüssel. Dieser Ansatz wird abgegrenzt gegen Rudolf Bohrens ausschließlich pneumatologische Predigtbegründung, so dass demgegenüber der "inkarnatorisch-pneumatologische Charakter der Predigt" mit ihrer Form der personalen Kommunikation zusammengesehen wird (119-136). Der Prediger ist für E. eben nicht "Sprachrohr". Bei Bohrens vom Inkarnationsgeschehen gelöster Pneumatologie hingegen sei trotz deren vielfacher Proklamation gerade keine "Reziprozität" erkennbar (131; vgl. 381 stattdessen das engagierte Plädoyer für den genauen Situationsbezug). Der (inzwischen bekanntlich allerdings auch nicht mehr vertretenen) Sicht des Predigers als eines bloßen "Herolds" (keryx) wird von daher eine Absage erteilt (94). Das Thema Kommunikation gehört in die Theologie der Predigt, nicht nur in die Methodik (116). Die Öffentlichkeit der Predigt wird in diesem Zusammenhang dreifach vom königlichen, priesterlichen und prophetischen Amt Christi her meditiert (104-115). Damit ist zu Recht das "publice docere" besonders hervorgehoben.

Bei der Lektüre von Teil II hat man allerdings den Eindruck, dass dieser im Gespräch mit der dogmatischen Tradition vorgehende theologische Teil besser weiter hinten im Buch gestanden hätte und aus dem kommunikativen und aus dem strukturell-semiotischen Ansatz hätte entwickelt werden können. So steht er ein wenig deduktiv und begründend vor Teil III, anstatt aus der eigenen Homiletik selbst zu entstehen. Auffällig ist denn auch, dass der Kommunikationsbegriff für die vorgetragene Theologie der Predigt eine große Rolle spielt, während die für E.s Konzept tragenden sprachlichen, semiotischen und strukturellen Ansätze in die Theologie der Predigt kaum einfließen. Wie etwa verhalten sich das "offene Kunstwerk" Predigt und deren "inkarnatorisch-pneumatologischer" Charakter? Wie lassen sich die Kommunikation des Evangeliums als Offenbarung und die Kommunikation religiöser Subjektivität und religiöser Zeichen zusammen betrachten?

Nach der klassischen Terminologie ist demnach die prinzipielle Homiletik in Teil II abgehandelt, während in Teil III die materiale und die formale Homiletik zusammen entfaltet werden. Der rund die Hälfte des Buches ausmachende Teil III "Homiletische Ansätze und Konzeptionen" (163-421) folgt mit Ergänzungen dem "homiletischen Dreieck", indem nach einer Einleitung zunächst (!) das Subjekt des Predigers (175-237), danach der biblische Text (238-289) und die Situation unter der eindringlichen Überschrift "Predigen für einen Menschen" (360- 397) thematisiert sind, unterbrochen von den Abschnitten "Predigen und Zeichen setzen" und "Predigen zu den Bedingungen der Sprache" (290-359), in denen am stärksten E.s eigene Ansätze wiederkehren; schließlich steht am Ende der Abschnitt zum liturgischen Bezug der Predigt (398-421). Die sieben Abschnitte von Teil III sind mit den Punkten Problemgeschichte - Gegenwärtige Reflexionsperspektiven - kategorialer Ertrag identisch und damit lesefreundlich gegliedert. Im folgenden kurzen Referat können davon nur einzelne Punkte angesprochen werden.

Im ausführlichen Plädoyer für die Subjektivität des Predigers wird besonders der entscheidende Impuls der Homiletik Otto Haendlers betont (184-189). Theoretisch weiterführend ist dann zu diesem Thema die Kombination der transaktionsanalytischen und der Riemannschen Typologie (209-222, im Überblick die Tabelle 221). Im Abschnitt über die "Kooperation zwischen Text und Prediger" (263-271) ist E. die literaturwissenschaftliche Unterscheidung der historischen, der dargestellten, der erzählten und der zitierten Textwelt wichtig, um nicht kurzschlüssige Übertragungen von Zitaten aus dem Text "zu uns heute" vorzunehmen. Ferner droht eine methodische Mittelpunktstellung des Textes im Predigtverlauf gerade das Gegenteil der eigenen Absicht zu bewirken, indem sie zu einem informationsreichen Rundgang wird. Demgegenüber gilt für E.: "Biblische Predigt muss situationsbezogene Predigt sein" (281). Zu Recht wird die Einsicht stark gemacht, dass Inhalt und Form der Predigt aufs stärkste korrespondieren. Deutlich skeptischer als E. bin ich (trotz grundsätzlicher Zustimmung zum Ausweisen konkreter Predigtziele) allerdings gegenüber dem lernpsychologischen Modell (303-307), und zwar nicht, weil damit der Text automatisch an den Rand gedrängt wird, sondern weil dadurch Anfängern eine Scheinsicherheit gegeben werden kann und weil damit das hermeneutische Problem die Scheinlösung der Operationalisierbarkeit zu finden droht (gegen die Empfehlung für Anfänger, 464). Auch gegenüber F. Niebergalls szientistischer Psychologierezeption mit "erwarteten Veränderungen" (Tabelle 302) wäre ich vorsichtiger (vgl. dazu M. Heesch, Lehrbare Religion? Berlin-New York 1997, dort bes. 219-260).

Sehr hilfreich ist hingegen wiederum die Ermutigung zu einem "homiletischen Idiolekt" (321): Damit liegt eine sprachliche Erweiterung des bisher fast nur pastoralpsychologisch diskutierten Themas der "persönlichen Predigt" vor. Im Hinblick auf die Sprechakte wird der These zugestimmt, dass es keine eigenen religiösen Sprechakte gibt (337, u. a. im Anschluss an I. U. Dalferth); für die Predigt komme es vor allem auf kooperative Sprechakte an. So beruhe die Farblosigkeit vieler Predigten darauf, dass mit dem Hörer so geredet wird, als müsse er "in eine Sache einwilligen, gegen die er aus Prinzip etwas hat bzw. von der er nichts versteht" (359, dort kursiv). Im Abschnitt über die Situation schließlich wird u. a. die "Überwindung der Zweiteilung der Predigtwirklichkeit" gefordert (372-374). Im liturgischen Abschnitt ist positiv besonders der gute knappe Überblick zur Geschichte und gegenwärtigen Konstruktion des Perikopensystems zu erwähnen (402-410). Die Probleme der gegenwärtigen Ordnung (zu starke heilsgeschichtliche statt lebensbezogene und eher an regelmäßigen als an Festtags- und Gelegenheitskirchgängern orientierte Ausrichtung) werden in diesem Zusammenhang allerdings nicht mehr diskutiert.

Den Abschluss des Buches bildet Teil IV über die verschiedenen Ansätze der Predigtanalyse (422-448), wo besonders die semantisch-semiotische Analyse als ein neues und die eigenen Einsichten E.s prägnant und handhabbar zusammenfassendes Instrumentarium zu nennen ist. Hingegen wird das in der Praxis vielfach verwendete "Göttinger Stufenmodell" nicht erwähnt. Ein wenig auffällig ist hier wie am Anfang die primäre Sicht auf defizitäre Predigten (433.439.441): Gibt es nicht auch Analysekriterien für Gelungenes? Mit den sich anschließenden Praxishilfen endet das Buch dann etwas abrupt; hier wäre eine Zusammenfassung in Thesen denkbar gewesen, die den spezifischen Ertrag des vorgelegten semiotischen und kommunikationsbezogenen Ansatzes für das Miteinander von prinzipiellen, materialen und formalen Reflexionsperspektiven noch einmal hätten aufzeigen können.

Mit E.s Homiletik liegt ein erschwingliches und gut lesbares Buch vor, welches das eigene Profil des Autors erkennen lässt, ohne dieses zum alleinigen Maßstab des Urteils zu machen. Die Fachliteratur wird durchgehend fair und eher von deren eigenen Stärken her aufzunehmen gesucht. Die im Laufe meines Referats formulierten Anfragen sind gegenüber einem wichtigen Werk formuliert worden, dessen Charakter sowohl als Lehrbuch und Kompendium wie auch als Studienbuch und Arbeitshilfe in keiner Weise in Abrede zu stellen ist. Für die weitere Diskussion wünsche ich mir lediglich eine noch weitergehende Bemühung um das Verhältnis von Religion, Zeichen und Kommunikation im Hinblick auf die Predigtaufgabe. E.s Buch schärft gerade die nötige Verhältnisbestimmung von prinzipieller, materialer und formaler Homiletik erneut ein. Es ist deswegen und aus vielen anderen Gründen ein Werk, das den Studierenden eine zuverlässige Einführung und den mit der Diskussion Vertrauten reichen Stoff zur Auseinandersetzung bietet. Es ist darüber hinaus gut lektoriert und weist kaum Schreib- und Satzfehler auf.