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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

949–951

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Thiel, Albrecht

Titel/Untertitel:

In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1999. XI, 347 S. 8 Kart. Euro 49,90. ISBN 3-7887-1735-1.

Rezensent:

Irene Dingel

Die Bochumer systematisch-theologische Dissertation hat sich zum Ziel gesetzt, die Ethik Calvins anhand seiner in der Zeit vom 20.3.1555 bis zum 15.7.1556 gehaltenen Deuteronomiumspredigten zu erschließen. Mit Recht weist der Vf. darauf hin, dass es sich hier - im Gegensatz zur stringent durchreflektierten und immer wieder überarbeiteten Dogmatik der Institutio - sozusagen um eine "Werkstatt-Theologie" (3) handelt, getragen von der Dynamik des gepredigten und in besondere historische Konstellationen hinein gesprochenen Wortes. Dies macht die Arbeit denn auch nicht nur für die Systematische Theologie, sondern auch für die Kirchen- und Theologiegeschichte interessant.

Nach einem Blick auf die politische Situation in Genf um die in den Mittelpunkt gestellten Jahre 1555/1556 und einer detaillierten Übersicht über Daten und "systematische Themen" der Deuteronomiumspredigten sowie die jeweils zu Grunde liegenden biblischen Textabschnitte, widmet sich der Vf. einzelnen ausgewählten Predigten, um sie als repräsentativ für ethische Fragestellungen heranzuziehen. Dabei kommt in solider Textarbeit sowohl zunächst die innere Gliederung, als auch die geschichtliche Einbettung der jeweiligen Predigt Calvins zur Sprache, so dass eine historisch erklärende Rückbindung dessen, was der Vf. zu den erhobenen ethisch relevanten Fragestellungen entfaltet, durchaus möglich ist, wenn auch nicht stets explizit vorgenommen wird. Aber dies dürfte von der Ausrichtung der Untersuchung her auch nicht das primäre Interesse gewesen sein.

Anhand der Predigt zu Dtn 4,6-10 und einer weiteren über das - nach reformierter Zählung - 6. Gebot (Dtn 5,17) kommen zunächst allgemeinere ethische Themen zur Sprache. Herausgearbeitet wird die Hochschätzung des Gesetzes bei dem juristisch gebildeten Calvin, der seiner Gemeinde nicht nur generell Gottes Wort als "reigle parfaite", d. h. festen Orientierungspunkt, vor Augen führt, sondern auch die unterschiedslose Gültigkeit des Gesetzes als Gottes gute Gabe an alle betont. Das bedeutet, dass dessen positive Funktion - so konstatiert der Vf. - nicht nur im "usus theologicus" begründet liegt, sondern dass es, in rechtem Verständnis, Gläubigen wie Ungläubigen als unverbrüchliche Richtschnur dienen soll. Gott selbst erweist sich darüber als großer Pädagoge, der die Menschen durch das Gesetz eben nicht nur zur Erkenntnis ihrer Sünden, sondern vor allem zu einer neuen Lebenspraxis führt. Gerade deshalb sei das Gesetz nach Calvin nicht nur für die Wiedergeborenen relevant. Th. arbeitet heraus, wie der Genfer das Gebot bzw. Gesetz in eine universale Gültigkeit hineinstellt, die es als Teil des Naturrechts auf jeden Hörer zielen lässt. Es gehe dem Gesetz darum, die Menschen aus einer Haltung herauszuführen, die ihrer eigentlichen Bestimmung, nämlich "imago Dei" zu sein, widerspricht, ganz ohne meritorische Zwänge aufzubauen. Denn durch die Predigt des Gesetzes soll der Mensch frei werden, Abstand zu seinem in Entfremdung von Gott verlaufenden Leben zu gewinnen, um sich dann durch Gottes Geist zu einem neuen Leben führen zu lassen. Das Gebot kommt auf diese Weise als Teil von Gottes "accomodation" in den Blick, der sich den Menschen in einer Art "Elementarpädagogik" nähert, die jedem Einzelnen ausnahmslos erlaubt, seinen Willen zu erkennen. Das, was die klassische Philosophie unter die - ins zeitgenössische Französisch übertragenen - Begriffe "équité" (Billigkeit) und "droicture" (Recht) gefasst hatte, gilt auch hier. Mit Hilfe dieser aus philosophischem Hintergrund entlehnten und in die Nähe der goldenen Regel (Mt 7,12) rückenden Begriffe gelingt es Calvin - so weist der Vf. überzeugend auf -, Naturrecht und christliche Ethik miteinander zu verbinden.

Auf diesem Hintergrund wird im weiteren Verlauf der Akzent auf spezielle ethische Fragestellungen gelegt. In den Blick kommen die Themen "Macht und Herrschaft", "Leben in der Gemeinschaft" und "Der Mensch im Kontext wirtschaftlicher Entwicklungen". Auch in diesen Bezügen zeigt sich wieder die grundlegende Bedeutung des göttlichen Willens. Für Calvin - wie auch die übrigen Reformatoren - ist deutlich, dass Obrigkeiten gar nicht in der Lage sein können, ihr Amt sachgemäß auszuüben, wenn sie sich nicht an der Weisung Gottes, vermittelt über Predigt, Lektüre der Heiligen Schrift und die Bitte um den Heiligen Geist, orientieren. Die den Weg zum allgemeinen Besten weisende "doctrine", der sich die Menschen als einem "usus pragmaticus legis" möglichst unterordnen sollen, führt zugleich zu einem Leben in solidarischer Gemeinschaft. Dieses freilich steht in der Spannung von eschatologischer Existenz, wie sie exemplarisch im Leben der Glaubensflüchtlinge Gestalt gewinnt, einerseits und der diakonischen Aufgabe in der Gegenwart sowie naturrechtlichen Gegebenheiten andererseits. Trotz aller krisenhaften Erfahrungen nämlich darf das Leben in der Gesellschaft nicht der Heillosigkeit anheimfallen, sondern hat sich an Normen zu orientieren, die Calvin mit den Begriffen Billigkeit (équité), Recht (droicture) und Vernunft (raison) umreißt. Th. erkennt darin einen Zwischenweg, der sich zwischen dem "usus paedagogicus legis" - gemeint ist wohl der "usus theologicus" - und dem "tertius usus legis" auftut. Die naturrechtlichen Kategorien Billigkeit und Recht sind - wie der Vf. die Interpretation Ernst Troeltschs korrigierend herausstellt- letzten Endes auch im Blick auf die in Genf einsetzenden wirtschaftlichen Entwicklungen von Calvin in Anschlag gebracht worden, wenn er der Gemeinde in seinen Predigten eine Ethik der Gemeinschaft vor Augen führt, mit der eine kapitalistisch ausgerichtete Gesellschaft unvereinbar wäre.

So wird insgesamt mit dieser Studie deutlich, wie aufschlussreich gerade die in aktuelle Situationen eingebundenen Predigten für die Frage nach der Ethik Calvins sein können. Es ist nach Th. weniger der "tertius usus legis", der in jenen Deuteronomiumspredigten hervortritt, sondern vielmehr eine in den Rahmen der Schöpfungsethik eingebundene Argumentation, die Kategorien des Naturrechts aufnimmt und Gottes Wirken in der guten Gabe des Rechts Gestalt gewinnen sieht. Als grundlegende Voraussetzung dafür stellt der Vf. Gottes Akkomodation oder Kondeszendenz - Vf. spricht durchgehend von "Kondeszenz" - heraus, die zugleich über den in der Predigt des Wortes sich äußernden Willen und Gebot Gottes pädagogische Wirkung entfalten. In Thematik, interpretatorischer Leistung und wissenschaftlichem Ertrag ist die Untersuchung aufschlussreich und bereichernd für die Calvinforschung.

Allerdings ist der Umgang bzw. die vorangestellte Definition der verschiedenen "usus legis" durch den Vf. etwas verwirrend. So unterscheidet er zu Beginn seiner Untersuchung unter den methodischen Vorbemerkungen und mit Blick auf die ethische Relevanz den "usus politicus legis" von dem eigentlich darunter stets mit gefassten "usus civilis" und dem "tertius usus legis", so dass zunächst der unzutreffende Eindruck entsteht, dies seien die "tres usus legis" bei Calvin und der "usus theologicus" bzw. "usus elenchticus" sei übersehen worden. An späterer Stelle führt er zusätzlich die Kategorie des "usus pragmaticus" ein, die aber im Grunde nur das umgreift, was im Allgemeinen bereits dem "usus politicus" zugeschrieben wird, nämlich dass dieser Gebrauch des Gesetzes dazu diene, das Zusammenleben der Menschen zum allgemeinen Besten zu gewährleisten, garantiert durch die Obrigkeit. Die Notwendigkeit für eine solche neue Terminologie wird leider nicht deutlich genug begründet. Etwas bedauerlich ist weiterhin, dass dort, wo ein inhaltlich ausführlich ausgeführter Vergleich mit Martin Luther eingeschoben wird, die Lutherinterpretation an den verschiedenen historischen Einbindungen der Quellen eher vorbeigeht und deshalb an der Oberfläche bleibt. Man gewinnt den Eindruck, dass Schlussfolgerungen und Ergebnisse in diesem Fall tatsächlich durch die persönliche Faszination des Vf.s für Calvin, die er in einem kleinen Abschnitt eingangs bekennt, beherrscht zu sein scheinen. Ins Nachdenken gebracht wird der Leser darüber hinaus durch die eigenwillige und um Originalität bemühte Voranstellung verschiedenster Zitate - von Karl Barth bis zu Bob Dylan und dem TV-Krimi-Star Colombo - die wohl den jeweiligen Kapiteln als Leitmotive voranstehen sollen, vermutlich aber den meisten Lesern verschlossen bleiben werden.

Abgesehen von diesen kleineren Auffälligkeiten handelt es sich aber um eine Untersuchung, die durchaus Beachtung verdient.