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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

946–949

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gerlach, Jochen

Titel/Untertitel:

Ethik und Wirtschaftstheorie. Modelle ökonomischer Wirtschaftsethik in theologischer Analyse.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 310 S. gr.8 = Leiten - Lenken - Gestalten, 11. Kart. Euro 24,95. ISBN 3-579-05303-5.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Die Zeit der leidenschaftlichen Debatten um die Wirtschaftsethik scheint gegenwärtig eher vorbei zu sein. Die einfache Alternative zwischen einer Position, die von der Theologie her mehr oder weniger eindeutige Schlüsse im Hinblick auf Fragen der Wirtschaft zieht, und der gegenteiligen Auffassung, die jede inhaltliche Relevanz theologischer Einsichten für ökonomische Probleme kategorisch verneint, hat differenzierteren Zwischentönen Platz gemacht. Dass darin ein Fortschritt zu sehen ist, zeigt sich einmal mehr, wenn man sich in die als Dissertation bei Eilert Herms in Tübingen entstandene Arbeit von Jochen Gerlach vertieft.

G. unterzieht, ausgehend von einer eigenen theologischen Standortbestimmung, vier profilierte Ansätze ökonomischer Wirtschaftsethik einer gründlichen Analyse, befragt sie auf ihre jeweiligen Grundannahmen und nimmt auf dieser Basis jeweils kritisch Stellung dazu. Von Anfang an ist die Arbeit geprägt durch einen Zugang, der die Theologie selbstbewusst in den interdisziplinären Diskurs einbringt. Klar benennbare Grundannahmen - so lässt sich im Sinne des Autors argumentieren - sind keineswegs, wie zuweilen von Vertretern anderer Wissenschaften behauptet, eine Schwäche der Theologie, sondern können durchaus eine spezifische Stärke bedeuten. "Der von mir in dieser Arbeit vorgenommenen Analyse" - formuliert G. - "liegt ... die Auffassung zugrunde, daß die kategorialen Leitbegriffe einer jeden Theorie (und damit auch der wirtschaftstheoretischen und wirtschaftsethischen Entwürfe) durch das jeweils zugrundeliegende Wirklichkeitsverständnis geprägt werden, das wiederum Grundannahmen über den Menschen und die Gesellschaft enthält" (23). Unter Theologie versteht er die "kritische Selbstexplikation des christlichen Glaubens und seines Wirklichkeitsverständnisses" (27). Dass die Theologie den Glauben nicht begründet, sondern ihn voraussetzt, würde sie nur dann im Diskurs der Wissenschaften diskreditieren, wenn Wissenschaft als etwas zu gelten hätte, das solche Voraussetzungen ausschließt.

Die Falsifizierung dieses Wissenschaftsverständnisses kann als einer der wesentlichen Erträge der Analysen wirtschaftsethischer Ansätze gelten, die der Autor im Hauptteil der Arbeit vornimmt. Der erste Autor, dessen wirtschaftsethischen Ansatz G. untersucht, ist Bruno Molitor, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. Molitor konzipiert Wirtschaftsethik als "positive Erfahrungswissenschaft". Er will sie also aus den Zielsetzungen und Funktionserfordernissen wirtschaftlicher Vollzüge selbst herleiten, anstatt anderswo gewonnene Normen der Ökonomie von außen überzustülpen (41). Als Kriterien zur Beurteilung von Wirtschaftsordnungen nennt Molitor Effizienz, Freiheitsgrad und Konsumentenorientierung. Dass ihm von daher die Marktwirtschaft als die geeignetste Ordnung erscheint, wird nicht überraschen. Damit die in ihr wirksamen Institutionen funktionieren, bedarf es aber auch einer bestimmten Individualmoral, die Molitor anhand von vier Maximen beschreibt. Bereitschaft, sich dem Wettbewerb zu stellen, Respektierung der Eigentumsrechte anderer, Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit bei der Anwendung und Weitergabe spezifischen Wissens und schließlich Vertragstreue sind die unabdingbaren Voraussetzungen für das Funktionieren einer Marktwirtschaft (75 f.). G.s kritische Analyse ergibt, dass Molitor seinen Anspruch nur sehr bedingt einzulösen in der Lage ist, Ethik aus dem ökonomischen Funktionszusammenhang heraus zu entwerfen. Zudem kritisiert er Molitors allzu dichotomische Sicht eines vom Eigeninteresse gekennzeichneten Gegenseitigkeitsethos, das in der Wirtschaft gilt, und eines von der selbstlosen Liebe geprägten "heroischen Ethos", das seinen Platz etwa in der Familie hat. Molitor selbst relativiert diese Entgegensetzung, indem er auch im Bereich der Wirtschaft ein Mindestmaß an Gutwilligkeit oder allgemeinem Wohlwollen als notwendig ansieht (77 und 111).

Ganz anders als Bruno Molitor versucht Peter Koslowski, der zweite Autor, den G. untersucht, eine Synthese von Ethik und Wirtschaftstheorie zu entwickeln. Der Philosoph und Ökonom Koslowski, der sich als Gründungsdirektor des katholischen Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover und als Professor an der privaten Universität Witten-Herdecke einen Namen machte, verfolgt das Anliegen, Ethik und Wirtschaftstheorie in einer kulturphilosophischen Gesamttheorie zu integrieren und dazu die Methodiken verschiedener Theorietraditionen (Ethik, Kulturwissenschaft und Wirtschaftstheorie) miteinander in Beziehung zu bringen. Auch die Religion wird hier, anders als in den anderen Entwürfen, ausdrücklich thematisiert. Wirtschaftsethik muss von einem solchen synthetischen Ansatz her als "Ethische Ökonomie" konzipiert werden. Die wirtschaftsethische Hauptregel, die Koslowski für eine solche "Ethische Ökonomie" formuliert, ist an Kants Kategorischen Imperativ angelehnt: "Handle so, daß deine individuelle Maxime mit der gleichen Maxime aller anderen zusammenbestehen kann und die aus ihr fließenden Handlungen koordinierbar sind" (259). Dieser anhand von Max Schelers Wertethik näher konkretisierte Zugang - so G.s Kritik - wird von Koslowski nicht in seiner Voraussetzungshaftigkeit gesehen. Eine Objektivität beanspruchende Wertethik überspringt "die individuelle und weltanschauliche Perspektivität, auf Grund derer eine bestimmte Sicht des Menschen zur Formulierung kultureller Werte und Ziele führen kann" (147).

Mit Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker in St. Gallen, wendet sich G. als drittem Ansatz einem Entwurf von Wirtschaftsethik zu, der sich in besonderer Weise den Impulsen der vor allem von Jürgen Habermas entwickelten Diskursethik verdankt. Während Molitor normative Inhalte konsequent aus den Funktionserfordernissen der Ökonomie herzuleiten versuchte, geht Ulrich genau den umgekehrten Weg, indem er den aus kommunikativer Vernunft gewonnenen ethischen Einsichten Geltung im Bereich der Ökonomie zu verschaffen versucht. Grundvoraussetzung seines Ansatzes ist die wechselseitige Anerkennung von Gesprächspartnern als mündige Personen (263). Zwei Kritikpunkte vor allem führt G. aus: die Diskursethik Ulrichs leidet an einem motivationalen Defizit, indem sie die kognitive Dimension von wirtschaftsethischen Konfliktsituationen zwar deutlich in den Blick nimmt, die Affektlagen aber ignoriert. Außerdem - so G. - leidet sein Ansatz unter einer Idealisierung der Lebenswelt gegenüber dem System, also der Wirtschaft. Die Normen der Lebenswelt werden allzu schnell auf die Wirtschaft übertragen. Mit dem Normenkonflikt seiner ethischen Verfahrensprinzipien und dem ethischen Gehalt, der in der Erfüllung der Funktionsaufgabe Wirtschaft liegt, setzt Ulrich sich aber nicht genügend auseinander (264).

Der als letztes analysierte Ansatz des Münchner Wirtschaftsethikers Karl Homann ist der am profiliertesten für eine ökonomische Theorie der Moral und eine Wirtschaftsethik mit ökonomischem Paradigma stehende Ansatz. Unter Aufnahme vertrags- und spieltheoretischer Beiträge entwickelt Homann eine Begründung der Moral aus dem ökonomischen Prinzip der Kosten- und Folgekalkulation. Homann geht also noch weiter als Molitor, indem er auch den Bereich der Moral ökonomisch kodiert. Das Modell des Menschen als "homo oeconomicus" wird von Homann freilich nicht als ontologische Grundannahme eingeführt, sondern als methodisches Modell zur Gewinnung von empirisch dann nachprüfbaren Kategorien (212). Eine zentrale Konsequenz dieses Ansatzes ist die grundlegende Bedeutung der Kategorie des Anreizes in der Wirtschaftsethik Homanns. In Homanns Ansatz, so wendet G. kritisch ein, entwickelt die Wirtschaftstheorie eine solche Dominanz über die Ethik, dass man dabei besser von "Moralökonomik" als von "Wirtschaftsethik" sprechen sollte (271).

Im letzten Kapitel skizziert G. in groben Umrissen ein Modell der Zuordnung von Ethik und Wirtschaftstheorie, das er "Korrelationsmodell" nennt: Die jeweiligen Methodiken von Ökonomie und Ethik "bleiben einerseits eigenständig und sind wechselseitig nicht ersetzbar, doch sie sind andererseits aufeinander verwiesen, weil empirisches Regelwissen durch kategoriale Leitbegriffe und durch ein Wirklichkeitsverständnis fundiert ist" (281).

Die Arbeit von G. gibt nicht nur eine hilfreiche Einführung in wichtige Entwürfe ökonomischer Wirtschaftsethik der Gegenwart, sie zeichnet sich auch durch eine gründliche methodische Reflexion aus. Sie liefert deswegen einen konstruktiven Beitrag zum Dialog der Theologie mit den anderen Wissenschaften, der das weitere Gespräch befruchten wird. Hervorzuheben ist die Gründlichkeit der Auseinandersetzung mit den vier Ansätzen. G. wird diesen Ansätzen gerecht, ohne jedoch ihre Grenzen zu übersehen. Seine Analysen zeigen eine ausgeprägte Urteilskraft. Zu Recht hat der Autor für diese Arbeit den Promotionspreis der Universität Tübingen erhalten.