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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

944–946

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Duden, Barbara, Schlumbohm, Jürgen, u. Patrice Veit [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.-20. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 328 S. m. 19 Abb. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 170. Lw. Euro 36,00. ISBN 3-525-35365-0.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der vorliegende Band, der auf ein interdisziplinäres Forschungsprojekt im Rahmen des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen zurückgeht, ist schon allein als historische Studie interessant. Seine besondere aktuelle sowie seine ethische Relevanz gewinnt das Buch im Kontext der derzeitigen bioethischen Kontroversen über den Lebensbeginn und Embryonenschutz. Das Buch behandelt die Deutung des Fetus und der Schwangerschaft in der Kultur- und Medizingeschichte seit dem 17. Jh. Die kulturgeschichtlichen Einzelanalysen stützen sich auf die Auswertung von Kirchenliedern, Andachtsbüchern, Gerichts- und Vernehmungsprotokollen oder ärztlichen Notizen. Zudem wird auf die Geschichte der medizinischen Anatomie zurückgegriffen (z. B. 215 ff.: Ulrike Enke zu der Embryonensammlung des Anatomen Soemmerring [1755-1830]). Ein roter Faden der Aufsatzsammlung besteht darin, dass die Perspektive von Frauen und die Selbstwahrnehmung von Schwangeren die Leitfrage darstellt. So gelangt z. B. zur Sprache, dass noch im 20. Jh. Frauen ihre Schwangerschaft zunächst lediglich als "Blutstockung" interpretierten (Cornelie Usborne, 308 f.).

Die Frauenperspektive ist ein Zugang, der in der derzeit aktuellen Kontroverse über den Status des Embryos eher im Hintergrund steht. In dieser Hinsicht setzt das Buch einen gegenläufigen Akzent. Dies ist hervorzuheben und bleibt von Belang, obwohl andererseits Überzeichnungen anzutreffen sind und eine assoziative und allzu schlagwortartige Kritik an moderner Medizin erfolgt - wenn etwa aus der Perspektive von Frauen die individuelle Eigenständigkeit des Embryos mehr oder weniger abgestritten oder mit Blick auf heutige reproduktionsmedizinische und humangenetische Verfahren abschätzig vom technogenen Embryo gesprochen wird (B. Duden 14.18.47 f.).

Die geistesgeschichtliche Kernaussage des Buches besteht darin, dass die Eigenständigkeit des Embryos erst im Umkreis des 18. Jh.s "entdeckt" worden ist. Zuvor dominierten Vorstellungen, die den Embryo oder Fetus als Teil der Mutter ansahen oder seine späte Beseelung lehrten. Die Spätbeseelungslehre, der zufolge der männliche Embryo erst am 40. Tag und der weibliche Fetus am 90. Tag jene Geistseele erhalte, die das Menschsein bewirke, hatte auch Thomas von Aquin vertreten. Von der katholischen Amtskirche ist sie bis weit in die Moderne hinein aufrecht erhalten worden. Der Sache nach korrigiert das hier vorgelegte Buch daher zugleich die jetzigen Äußerungen der katholischen Amtskirche, die besagen, die katholische Kirche habe den vollen Embryonenschutz und das volle Menschsein des Embryos von der Empfängnis an schon "stets" gelehrt.

Für die Bewertung vorgeburtlichen Seins markieren das 18. und dann vor allem das 19. Jh. - letzteres mit seiner klinisch-empirisch-naturwissenschaftlich gestützten Medizin - jedenfalls einen epochalen Einschnitt. Einen frühen Ausgangspunkt bot das anatomische Interesse, das bereits in der Renaissance einsetzte (21). In der Aufklärungsepoche wurde der Embryo dann als ein sich eigenständig entwickelnder "Keim" (Theorie des Präformismus) und nicht mehr als bloße "Frucht" bezeichnet. Vordenker der Aufklärung, namentlich der für das Gesundheitsverständnis des aufgeklären absolutistischen Staates maßgebende Mediziner Johann Peter Frank, nannten den Fetus einen "ungeborenen Bürger" (vgl. N. M. Filippini, 100 ff.); man sprach von der leiblichen als der zweiten Geburt, die der ersten Geburt im Mutterleib nachgeordnet sei. Die Embryologie des 19. Jh.s brachte weitere Erkenntnisschübe mit sich. Man befasste sich z. B. mit den Herztönen des Fetus, so dass der Fetus selbst zum behandlungswürdigen Patienten wurde und einen "klinischen Status" erhielt (Paule Herschkorn-Barnu, 167 ff.).

Theologiegeschichtlich ist lesenswert, wie katholische Theologen der Neuzeit, darunter Alfonso de'Liguori, damit begannen, die kirchlich tradierte Spätdatierung der Menschwerdung zu korrigieren, indem sie behaupteten, die Beseelung und volle Menschwerdung des Embryos erfolge schon am ersten Tag oder kurz danach (109 ff.). Das theologische Interesse bezog sich in der frühen Neuzeit freilich weniger auf das diesseitig-lebensweltliche Geschick des Kindes. Vielmehr stand nach wie vor die traditionelle Frage nach dem jenseitigen Schicksal Ungetaufter im Zentrum. Für den Not- und Gefahrenfall hielt die katholische Kirche die Taufe im Mutterleib für wesentlich; die lutherische Theologie setzte einen anderen Akzent und betonte den stellvertretenden Glauben der Eltern (B. Duden, 31-36). Auch andere Aspekte der Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums werden in Einzelbeiträgen angesprochen. Hierzu gehören die Deutung des Leidens der Schwangeren als Sündenstrafe, das "Kinderkreuz" als "Beruf" der Ehefrau oder die Vorstellung, Tugend und Moral bzw. Unmoral der Schwangeren wirkten sich auf den Verlauf der Schwangerschaft und die Eigenart des Kindes aus. In diesem Sinne hieß es 1652 in einem Andachtsbuch "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" (Ulrike Gleixner, 78).

Seit dem 18. Jh. wurde es im Übrigen fraglich, dass im medizinischen Konfliktfall das Leben der Mutter Vorrang vor dem des Ungeborenen besitze (N. M. Filippini, 123 ff.). Traditioneller Auffassung zufolge durfte die Mutter im Zweifel gerettet werden, weil sie sich - so die moraltheologische Tradition - in einer Notwehrsituation gegenüber dem Fetus befinde. Ein Beitrag des Buches befasst sich mit den Kontroversen über die inzwischen so genannte Abtreibung und mit Rechtsregelungen zum Schwangerschaftsabbruch in der Weimarer Republik: 1927 beschloss das Reichsgericht, dass auf Grund von medizinischer Indikation Ärzte einen Schwangerschaftsabbruch durchführen dürfen (C. Usborne, 299). Für das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches von 1871 war die Anschauung leitend, dass der Embryo vom Tag der Empfängnis an als belebt zu gelten hat. Rechtsgeschichtlich ist dies allerdings nicht erst 1871 "zum ersten Mal" (300) festgeschrieben worden, sondern war zuvor auf der Basis der Aufklärungsphilosophie im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 enthalten gewesen.

Die Aufsatzsammlung ist sehr materialreich und in ideengeschichtlicher Hinsicht lesenswert. Zudem belegt sie, dass religiöse und ethische Bewertungen des Lebensbeginns kulturgeschichtlich relativ, historisch bedingt, von naturwissenschaftlicher Erkenntnis abhängig und wandelbar sind. So gesehen kann dieses kulturgeschichtlich angelegte Buch auch dazu beitragen, normativistische Verhärtungen in der derzeitigen Bioethikdebatte zu korrigieren.