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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

942–944

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Diefenbacher, Hans

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 368 S. 8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-534-15490-8.

Rezensent:

Christofer Frey

Wer diese Monographie mit dem Schlusskapitel zu lesen beginnt, wird schnell verstehen, dass der Vf., ein Volkswirtschaftler, die gängigen Theorien seiner Disziplin kritisiert. Vor allem wird die Fähigkeit volkswirtschaftlicher Doktrinen bzw. Systeme bezweifelt, die Politik verantwortlich zu beraten (308 f.). Damit bringt der Vf. sich gewissermaßen selbst in ein Dilemma, weil er eine Kritik der Anwendbarkeit ihrer Methoden mit seiner Skepsis verbindet (326). Auch wird ihm mehrfach zweifelhaft, dass die Volkswirtschaft eine normative Disziplin ist. Deshalb äußert er auch Zweifel an einer Kooperation von Politik und Ökonomie und vor allem an politischer Beratung durch Ökonomen (bereits vorgetragen von Schmoller, vgl. 321). Nach Keynes wäre die Politikberatung keine Wissenschaft, sondern eine "art" (vgl. 317). Dieser "art" folgt der Verfasser mit seinem Buch.

Da die Gerechtigkeit (und mit ihr vor allem die Gerechtigkeit zwischen Generationen, s. die jetzige Rentendebatte!) und die Nachhaltigkeit (sustainability) nicht zu erschöpfende Gesichtspunkte sind, die jede Politikberatung durch Ökonomen steuern sollten, bleibt dem Vf., der sich diesen Fragen seit Jahren widmet, nur ein wissenschaftstheoretischer Eklektizismus. Sobald er sich in die Voraussetzungen ökonomischer Theorien vertieft, muss er die axiomatischen Voraussetzungen volkswirtschaftlicher Systeme in Frage stellen, vor allem die Ceteris-Paribus-Klausel, weil das System unter veränderten Vorbedingungen - etwa der Ressourcenknappheit - schnell kollabieren könnte. Sollen Ansprüche zukünftiger Generationen ökonomisch berücksichtigt werden, dann müssten Konsumpfade antizipiert und alternativ erörtert werden; ihre Anrechnung jetzt erfolgte durch diskontierte Beträge, die innerhalb der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu berücksichtigen wären (300 ff.). Aber wer garantiert dann für jene richtige Grundannahmen, die die Präferenzen Zukünftiger ernst nehmen; oder sollte ein wachsender Kapitalstock - so wollte es Keynes - die Verknappung der Ressourcen auffangen?

Noch schwieriger ist die axiomatische Annahme der Vertragstheoretiker: Wie sollen wir uns vorstellen, dass zukünftige und gegenwärtige Generationen - wenn auch nur in einem Gedankenkonstrukt - miteinander über die optimale Gestalt der Gesellschaft verhandeln? Da zu Themen der Gerechtigkeit in vielen anderen Werken mehr gesagt worden ist, lohnt es, die Lektüre des Buches mit dem Begriff der Nachhaltigkeit und ihm zugeordneten Modellen fortzusetzen (Teil III, zur Empirie, 115 ff.). Neben nationalen oder weltweit angesetzten Modellen (s. die Rio-Agenda) werden kommunale Modelle vorgestellt, die selbstverständlich - ob implizit oder explizit - Indices bzw. Indikatoren für ökonomisches welfare aufweisen (vgl. 133 ff.). Deren Probleme kommen ausführlich zur Sprache. Aber wie lässt sich die in ihnen anvisierte Lebensqualität messen (vgl. Kap. 9)?

Für Ethiker ist diese kompakte Darstellung von hohem Belang, da sie teleologisch angelegte Menschenbilder zu identifizieren erlaubt (vgl. etwa 183 ff. - Human Development, 187f. - Index of Hope; oder 187 ff.192 ff.). Außerdem deuten diese Abschnitte an, wie schwer das Geschäft der theologischen Ethik geworden ist: Mit allgemeinen biblisch inspirierten Proklamationen lassen sich keine Argumente erzwingen. Welche Präferenzen würde beispielsweise die Aussage von der Gottebenbildlichkeit im wirtschaftsethischen Kontext herausstellen?

Dabei sollte das Thema der Gerechtigkeit selbst ein eigenständiges und der Philosophie entgegenstehendes biblisches Thema sein. (Das lässt sich allerdings nur behaupten, wenn man vergisst, dass das so genannte "Barmherzigkeitsrecht" weitgehend in der aristotelischen aequitas vorweggenommen worden ist. Deshalb werden die wichtigeren Argumente heute von den Philosophen vorgetragen.) Diefenbacher bezieht sich in seiner Monographie auf die vertragstheoretischen Modelle (Rawls, 84 ff., Nozick, 87f., Buchanan, 88 f.). Bekanntlich werden mit diesen drei Namen und den ihnen zugeordneten Theorien bereits unterschiedliche Menschenbilder vorausgesetzt; die von ihnen abhängigen Konzepte der Solidarität schwanken erheblich. Trotz eines längeren Rückblicks auf die Theorie vom gerechten Preis (42 ff.) verzichtet der Autor darauf, Konsequenzen aus dem historischen Diskurs über die Gerechtigkeit für die gegenwärtige Diskussion zu ziehen. Er hält selbst fest, dass er in dieser Hinsicht die Theorie zu wenig ausgearbeitet habe (90: Vereinfachung der Gerechtigkeitsargumente in den Augen eines Philosophen).

Die Typologie möglicher Gerechtigkeitskonzeptionen wird eher im Blick auf das Überleben der Kommenden, weniger im Blick auf einen Spielraum der welfare heute zur Geltung gebracht. Nachhaltigkeit wird vor allem kritisch gegenüber dem gegenwärtigen Ressourcenverbrauch bestimmt (92 ff.). Denn, so der Autor, die generationenübergreifende Gerechtigkeit würde sich einseitig auf Stromgrößen (wie das Bruttosozialprodukt) festlegen (82). D. schneidet sich allerdings manche sozialethische Überlegung ab, da er der neoklassischen Theorie mit ihrer Grundüberzeugung, dass Gerechtigkeitsnormen an individuelle Präferenzen gebunden seien, nicht entschieden widerspricht (81). Schließlich sind spieltheoretische Modelle auf sozial eingeübte Präferenzen ausgerichtet, über deren Fundierung in einer gesellschaftlichen Kultur nachzudenken wäre. Kultur und Recht müssten neben die Politik treten, um Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Geltung zu schaffen.

Die "Nachhaltigkeit" selbst schwankt in ihren Definitionen (70 ff. - hier wäre zu fragen gewesen, welche Ansicht der menschlichen Lebenswelt zu radikal-ökologischen Konzeptionen oder nur zur Substitution innerhalb des natürlichen Kapitalstocks führt). An späterer Stelle werden Weltsichten diskutiert, (220 ff.) - verbunden mit Wirtschaftstheorien. Zu Recht schätzt der Verfasser die Überzeugungskraft der Neoliberalen als nicht zu groß ein, denn es handelt sich ja nur um ideale Modelle, die in dieser Disziplin aufgestellt werden; immer wenn sie nicht wirksam werden, wird das mit dem Versagen der Politik, die diesem Modell nicht folge, begründet. Wissenschaftliche Modelle ohne besondere empirische Triftigkeit können dann nur ideologisch gerechtfertigt werden. Die Empirie bemüht der Vf. im Blick auf die Berechnungen des Bruttosozialprodukts (115), im Blick auf andere Modelle der Kalkulation der Nettowohlfahrt (126), auf einen Index of Sustainable Economic Welfare (133 ff.) usw. Anwendungsbereiche bis auf die kommunale Ebene hinunter werden modellhaft diskutiert.

Die vorliegende Monographie ist eine verdienstvolle Einführung in viele Probleme der Nachhaltigkeit; zur Gerechtigkeitsdebatte trägt sie weit weniger bei. Aber sie ist aus vielfältigen Hinsichten zusammengesetzt. Ob die Einzelstudien einen wirklich großen Bogen beschreiben, kann zu Recht bezweifelt werden. Eine Perspektive, die sie zusammenhält, findet sich eher in den praktisch-moralischen Anliegen, Prinzipien der Nachhaltigkeit zur Geltung zu bringen.

Für den Ethiker bleibt die Monographie gleichwohl schwierig, weil unterschiedlich eingegrenzte Konstruktionen wirtschaftlicher Systeme bzw. Hinsichten mit der Politikberatung verbunden werden sollen, aber der kulturelle und anthropologische Hintergrund der Systeme weniger beachtet wird.