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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

941 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Weth, Rudolf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Kreuz Jesu: Gewalt - Opfer - Sühne.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2001. 232 S. m. 1 Farbabb. 8. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-7887-1869-2.

Rezensent:

Matthias Gockel

Von den 13 Beiträgen zur Jahrestagung der Gesellschaft für evangelische Theologie, in einem schön gestalteten Band, können leider nur 9 besprochen werden.

Zwei Exegeten eröffnen die Diskussion. B. Janowski nennt psychologische und feministische Einwände, denen die Theologie Vorschub leistet, wenn sie Sühne im Sinn des Strafgedankens als Besänftigung eines zürnenden Gottes statt als gnädiges Handeln Gottes zu Gunsten des Menschen versteht. Er betont die situativ-existenzielle Dimension von Stellvertretung als Geschehen, das "dem schuldig gewordenen Menschen dort geschenkt wird, wo seine eigenen Möglichkeiten zu Ende sind". Jesus trat für uns an unsere Stelle, "an den Ort auswegloser Gottesferne und Todesverfallenheit" (30 f.). Wie der Gottesknecht (Jes 52,13 ff.) litt er unschuldig als Folge eines fremden Tuns, war aber nicht nur leidend Objekt, sondern auch handelnd Subjekt. Neutestamentliche Texte "sind offen für die Deutung der dienenden und liebenden Lebenshingabe Jesu (Proexistenz) im Sinn der Opfer- und Sühnetheologie (Sühnetod Jesu)" (39), wie schon Abaelard erwog. - Für Pls, so M. Wolter, weise Jesu Kreuz einen "deutlichen Bedeutungsüberschuss" (45) gegenüber Jesu Tod auf. Sühne, Stellvertretung und Hingabe seien von außen herangetragene Kategorien, denen W. keine "Absage" (so R. Weth im Vorwort [8]) erteilt. Das Problem liege vielmehr darin, dass mit ihnen bestimmte Interpretationen übernommen werden. Ferner gewinne die Heilswirkung des Todes Jesu als "Zuschreibungsphänomen" erst im Rahmen der "symbolischen Sinnwelt" eines "spezifischen Wirklichkeitsverständnisses", des Glaubens an Christus, "Wirklichkeitscharakter" (50). Ist sie also von der "kulturellen Kompetenz" (62) der Interpreten und ihrer Gewissheit der Auferstehung und Erhöhung Jesu (51) abhängig?

Es folgen vier Voten zur Christologie und Gotteslehre. S. Brandt kritisiert die exklusive Beziehung von Jesu Opfer auf seinen Tod. Im Anschluss an Augustin entwickelt sie ein "Opferaktionsschema" mit fünf Instanzen: Opferspender, -vollzieher, -empfänger, -größe (victim) und -nutznießer. Opfer seien nicht-reziproke "Darbringungen von Lebensressourcen", die "Leben oder Lebenskraft freisetzen auf Kosten des dargebrachten Lebens oder der dargebrachten Lebensgüter" (69).

M. Frettlöh fragt, welche Befreiung, Heilung, Erinnerung und Hoffnung für Frauen und Mädchen, die auf Grund ihres Geschlechts zu Opfern von Gewalt wurden, "im Bekenntnis zur Auferweckung des Gekreuzigten" (77) liegt. Jesus wird "zunächst nicht als Sühnopfer, sondern als Gewaltopfer" wahrgenommen. Die Auferweckung sei eine "Antwort Gottes" auf die Tötung Jesu und kommt zuerst "dem Gekreuzigten selbst zugute", kann dann aber auch "für alle anderen in die Opferrolle geratenen Menschen verheißungsvoll sein" (80). Stellvertretung für uns und Inklusion uns zugute sind also nicht ausgeschlossen. Gott ist für die Gewalt gegen Jesus mitverantwortlich. "Zeugt die Auferweckung Jesu [daher] von einer Willensänderung Gottes?" (93) Wie verhalten sich die Provokationen des Lebens Jesu und die gewalttätigen Reaktionen der Herrschenden (89) zu seiner universalen Heilswirkung?

Grenzen genderspezifischer Ansätze werden in H. Kuhlmanns Beitrag sichtbar. Sie schreibt: "Nicht selten sind die Täter biografisch damit belastet, dass sie selbst als Kinder Gewalt erlitten haben" (106). Bedarf der Begriff "sexueller Gewalt" (77, 111 u. ö.) einer übergreifenden Ergänzung, um z. B. Gewalt gegen Kinder angemessen zu reflektieren?

Zentral in J. Moltmanns Beitrag ist "Jesus Christus - Gottes Gerechtigkeit in der Welt der Opfer und Täter" (127), der "Opfer und Täter in die gerechte Gemeinschaft mit Gott und miteinander" (138) bringe. In Anlehnung an H.-J. Iwand heißt es: Der rechtfertigende Glaube ist als "Christuserkenntnis" (128) nicht nur ein Glaube, durch den Menschen gerecht werden, sondern auch "Gott gerecht wird" (140).

R. Laufen skizziert die römisch-katholische Eucharistie-Debatte und die Vorstellung von der Kirche als "opferndes Subjekt" (177). Er würdigt den ökumenischen Bericht "Das Opfer Jesu Christi und der Kirche". Die dortige Idee einer Partizipation "am geschichtlich einmaligen Opfertod des Herrn" (186) bedarf jedoch der Klärung; laut 1Kor 11,26 wird im Abendmahl Jesu Tod verkündigt. - R. Stuhlmanns Zwischenruf "Blutleere [nicht: "Blutlehre" (6)] in Predigt und Mahl?" versteht die "Hingabe des Sohnes durch den Vater" im Tod Jesu als Gottes "Selbsthingabe" (so schon K. Barth, KD II/2, 193), die - gut protestantisch gedacht - "jedwede menschlichen Opfer überflüssig" mache (174).

H. Bedford-Strohm diskutiert den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Er lehnt die Idee des gerechten Kriegs ab, will aber den "ethischen Erfahrungsschatz" ihrer Kriterien "nutzen" (213). Zwar sei Gewaltfreiheit für Christen "aufgrund von Gottes Gebot der verbindliche Weg", aber im Notfall könne militärische Gewaltanwendung "erlaubt oder gar geboten sein". Verbindlichkeit wird so zum "Vorrang" (223), damit aber aufgegeben. "Handeln" (224) wird zum Synonym für Gewaltanwendung. Für zukünftige "ökumenische Meditationsversuche" (227) in politischen Konflikten wäre eine Kritik westlicher Kriegspropaganda notwendig. Für die Vertiefung der Einsicht, dass ein menschlicher Friede "nur ohne Waffen" (225) geschaffen werden kann, wäre das Gebot der Feindesliebe als positiver christlicher "Beitrag zu einer europäischen Gesellschaft" (S. Sykes) neu zu würdigen.