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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

939–941

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Thiede, Werner

Titel/Untertitel:

Wer ist der kosmische Christus? Karriere und Bedeutungswandel einer modernen Metapher.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 513 S. gr.8 = Kirche - Konfession - Religion, 44. Kart. Euro 62,00. ISBN 3-525-56548-8.

Rezensent:

Reinhart Hummel

Der Autor, Privatdozent für Systematische Theologie in Erlangen-Nürnberg, hat diese Studie dort als Habilitationsschrift vorgelegt. Er ist schon früher als Autor und Herausgeber von Literatur über Esoterik, Theosophie und andere weltanschauliche Themen hervorgetreten. Diese Kompetenz kann er jetzt auch für die Systematische Theologie fruchtbar machen. Die zentrale These seiner Studie, überzeugend vorgetragen und belegt, lautet nämlich: Die Rede vom kosmischen Christus hat einen "externen Ursprung"; sie ist am Anfang des 20. Jh.s im Horizont der Theosophischen Gesellschaft geprägt worden und hat erst später Eingang in die theologische Diskussion gefunden, wo sie vor allem im Zusammenhang mit der 3. Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi 1961 öffentliche Bedeutung gewonnen hat. Der "kosmische Christus" ist für Th. ein ranghoher Begriff moderner Spiritualität, der sich wie der Spiritualitätsbegriff selbst vom christlichen Wurzelboden gelöst hat oder oft nur noch locker mit ihm verbunden ist, ein Begriff, der "in verschiedenen Paradigmen bzw. in konfligierenden Kontexten" auftaucht und deshalb in der theologischen Diskussion einer "Spiritualität der Unterscheidung" bedarf, wie es im Schlussteil heißt. Angesichts der Mehrdeutigkeit einer religiösen Metapher wie der des kosmischen Christus sei eine Konfrontation unausweichlich, sie dürfe aber nicht den Charakter einer dialogischen Apologetik einbüßen.

Für sein Analyseinstrumentarium greift Th. in einem ersten Hauptteil auf P. Tillich zurück, vor allem auf dessen Unterscheidung zwischen Autonomie, Heteronomie und Theonomie. Als ein weiterer Bezugspunkt dient ihm der Hymnus aus dem Kolosserbrief, dem er drei unterschiedliche Redeweisen von der kosmischen Dimension Christi entnimmt, aus der Sicht der kolossischen Irrlehrer, der Sicht des Hymnus selbst und aus derjenigen des Briefautors, der die Bedeutung der Kirche und des Kreuzes herausstellt.

Der mehr als 200 Seiten starke zweite Hauptteil untersucht den Begriff des kosmischen Christus im Kontext moderner Esoterik. Mit unverkennbarer Entdeckerfreude analysiert Th. die Genese des Begriffs im Denken der 1875 gegründeten Theosophischen Gesellschaft. Von dort führt der Weg weiter einerseits zum Anthroposophiegründer R. Steiner und zum ersten Leiter der Christengemeinschaft, F. Rittelmeyer; andererseits zu den Weiterentwicklungen der Adyar-Theosophie (Alice Bailay u. a.) und zur New Age-Bewegung. Die Theosophin Annie Besant hat laut Th. den Begriff des "kosmischen Christus" zum ersten Mal geprägt, und zwar auf dem Hintergrund moderner astralmythologischer Vorstellungen, d. h. eines nicht mehr christlich orientierten Wirklichkeitsverständnisses. Th. deutet den Besantschen "kosmic [sic!] Christ" als oberste Emanation und "zweite Person" des universalen Logos. In dieser Neukonstruktion erscheint der wiederkommende Jesus als eine Manifestation (ein Avatara) des Logos neben anderen, das historische Kreuz Jesu als ein Schattenbild des "kosmischen" Kreuzes usw. Der Weiterentwicklung der Thematik bei R. Steiner (in Auseinandersetzung mit Besant!) und F. Rittelmeyer geht Th. sorgfältig nach.

Der dritte Hauptteil befasst sich mit dem kosmischen Christus als einem Begriff der modernen christlichen Theologie. Dieser Begriff sei zwar nicht mehr von den okkult-weltanschaulichen Vorstellungen der Theosophie geprägt, habe die monistischen Tendenzen jedoch nicht ganz abstreifen können. Auf einige nordamerikanische Theologen des frühen 20. Jh.s folgte als erster wichtiger Denker der Jesuit Teilhard de Chardin. Er vertritt in Th.s Augen ein exklusivistisches und zukunftsorientiertes Verständnis des kosmischen Christus; dieser gilt als "innerer Motor und finales Motiv der kosmischen Gesamtentwicklung".

Der systematisch- und missionstheologische Neuansatz in der 2. Hälfte des 20. Jh.s hat sich unabhängig von der theosophischen Vorgeschichte entwickelt. Der theologische Durchbruch ereignete sich im Gefolge der 2. Vollversammlung des ÖRK von 1961 in Neu-Delhi. Th. stellt den Hauptvortrag von J. Sittler und die anschließende Diskussion in Deutschland dar und wendet sich sodann U. Mann und A. Rössler zu. Ihnen bescheinigt er ein inklusivistisches Verständnis des kosmischen Christus, R. Panikkar und M. Fox dagegen ein pluralistisches. Th. hat also die in der jüngeren religionstheologischen Diskussion dominierende Unterscheidung zwischen exklusivistisch, inklusivistisch und pluralistisch seiner Darstellung zu Grunde gelegt. Es ist allerdings zu fragen, ob diese Einengung auf die religions-theologische Problemstellung der Sache gerecht wird; ob es beispielsweise bei Teilhard de Chardin und in der ökumenischen Diskussion von Neu-Delhi über den kosmischen Christus nicht primär um andere Themen ging. Th. kann freilich auf andere, eher zeitgenössische Theologen verweisen, bei denen eine kosmische Christologie und pluralistische Religionstheologie Hand in Hand gehen: St. Samartha, G. Schiwy, L. Swidler, J. Hick, P. Schwarzenau, L. Boff, und M. Fox. Th. schließt dieses Kapitel des dritten Hauptteils mit einem Abschnitt ab, der den Begriff des kosmischen Christus als dogmatische Herausforderung ernst nimmt. Es geht ihm um die kritische "Frage, ob der kosmische Christus so interpretiert wird, daß der Christusbegriff als Attribut des Kosmischen funktionalisiert wird, was sich im Programm einer kosmischen christologia gloriae auswirken würde - oder ob der Aspekt des Kosmischen der Auslegung der in Jesus als dem Christus begegnenden Offenbarung dienstbar gemacht ist" (381).

Das abschließende Kapitel über den kosmischen Christus bei Jürgen Moltmann regt noch einmal zu systematisch-theologischen Schlussfolgerungen an. Für die Abgrenzung vom Herkunftsmilieu ist Th. wichtig: Die theosophischen Konzepte vom kosmischen Christus gründen in einem weder biblisch noch abendländisch beheimateten Denkrahmen: Ihr "trinitarisches" Logos-Ver- ständnis meint nicht den Logos, den die Christenheit als zweite Person der göttlichen Trinität selbst und als endgültig inkarniert definiert, sondern meint subordinatianisch eine erste Emanation des Absoluten. Zur Bedeutung des Kreuzes: Die von Seiten der Theosophie "inszenierte" Verwechselbarkeit wird gefördert durch die Beibehaltung der Kreuzessymbolik, obgleich die Grenzen christlicher Interpretation deutlich überschritten werden. Was bedeutet es, in diesem Kontext den gekreuzigten Christus zu verkündigen? Für Th. bedeutet es, den Gekreuzigten als den kosmischen Christus zu bezeugen und umgekehrt den kosmischen Christus als den Gekreuzigten zu identifizieren (445).

Alles in allem ein anregendes, nicht immer leicht zu lesendes Werk, das sich durch die breite Stoff- und Themenfülle, den detaillierten Anmerkungsapparat sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis und Register empfiehlt.