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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

932–935

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

1) Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2) Jantzen, Jörg, u. Peter L. Oesterreich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

1) Weltalter-Fragmente, 1 u. 2. Hrsg. von K. Grotsch. Mit einer Einleitung von W. Schmidt-Biggemann.

2) Schellings philosophische Anthropologie.

Verlag:

1) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002. VI, 442 S. u. V, 328 S. 8 = Schellingiana, 13, 1 u. 2. Kart. Euro 101,00. ISBN 3-7728-2155-3.

2) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002. XI, 173 S. 8 = Schellingiana, 14. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-7728-2193-6.

Rezensent:

Christian Danz

Bei den hier anzuzeigenden Bänden aus der Reihe Schellingiana handelt es sich um eine Edition von Textfragmenten aus dem Berliner Nachlass Schellings sowie um einen der Anthropologie Schellings gewidmeten Sammelband.

Die Fragment gebliebenen Weltalter stellen wohl eines der ambitioniertesten Publikationsprojekte F. W. J. Schellings dar. Schelling arbeitete von 1810 bis 1820 fast ausschließlich an diesem in seinem Umfang kaum zu überbietenden Projekt und noch seine erste Münchner Vorlesung an der neu gegründeten Universität kündigte er 1827 unter dem Titel System der Weltalter an. Zu Lebzeiten Schellings wurde von diesem, die drei Bücher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassenden Projekt, welches eine Erzählung der Selbstoffenbarung Gottes vom Anfang bis zum Ende der Welt beinhalten sollte, nichts veröffentlicht. Bereits im Fahnendruck vorliegende Fassungen des ersten Teils dieses Werkes zog Schelling 1811 und 1813 zurück. Erst 1946 wurden diese beiden Fassungen zusammen mit der zweiten Hälfte des ersten Buches sowie Notizen zu dem zweiten Buch von Manfred Schröter aus dem infolge von Kriegsschäden vernichteten Münchner Nachlass Schellings publiziert. Schellings Sohn hatte zuvor schon eine Fassung der ersten Hälfte des ersten Buches der Weltalter von 1815 in den Band VIII (SW VIII, 195-344) der Sämtlichen Werke Schellings aufgenommen.

Neben diesen bereits bekannten Fassungen der Weltalter lagern im Berliner Nachlass Schellings noch ca. eintausend Manuskriptseiten zu den Weltaltern. Ein Teil dieser Manuskripte ist nun in einer zweibändigen Ausgabe von Klaus Grotsch (G.) der Forschung zugänglich gemacht worden. Die von G. erstmals publizierten Weltalter-Manuskripte stammen aus dem Zeitraum von 1810 bis 1820/21 und schließen eine empfindliche Lücke in der bisherigen Schellingforschung. Werden der Forschung doch nun Texte zur Verfügung gestellt, die es erlauben, die Genese dieses ambitionierten Projektes Schellings genauer als bisher zu erschließen.

Die Ausgabe der Fragmente wird eingeleitet durch einen Beitrag von Wilhelm Schmidt-Biggemann (S.-B.) Schellings "Weltalter" in der Tradition abendländischer Spiritualität - Einleitung zur Edition der Weltalter-Fragmente (Bd. 13. 1: 1-79). S.-B. stellt Schellings Weltalterphilosophie in die Tradition des spiritualistischen Denkens, dessen Geschichte in groben Zügen vom Neuplatonismus bis hin zu Jakob Böhme und Spinoza sowie Schelling dargestellt wird. Die Einleitung bietet einen ideengeschichtlichen Zugang zur Weltalterphilosophie Schellings. Systematische Probleme der Weltalterphilosophie bleiben in ihr allerdings ebenso unberücksichtigt wie etwa die Frage, wie sich die Geltung des trinitätstheologischen Denkens der origenistischen Tradition unter den Bedingungen neuzeitlichen Denkens darstellt.

Die von G. editierten Manuskripte der Weltalter-Fragmente verstehen sich als eine historisch-kritischen Prinzipien verpflichtete "Vorausedition von Texten" (79), die später in die von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften veranstaltete Historisch-kritische Ausgabe aufgenommen werden sollen. Über die leitenden Editionsprinzipien wird detailliert Auskunft gegeben (Bd. 13. 1: 86-98; Bd. 13. 2: 1-13). Abkürzungen und Kürzel Schellings werden nicht aufgelöst. Die Wiedergabe der Texte folgt in Wortlaut, Lautstand, Orthographie sowie Zeichensetzung den Manuskripten Schellings. Die verschiedenen Bearbeitungsschichten der Manuskripte werden von G. umsichtig textkritisch gekennzeichnet. Insgesamt wird der Forschung mit dieser Edition eine gute Textgrundlage zur Verfügung gestellt, die sich um eine genaue Widergabe der Manuskripte bemüht. Aus dem "rund eintausend Blätter" (80) umfassenden Berliner Manuskriptbestand der Weltalter wurden in die Edition 7 Manuskripte aufgenommen (Bd. 13.1: NL 80, 81, 84, 85, sowie als Appendix zwei Exzerpte aus NL 43 und 44; Bd. 13. 2: NL 89, 91, 94). Warum gerade diese Texte in die Ausgabe aufgenommen wurden und andere nicht, wird vom Herausgeber allerdings nicht angegeben. Alle Manuskripte sind mit einer editorischen Vorbemerkung versehen, die über den Zustand des Überlieferungsträgers sowie über Datierungsfragen Auskunft gibt. Eine von Schmidt-Biggemann stammende Inhaltszusammenfassung des jeweiligen Manuskripts orientiert den Leser über den mit erläuternden Anmerkungen edierten Text. Bibliographien beschließen die Bände. Auf Register wurde leider verzichtet. Ein gravierendes Problem für einen sinnvollen Umgang mit diesen Texten stellt die Datierung der Manuskripte dar. Da Schelling selbst in den Texten kaum Anhaltspunkte für eine genaue Datierung gibt, bleibt die von G. behutsam versuchte sehr vage. Eine sichere Datierung, und darauf verweist G. selbst (vgl. 85), wird erst dann möglich sein, wenn alle Texte aus dem Berliner Nachlass publiziert sind.

G. erhebt mit seiner Edition der Weltalter-Manuskripte nicht den Anspruch, einen "unbekannten Schelling vorzustellen" (79). Die publizierten Manuskripte bieten in der Tat keine neuen Einsichten oder einen verborgenen Schelling. Ohne das Verdienst von G. zu schmälern, kann man sagen, dass die Manuskripte Variationen zu schon bekannten Formulierungen enthalten, wie sie in den bisher edierten Weltalter-Fragmenten vorliegen. Die von G. publizierten Fragmente dokumentieren einen unterschiedlichen Grad der Ausarbeitung. Bei einigen handelt es sich um Notizen, andere bieten zusammenhängende und ausgearbeitete Argumentationen, die dann in Notizen auslaufen. So wird dem Leser gleichsam ein Einblick in die Gedankenwerkstatt Schellings ermöglicht. Das Manuskript mit der Nachlassposition NL 81 (Bd. 13. 1: 159-293), das von G. auf die Zeit zwischen 1813 bis 1817 datiert wird, bietet die ausgearbeitetste Fassung der gesamten Ausgabe. Wie die anderen Manuskripte bemüht sich dieser Text um eine gedankliche Bewältigung des Problems des Anfangs. Das begriffliche Mittel für die Rekonstruktion des Anfangs als der Vergangenheit Gottes stellt die Potenzenlehre dar, welche Schelling in immer wieder neuen Variationen durchbuchstabiert. Durch sie soll der Übergang von Einheit zu Differenz und damit ein Aufbau von Bestimmtheit aus Unbestimmtheit geleistet werden. Die von Schelling in immer wieder neuen Anläufen herangezogenen Metaphern und Gedankenfiguren lassen erahnen, vor welche gedanklichen Schwierigkeiten sich ein solches Projekt gestellt sieht.

Der zweite hier anzuzeigende Band der Reihe Schellingiana beinhaltet die Vorträge des am 14. Juni 1999 von der Internationalen Schelling-Gesellschaft an der Freien Universität Berlin veranstalteten Schelling-Tages. Mit Schellings philosophischer Anthropologie rückt dieser von Jörg Jantzen und Peter L. Oesterreich herausgegebene Band einen Aspekt der Philosophie Schellings in den Blickpunkt, der in der bisherigen Forschung eher wenig beachtet wurde. Neben den vier Vorträgen des Schelling-Tages wurden in den Band zwei Beiträge von Temilo van Zantwijk und Claus Dierksmeier aufgenommen, die sich anthropologischen Themen widmen.

Den anthropologischen Implikationen einer Philosophie des Absoluten geht Jochem Hennigfeld (H.) in seinem Beitrag Der Mensch im absoluten System. Anthropologische Ansätze in der Philosophie Schellings (1-22) nach. Ausgehend von einem von Schelling in den Jahren 1837/38 konzipierten Anthropologischen Schema versucht H., an der Freiheitsschrift von 1809 sowie an den Weltaltern zu zeigen, dass die "anthropologische Reflexion eine zentrale methodische Funktion" (3) in der Philosophie Schellings inne hat. Schellings anthropologische Reflexionen haben jedoch ihren Ort innerhalb eines cum grano salis metaphysischen Systems, so dass die Anthropologie Strukturelement einer komplexeren Theorie sei. Auf diese Weise gelinge es Schelling, so H., zu verbinden, was in der als Fundamentaldisziplin konzipierten späteren philosophischen Anthropologie scheinbar nicht mehr vereinbar ist, nämlich die Doppelheit eines biologischen und lebensweltlichen Ausgangspunktes der Anthropologie (vgl. 22).

Eine Duplizität von philosophischer Strukturtheorie und anthropologischer Vollzugstheorie betont auch Peter L. Oesterreich (Oe.) in seinem Aufsatz Die Freiheit, der Irrtum, der Tod und die Geisterwelt. Schellings anthropologischer Übergang in die Metaphysik (23-50). Diese Struktur von Schellings philosophischer Anthropologie arbeitet Oe. an den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 heraus und versucht den Nachweis zu erbringen, dass die Anthropologie in dieser Phase von Schellings Denken in den Rang einer "geheimen Fundamentaldisziplin" (25) rückt. Oe. gibt der strukturellen "Duplizität von apriorischer Systemkonstruktion und anthropologischer Analogie" (28) eine rhetorische Lesart. Hierdurch eröffnet sich nicht nur ein Blick auf die Stellung des Menschen in den Stuttgarter Privatvorlesungen, sondern auch auf die mit der Anthropologie verbundenen Themen von Freiheit und Vernunft.

Hartmut Rosenau (R.) geht unter dem Titel Essentifikation. Die theonome Existenz des Menschen in Schellings Spätphilosophie (51-74) den Perspektiven nach, welche Schellings Verständnis der Auferstehung für die protestantische Theologie eröffnet (57). Auch R. beobachtet in der Philosophie Schellings eine strukturelle Duplizität von einer philosophischen Ontologie und einer geschichtlichen Verlaufstheorie. An der unterschiedlichen Zuordnung beider Theoriestränge unterscheiden sich Früh- und Spätphilosophie Schellings. Während der frühe Schelling gleichsam von einer soteriologischen Macht der Vernunft ausgegangen sei, komme der späte Schelling zur Einsicht in eine "soteriologische Ohnmacht" (53) der Vernunft, ohne freilich von einer philosophischen Ontologie Abstand zu nehmen. Gerade diese Verbindung führe zu einem auch für die protestantische Theologie interessanten Verständnis der Auferstehung des Menschen, indem sie es erlaubt, den Menschen in der von ihm selbst zu realisierenden Verfasstheit seiner relationalen Struktur in den Blick zu nehmen (vgl. 69).

Die Monstrosität des Menschen (75-109) nimmt Slavoj Zizek in seinem Beitrag in den Blick. Beginnend mit Überlegungen zu "Irren/Un-Wahrheit" bei Heidegger und endend bei der Frage, "Welche Rolle spielt das Erscheinen des Menschen im Leben Gottes?" (108) werden auf eine assoziationsreiche Weise die unterschiedlichsten Themen berührt. In diesem Potpourri von Heidegger, Lacan, Marx, Freud und Schelling sucht der Leser vergebens nach einem klar entfalteten Gedanken.

Ist Anthropolgie als Wissenschaft möglich? (110-154) Dieser Frage geht Temilo van Zantwijk (Z.) gleichsam am historischen Urspungsort der Anthropologie als einer wissenschaftlichen Disziplin nach. Durch die von Z. vorgenommene Konstellation der in ihrem Ausgangspunkt gegenläufigen Konzeptionen von Carl Christian Erhard Schmid und Schelling werden die Schwierigkeiten von empirischen und spekulativen Entwürfen der Anthropologie gleichsam spiegelbildlich erörtert.

Claus Dierksmeiers (D.) am Freiheitsbegriff orientierte Studie Rechte der Natur - fundiert durch eine Philosophie der Natur? (155-173) beschließt den Band. D. geht es um die Frage, inwieweit eine Naturphilosophie in der Lage sei, Rechte der Natur zu begründen. Schellings am Freiheitsbegriff orientierte Naturphilosophie impliziere zwar Schutz und Achtung der Natur (166), insofern die Natur als das andere der Freiheit thematisiert wird. Gleichwohl sei es um die Möglichkeit, Schelling als einen Kronzeugen für eine Begründung von Rechten der Natur in Anspruch zu nehmen, schlecht bestellt. Denn unter den identitätsphilosophischen Prämissen von Schellings früher Naturphilosophie kann der Natur kein auf den Menschen unbezügliches Recht zukommen.