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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

930 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lessing, Hans-Ulrich

Titel/Untertitel:

Wilhelm Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 240 S. 8 = Werkinterpretationen. Kart. Euro 22,90. ISBN 3-534-10393-9.

Rezensent:

Magnus Schlette

Wenn in fachphilosophischen Kreisen heute von der Philosophie des Geistes die Rede ist, dann wird mit diesem Ausdruck zumeist ein Argumentationszusammenhang innerhalb der analytischen Philosophie bezeichnet, der sich an Problemen wie der Rückführbarkeit mentaler auf physische Eigenschaften und der physischen Realisierung mentaler Zustände abarbeitet. Die Autoren, deren Namen dann unweigerlich fallen, entstammen fast ausnahmslos dem angelsächsischen Sprach- und Kulturraum. Kaum einer von ihnen dürfte näher damit vertraut sein, dass in den 80er Jahren des 19. Jh.s Wilhelm Dilthey angetreten ist, eine Philosophie des Geistes als Grundlegung der Geisteswissenschaften zu entwickeln, und zwar mit dem Anspruch, deren Gegenstand sowie die erkenntnistheoretischen und methodischen Fundamente ihrer Forschungspraxis von denen der Naturwissenschaften positiv abzugrenzen. Dieser Anspruch ergab sich Dilthey aus einer doppelten Frontstellung, nämlich einerseits gegen die Bestrebungen des britischen Empirismus sowie des französischen Materialismus und Positivismus - den historischen Wegbereitern der heutigen Wortführer in der Philosophy of Mind - um eine schrittweise Naturalisierung des Geistes, andererseits gegen metaphysische Deutungen des Geistes jedweder Provenienz von der Antike über die scholastische Theologie bis zur Spekulation Hegels.

Nicht nur der analytischen Philosophie dürfte der Name Dilthey wenig sagen, das umfangreiche Werk stößt insgesamt außerhalb der hermeneutischen Zirkel trotz des verdienstvollen Dilthey-Jahrbuches, das sich in den achtziger und neunziger Jahren um eine Diskussion auch seines systematischen Gehaltes bemüht hat, nicht gerade auf pulsierende Aufmerksamkeit. Denjenigen Studierenden, die vor allem an seinen philosophischen Argumenten interessiert sind, ist Dilthey wegen seiner mäandernden Sprache und der überbordenden historischen Sättigung seines systematischen Denkens eine Last. Diese beherzt zu schultern, hilft mittlerweile allerdings eine Reihe von Monographien und Werkeinführungen, unter denen hier lediglich auf die einschlägigen Bücher von Rudi Makkreel und Matthias Jung hingewiesen werden soll. Die Literatur wird nun ergänzt durch einen Kommentar zu Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften - dem Grundbaustein seiner Philosophie des Geistes -, den Hans-Ulrich Lessing in der Reihe Werkinterpretationen der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft vorgelegt hat.

Dem Autor geht es weder um eine geistesgeschichtliche Einordnung Diltheys noch um den längst fälligen Brückenschlag zwischen einerseits der (Diltheyschen) Hermeneutik sowie andererseits den Traditionen des amerikanischen Pragmatismus (wie das Jung ansatzweise unternommen hat) und der Philosophy of Mind. Der Kommentar soll Diltheys Einleitungsschrift stattdessen in den Kontext des Gesamtprojektes der avisierten, aber nur unvollständig und in verstreuten Publikationen ausgeführten Philosophie des Geistes einordnen sowie schließlich dem Gedankengang des Buches Schritt für Schritt folgen. Daraus erhellt sich, dass sich sein Buch vorrangig an Studierende wendet, und zwar mit dem Ziel der Vorbereitung und Begleitung des Primärtextstudiums. Diesem Ziel wird der Band gerecht, indem er es versteht, die Orientierung am inhaltlichen Aufbau der Einleitungsschrift mit der deutlichen Akzentuierung der argumentativen Pfeiler zu verbinden, die das Werk tragen.

Der Kommentar arbeitet deutlich Diltheys zentrale Gedankenfigur heraus. Die Geisteswissenschaften sollen ihre psychologisch-anthropologische Grundlegung in dem Konzept der "inneren Erfahrung" finden, deren Gehalte sich dem externen Blick der Naturwissenschaften auf die Welt des Geistes ebenso entziehen wie sie von der Metaphysik in einen erfahrungswissenschaftlich nicht mehr überprüfbaren "view from nowhere" (Thomas Nagel) aufgehoben werden, dessen Geltung - weil jenseits jeder methodischen Überprüfbarkeit - mit der Autorität der Tradition steht und fällt. Wo diese von der Aufklärung destruiert wird, schlägt der Metaphysik die Stunde ihres Niederganges. Dilthey sieht sich nicht wie sein Zeitgenosse Nietzsche als Vollender dieses Niedergangs, sondern - mit falscher Bescheidenheit, aber typisch für das erfahrungswissenschaftliche Selbstverständnis der Historisten - lediglich als deren Chronist und Interpret. Der Begriff des Geistes ist für Dilthey dagegen selbst nur eine Verlegenheitslösung, denn er macht nicht deutlich, dass, was er bezeichnet, nicht zu trennen ist von der "psycho-physischen Lebenseinheit", in der der Mensch als ein denkend-wollend-fühlendes Wesen in einem unhintergehbaren Austauschverhältnis mit seiner Umwelt steht.

Diesem Austauschverhältnis begrifflich vermittels der Konzeption innerer Erfahrung habhaft zu werden, verstrickt Dilthey freilich in erhebliche erkenntnistheoretische Probleme, die den heutigen, sprachphilosophisch informierten Lesern vielleicht noch deutlicher werden als Dilthey selbst. Der hat sich freilich in seinem Spätwerk zu einem symboltheoretisch anschlussfähigen Ansatz bei der Grundkategorie des objektiven Geistes entschlossen und damit sein ursprüngliches Projekt einer Einleitung in die Geisteswissenschaften in eine neue Richtung geführt. Dass L., der die systematischen Schwächen der Einleitungsschrift zwar nicht verschweigt, sie andererseits aber auch nicht ausführlich diskutiert, sondern seine Aufgabe vornehmlich in der inhaltlichen Rekonstruktion des Textes sieht, wird man seinem Kommentar vielleicht nicht vorwerfen wollen. Freilich werden sich die Leser wünschen, dass er sich entschiedener von der Diltheyschen Diktion gelöst und mehr Übersetzungsarbeit geleistet hätte, denn Diltheys Formulierungen neigen zur Umständlichkeit, die im Kommentar wiederkehren.