Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2003

Spalte:

927–930

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Janssen, Ulrike

Titel/Untertitel:

Heilige Zeichen. Die Produktion der "eigentlichen Wirklichkeit" in hermeneutischen Theorien.

Verlag:

München: Fink 2002. 608 S. gr.8. Kart. Euro 78,00. ISBN 3-7705-3616-9.

Rezensent:

Martin Vetter

Moderne Literaturwissenschaften, die sich einst aus der Forschung zur biblischen Hermeneutik entwickelten, beeinflussen heute mit ihren Debatten auch die Bibelexegese und systematisch-theologische Überlegungen zur Lehre von der Heiligen Schrift. Da hermeneutische Konzepte in der Theologie ebenso ihre Spuren hinterlassen haben wie linguistische, rezeptionsästhetische und lesetheoretische Ansätze auch postmoderner Couleur, stellt sich für die theologischen und literaturwissenschaftlichen Disziplinen aber auch gleichermaßen die Frage, wie die Beziehung zu beurteilen sei zwischen hermeneutischer Tradition und postmoderner Kritik im frankophonen Diskurs zur Schrift (Derrida, Foucault u. a.). Zeitgemäße Lese- bzw. Texttheorien, wird heute (auch in der Theologie) verschiedentlich gefordert, seien "jenseits der Hermeneutik" zu verorten.

Eine systematische und historische Rekonstruktion dieses theoretischen Problems entwirft Ulrike Janssens von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommene Dissertation: "Heilige Zeichen". In sechs Kapiteln bietet diese im Grenzgebiet zwischen Literaturtheorie und Philosophie angesiedelte Studie Untersuchungen zu hermeneutischen und sprachphilosophischen Positionen von Platon bis Derrida. Dass systematische und historische Überlegungen meist ohne überleiten- den Kommentar miteinander verknüpft werden, erschwert allerdings die Lektüre. Auch sind die Beiträge zur Geschichte der Hermeneutik, die antike Texte ebenso berücksichtigen wie mittelalterliche und neuzeitliche Konzeptionen, weder durchgängig chronologisch geordnet, noch erläutert die Vfn. die Prinzipien der Auswahl. Einzig das knappe Vorwort orientiert die Lesenden über den für eine wissenschaftliche Publikation ungewöhnlichen, nicht immer leicht nachvollziehbaren Aufbau und die Methode des Buches. So mutet die vorwiegend das Gespräch mit Primärtexten führende Studie den Lesenden eine große Konzentrationsbereitschaft zu. Im Gegenzug erschließt sich den Lesenden ein allgemeines Modell zur Analyse hermeneutischer Theorien, denn ausgehend von der Beobachtung, dass die Auseinandersetzung mit hermeneutischen Theorien zunehmend die literarwissenschaftliche Arbeit bestimme, vertritt die Vfn. die These, hermeneutische Theoriebildung sei ihrerseits Literatur und könne folglich unter rhetorischen Gesichtspunkten untersucht werden (vgl. 7.127 u.ö.). Dieser Ansatz fordert, hermeneutische Konzepte unterschiedlicher historischer und geistesgeschichtlicher Provenienz auf die in ihnen verarbeiteten Formen der Darstellung hin zu erörtern, denn die "Art der Lektüre versucht nichts anderes, als eben solche Formen (in ihrer Sprache jeweils) herauszufiltern, zu sammeln und zu vergleichen" (8). Auf dem Hintergrund dieser rhetorischen Formen bzw. Figuren entwickelt die Vfn. ihre These zu der in hermeneutischen Theorien explizierten "eigentlichen Wirklichkeit".

Nachvollziehen lässt sich dieser in komplexen Analysen entwickelte Gedanke am besten mit Hilfe einer Rekonstruktion der zentralen These: "Heilige Zeichen findet man nicht, sie werden gemacht" (7). Nach J. bestimmt das rhetorische Konzept "heiliger Zeichen" die hermeneutischen Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Einerseits operiert die Vfn. mit einer weiten Definition des Ausdrucks "Hermeneutik". Der Begriff beinhaltet "(theoretisch) alles, was etwas darüber zu sagen hätte, wie ein Zeichen mit einem Bezeichneten in Beziehung zu bringen wäre (oder auch nicht)" (7, vgl. 462 ff.). Andererseits wird jedoch der in der Diskussion hermeneutischer Entwürfe gerade strittige Begriff des Zeichens auf das argumentationslogische Konzept des "heiligen Zeichens" zugespitzt. Eingeschrieben sei diesem Konzept die Differenz zum "Fetisch-Zeichen", denn im Unterschied zum Fetisch wird dem heiligen Zeichen ein absoluter Wert beigemessen: "das Heilige erscheint nicht als selbstgemacht, sondern als gegeben" (13). Der Vfn. zufolge beinhaltet nun allerdings die von ihr behauptete lektüretheoretische Sakralisierung des Zeichens ihrerseits einen Verweischarakter, denn das Sakralisierte verberge den weltanschaulichen Kontext der Zeichen, mit anderen Worten das vorherrschende "Weltbild" (vgl. 216) oder den "Glauben" (vgl. 188). Deshalb sei das Fetisch-Zeichen-Argument "Teil einer rhetorischen bzw. narrativen Strategie, die ganz allgemein dazu dient, einen neuen Glauben durchzusetzen" (191) oder, texttheoretisch formuliert, die "Methode vom Inhalt (des Glaubens)" abzulösen (246).

Der Beitrag einzelner Kapitel zur Entwicklung dieses Gedankens kann in diesem Zusammenhang lediglich knapp skizziert werden: Die ersten drei Kapitel erarbeiten die Grundlage der Theorie heiliger Zeichen. Unter der Überschrift "Heilige Räume" (vgl. 9-58) rekonstruiert die Vfn. zunächst die begriffliche Basis ihrer Untersuchung: die Rede vom Zeichen einerseits, den Modus des Überbietens bzw. Sakralisierens andererseits. Literarische "Diesseits-Jenseits-Gesten" (z. B. Geist-Körper-Dichotomie) seien geeignet, räumlich strukturierte Vorstellungen zu produzieren.

Im zweiten Kapitel, "Texte und Kontexte" (59- 127), thematisiert die Vfn. das Verhältnis zwischen Oralität und Literalität sowie die Grundlagen literarischer Interpretation: Schrift, Text und Kanon. Die Geschichte der Hermeneutik belegt demnach nicht nur die anhaltende Suche nach einem geeigneten Umgang mit der erfahrbaren Mehrdeutigkeit der Texte. Sie belegt auch die These, dass die Entwicklung hermeneutischer Modelle die Ablösung überkommener Interpretationsmodi bedingt: "Zwischen den Kirchenvätern, Luther und Derrida scheinen Welten zu liegen, aber die funktionale Struktur der Argumentation ändert sich kaum" (101).

Gebündelt werden diese Überlegungen im dritten, ausführlichsten Teil des Buches: "Heilige Zeichen - Fetisch-Zeichen" (128-263). Die biblischen Erzählungen vom Goldenen Kalb (Ex 32) und vom Brennenden Dornbusch (Ex 3 f.) schildern nach der Vfn. die hermeneutischen Grundlagen eines neuen Religionstyps. Er basiere auf der strikten Unterscheidung zwischen Weltlichem und Göttlichem und begreife die (heiligen) Schriften als vermittelnde Instanz zwischen lesendem Menschen und göttlichem Autor. Doch kanonisierte Texte - das belegen die Debatten der Theologie- und Philosophiegeschichte von Aristoteles bis Paul de Man - ziehen den Streit der Interpretation auf sich. Deshalb setzen sich Lesetheorien der Vfn. zufolge mit der Möglichkeit falscher Lektüren auseinander und bereichern die Rede vom Text um die Kategorie des Kommentars. Textinterpretationen, das ist die Quintessenz, setzen also stets eine bestimmte Leseanweisung voraus. Das vierte Kapitel der Arbeit beschreibt und diskutiert unter der Überschrift "Allegoresen" einschlägige Modelle zur Lektüreanleitung (Philo, Origenes u. a.; 264-348). Die Vfn. weist nach, dass die Figur des heiligen Zeichens nicht nur die Literatur bestimmt, deren Lektüre hermeneutische Theorien zu regulieren suchen, sondern die Theorien selbst. In "allen, auch den säkularisierten hermeneutischen Theorien und Lektüreformen", kehre das "theologische Prinzip der umfassenden Inspiration" wieder (319). Die Theologisierung bzw. Sakralisierung der Anweisungen zur Lektüre, argumentiert die Vfn. im fünften Kapitel über "Zeichen und Verhalten" (349-444), sei den Zeichenbenutzenden jedoch in der Regel nicht bewusst. Dass unter dieser Prämisse Text und Kommentar gewissermaßen ritualisiert zusammen fallen, würdigt die Vfn. als bedeutende Einsicht im zeitgenössischen Umfeld Schleiermachers. Interpretationstheorien können jedoch nicht nur sakralisiert, sondern auch entzaubert werden, wie der Nachweis an der Geschichte der rationalistischen Hermeneutik bis Kant belegt ("Karte und Territorium", 445-582). Literaturverzeichnis und Register beschließen den Band.

Alles in allem ist diese Arbeit also aus mehreren Gründen auch für die theologischen Debatten zur Schriftauslegung interessant: Sie bietet einen originellen Beitrag zur aktuellen Metatheorie der Hermeneutik, argumentationslogisch zugespitzte Analysen mosaischer Traditionen und eingehende Interpretationen bibelhermeneutischer Klassiker (Origenes, Augustin, Luther, Schleiermacher u. a.). Die lektüretheoretische These der Vfn. zum Verhältnis von Methode und Wahrheit verweist mit Blick auf die häufig konträr diskutierten Positionen klassischer hermeneutischer und dekonstruktivistischer Ansätze auf die literarische Ebene, von der aus betrachtet die hermeneutische Produktion der "eigentlichen Wirklichkeit" als poetische Strategie erscheint (vgl. 94). Es ist die Stärke der Arbeit, auf diese Weise die zeichentheoretischen Fundamente der Lektüretheorien zu verdeutlichen. Doch auch wenn die den hermeneutischen Theorien inhärente Frage, wie es "in Wirklichkeit" sei, durch die Beobachtung der Vfn. relativiert wird, dass das heilige Zeichen nur auf Kosten der Häretisierung zu gewinnen sei, ist der Gestus hermeneutischen Überbietens durch den vorgetragenen literaturwissenschaftlichen Zugang nicht zu dispensieren. Weder kann also die rhetorische Sicht die hermeneutische Verhältnisbestimmung von Signifikant und Signifikat ersetzen, noch befreit sie von der Aufgabe, das entfaltete rhetorische Konzept "heiliger Zeichen" zu den verhandelten zeichentheoretischen Optionen in Beziehung zu setzen. Wie schade, dass das lesenswerte Buch über diese letzten Dinge schweigt.