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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

925–927

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bormuth, Matthias

Titel/Untertitel:

Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002. 382 S. 8 = Medizin und Philosophie, 7. Kart. Euro 45,00. ISBN 3-7728-2201-0.

Rezensent:

Hartmut Raguse

Der 1883 geborene Karl Jaspers wurde als Mediziner 1913 durch seine "Allgemeine Psychopathologie" berühmt. In den folgenden Neuauflagen dieses psychiatrischen Standardlehrbuches zeichnete sich aber seine Entwicklung zum Existenzphilosophen ab. Seit 1921 war er Professor der Philosophie in Heidelberg und später in Basel. Als einer der Begründer der Existenzphilosophie verblieb er gleichwohl im traditionellen Schema von wissenschaftlich zu erforschender Immanenz und glaubender Transzendenz. Er setzte seinen "philosophischen Glauben" gegen das Christentum, ohne diesem seine Achtung zu versagen.

Aber nicht die theologische Linie verfolgt die gleich nach ihrem Erscheinen preisgekrönte Dissertation von Matthias Bormuth. Sie zeigt vielmehr die Geschichte der Auseinandersetzung von Jaspers mit Sigmund Freud auf. Dabei wird ein Philosoph sichtbar, der in zunehmend erbitterter Polemik nicht nur die wissenschaftliche Diskussion sucht, sondern der das geistige Leben in Deutschland vor der Psychoanalyse bewahren zu müssen glaubt und der auch vor massiver politischer Einflussnahme gegen sie nicht zurückschreckt. Im Hintergrund steht Jaspers' Hoffnung, so zeigt es B. immer wieder, mit seiner "philosophischen Existenzerhellung" seinerseits das Nachkriegsdeutschland prägen zu können.

In der ersten Auflage der Psychopathologie vermag Jaspers Freuds Innovationen noch als interessant zu würdigen. Ihre Inhalte sprechen ihn an, nicht jedoch ihre Methode, die keine streng kausalen Ergebnisse liefern könne. Jaspers argumentiert hier und auch später als ein Naturwissenschaftler, der allein deren Methodik gelten lässt. In der zweiten Auflage von 1920 wird Jaspers aber auch den Inhalten gegenüber skeptisch. Vor allem verwirft er die Betonung der Bedeutung der Sexualität. Die Polemik gegen Freud steigert sich in der berühmten Schrift: "Die geistige Situation der Zeit". Ihr angeblich totalitärer Deutungsanspruch lässt ihn die Psychoanalyse im Zusammenhang mit Marxismus und (vornationalsozialistischer) Rassenhygiene sehen. Einen Schlüssel zu diesem Verständnis entnimmt Jaspers dem Werk von Max Weber, speziell dessen Wissenschaftslehre. Er radikalisiert dabei dessen Wertfreiheitspostulat derart, dass Wertungen innerhalb der einzelnen Wissenschaften überhaupt keinen Platz mehr haben, vielmehr ausschließlich der Philosophie zustehen. Genau diesen Anspruch aber sieht Jaspers durch die Psychoanalyse und andere neue Denksysteme gefährdet. Dem steht die Philosophie als "existentielle Reflexion", wie sie Jaspers selber beschreibt, entgegen, eine gleichsam inhaltslose Orientierung der je individuellen Existenz an einer gänzlich abstrakten Transzendenz. Eine solche existentielle Reflexion wäre für ihn zugleich die höchste Form der Psychotherapie, zu der aber nur wenige Menschen in der Lage seien. Die anderen mögen eine pragmatische Psychotherapie erhalten, die ihnen konkret hilft. Aber sie sollte unspezifisch und sicherlich nicht psychodynamisch orientiert sein. Wird sie existentiell überhöht, dann ist diejenige "intellektuelle Lebensführung" möglich, die in Familie, Freundschaft und auch in der Universität ihren Platz haben kann. Der im Mantel schreitende Jaspers auf dem Buchdeckel und der im Inneren des Buches ähnlich schreitende Mann von Alberto Giacometti sind so etwas wie präsentative Symbole dieser modernen Lebensführung, die Jaspers vor allem durch die Psychoanalyse bedroht sieht. Jaspers Abneigung gegen sie wurde so groß, dass er die Gleichschaltung der psychotherapeutischen Institute nach 1933 im Göring-Institut in Berlin als Fortschritt begrüßte.

B. beschreibt diese Entwicklung mit großer Sachkenntnis und in größter Neutralität, wobei eine gewisse Sympathie für Jaspers und seine Philosophie erkennbar bleibt. Das aber ist genau das grundlegende Werturteil, das Weber für die Wissenschaften zulässt, während Jaspers selbst dieses nicht anerkennen will, und deshalb im Grunde nur Naturwissenschaften gelten lässt, die allein durch die Philosophie überhöht werden.

Im Kampf gegen die Wiedereinführung der Psychoanalyse und Psychosomatik findet Jaspers seine Gegner in Viktor von Weizsäcker und Alexander Mitscherlich. Bei aller persönlichen Achtung für den integren Mitscherlich steigert sich seine Abneigung in fanatischen Hass, und selbst der Vergleich mit dem Nationalsozialismus unterbleibt nicht (vgl. 283). Jaspers wittert in der Psychoanalyse einen neuen Totalitarismus und in der von Mitscherlich geforderten obligatorischen Lehranalyse für künftige Psychoanalytiker einen kontrollierenden und zerstörerischen Eingriff ins Individuum. Jaspers Polemik hat damals das Vordringen der Psychoanalyse nicht verhindern können. Den heutigen Zustand, wo sie von den Universitäten fast vollkommen wieder verschwunden ist, würde er sicherlich begrüßen. B. legt in den letzten Kapiteln manchmal seine Neutralität ein wenig ab. Eine Formulierung wie diejenige auf S. 302 zeigt das: "Fraglos war Jaspers nicht frei von der Neigung, im Zuge der Totalitarismus-Debatte selbst ideologische Mauern zu errichten, die vor Einflüssen schützen sollten, die seinem existenzphilosophischen Anliegen entgegen standen". Aber auch in umgekehrter Richtung scheint seine eigene kritische Haltung - etwa in der Frage der Lehranalyse - zwischen den Zeilen und vor allem in den Motti der einzelnen Kapitel durch. Aber insgesamt ist das Buch ein Meisterwerk einer gelehrten, klaren und unparteiischen Darstellung, die einen Einblick in das Grenzgebiet zwischen Philosophie und Psychoanalyse gibt und deutlich die wissenschaftlichen Voraussetzungen aufzeigt, von denen her argumentiert wird.

Doch neben der sachlichen scheint oft auch eine persönliche Ebene der Auseinandersetzung durch. Jaspers vertritt vehement seine eigene Sache, die Geltung der Existenzphilosophie gegen die konkurrierende psychodynamische Sichtweise des menschlichen Lebens. Mir selber scheint allerdings, er verkenne dabei vollkommen den tastenden und keineswegs totalen Anspruch der Freudschen Schule. Aber gerade auf Grund dieses Missverständnisses sieht er seine eigene Philosophie bedroht. B. weist auf die Rivalität der Ansprüche immer wieder diskret hin, vor allem, wo es um die Auseinandersetzung mit Mitscherlich geht. Gerade in dieser Auseinandersetzung um die Einrichtung einer psychosomatischen Klinik benutzt Jaspers ohne Skrupel seine Macht, um die ärztliche Tätigkeit auf den naturwissenschaftlichen Bereich zu begrenzen und alles biographische Nachfragen auf die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung zu beschränken, der er sonst jede medizinische Bedeutung aberkennt.

In den sechziger Jahren war die Psychoanalyse erfolgreich gegen Jaspers' Philosophie, heute stehen beide Richtungen im Schatten des Interesses. Kann die heutige Polemik gegen die Psychoanalyse von Jaspers und von B.s Buch profitieren? Ich glaube es kaum. Jaspers fordert derart konsequent für die Wissenschaften eine sich dem Positivismus (vgl. 148 und 304 f.) annähernde Haltung, dass auch die meisten neueren psychologischen Positionen, die sich gegen die Psychoanalyse richten, nicht vor ihm bestehen könnten. Ich denke etwa an die kognitiven Therapien. Aber auch die Geisteswissenschaften dürften nicht vor ihm bestehen, von der Theologie ganz zu schweigen. Jaspers herbe Kritik an Bultmanns angeblich mangelnder philosophischer Kompetenz in der Frage der Entmythologisierung ("ex cathedra", wie Bultmann in seiner Antwort sagt), sein abstrakter "philosophischer Glaube", aber auch sein eher hilfloser Versuch, den Propheten Hesekiel im Lichte der Schizophrenietheorie zu würdigen (1947), machen verständlich, warum Jaspers von der deutschen Theologie wenig rezipiert worden ist, obwohl er positiv in Jesus einen der "massgeblichen Menschen" sah. Das wird sich durch B.s Buch kaum ändern, aber es erhellt ein faszinierendes Kapitel deutscher Geistesgeschichte. Sein Wunsch im Schlusssatz, mit seiner Arbeit "das Interesse an der liberalen Idee einer individuell verantworteten Lebensführung wachzuhalten" ist sehr begrüßenswert. Es müsste vielleicht nicht einmal unbedingt die Philosophie von Karl Jaspers selber sein, die hier leitend werden könnte.