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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

921–923

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Martini, Britta

Titel/Untertitel:

Sprache und Rezeption des Kirchenliedes. Analysen und Interviews zu einem Tauflied aus dem Evangelischen Gesangbuch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 341 S. m. zahlr. Tabellen gr.8 = Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung, 38. Kart. Euro 46,00. ISBN 3-525-57207-7.

Rezensent:

Helmut Kornemann

Wer forschend, interpretierend oder praktizierend mit Kirchenliedern umgeht, auswählen, werten und vermitteln muss, wird den in den letzten Jahrzehnten häufiger zu hörenden Wunsch nach einem plausiblen Kriterienkatalog verstehen, der die eigenen Zugänge, Wertungen und Methoden überprüfbar macht. Allerdings scheint die Zeit dafür noch nicht gekommen. Vorerst müssen wir uns wohl darauf beschränken, den Reichtum an Aspekten zu vermehren. Dazu trägt die von Britta Martini vorgelegte Studie (eine im Februar 2000 von der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig angenommene Dissertation) hervorragend bei. Das Interesse der Vfn. galt der Tragfähigkeit linguistischer und sozialwissenschaftlicher Methoden zur Erfassung und Beschreibung der Rezeptionsweisen von Kirchenliedern, exemplarisch erprobt an dem von Friedrich Karl Barth (Gerhard Grenz) und Peter Horst geschaffenen und 1973 in der Agende "Gottesdienst menschlich" veröffentlichten "Tauflied" "Kind, du bist uns anvertraut ...", das zwar in den Stammteil des EG nicht aufgenommen wurde, inzwischen aber seinen Platz in einigen Regionalteilen und im Evangelisch-reformierten Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz gefunden hat.

In einem ersten Teil sammelt die Vfn. akribisch und phantasievoll mit Hilfe des von de Beaugrande/Dressler/Ulrich (Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1981) bereitgestellten "Handwerkszeugs" mögliche Textinterpretationen, semantisch und pragmatisch analysierend, mit einem Exkurs zu Merkmalen des "Gruppenliedes", kurz weitere Lieder des EG einbeziehend. Zusammenfassungen und Tabellen erleichtern die Wahrnehmung der komplizierten Materie. Die Frage nach der Theologie findet eine Antwort nur in der Feststellung großer Bedeutungsvielfalt und im Blick auf das Lied in der theologischen Vagheit.

Anregend ist das Aufspüren sog. Superstrukturen (nach Teun A. van Dijk), Traditionen, Muster und Formen, die Einfluss auf Inhalt und Form der erstellten Textgestalt haben. M. nennt für das Beispiellied: den belehrenden Grundgestus des Kirchenliedes, die narrative Struktur, das partnerschaftliche Erziehungsmodell und das Schema politischen Protestes. Die Anregung lässt sich weiterdenken und auch für die Rezeption (Bildungsvoraussetzungen, Sozialisationen, Kontext) sowie für die vorgelegte Studie geltend machen, z. B. im Hinblick auf das Bemühen der Vfn., wertungsfrei zu beschreiben, und auf ihr manchmal etwas verbissenes Traktieren der deutschen Sprache unter der Forderung, "gerecht" zu sein ("Ein Säugling ..., sie ...", 57). Am Ende wissen wir wieder einmal von sehr wenigem sehr viel bzw. wir wissen, dass es Menschen gibt, die von sehr wenigem sehr viel verstehen.

Ein zweiter Teil bietet Kommentare und Interviews zum Beispiellied. Er enthält Kommentare der Autoren, von Ernst Lippold und Dietrich Schuberth (Mitglieder des Ausschusses, der über Inhalt und Gestalt des EG zu befinden hatte), Friedrich Hofmann und Gertrud Dom. Sie werden referiert und im Licht der zuvor dargestellten Erkenntnisse analysiert.

Die eher ablehnenden Stellungnahmen kontrastieren hart zu den folgenden vier Interviews, deren Methode vorausgehend sorgfältig dargestellt wird. (Die Protokolle der Interviews sind der Studie als Anhang beigefügt.) Sie lassen sich - trotz der jeweils integrierten wissenschaftlichen Durchleuchtung und mancher Fragen an die sprachliche und sachliche Kompetenz- nicht lesen, ohne emotional berührt zu sein. Der Erkenntnisgewinn geht weit über das hymnologische Interesse hinaus. Gemeinsam ist ihnen ein anthropologisches Interesse, das in seiner Selbstverständlichkeit nicht weiter hinterfragt wird. Die Konsequenz ist, dass über die Bedeutung der Taufe nur im Bezug auf das Leben zwischen Geburt und Tod nachgedacht wird. Selbst die theologisch gebildeten Gesprächspartner und -partnerinnen denken über diese Grenzen nicht hinaus. Kein Wunder, dass das Beispiellied in seinen anthropologisch akzentuierten Zeilen durchweg positiv, in seiner einzigen explizit theologischen aber kritisch gesehen wird.

Ein bestimmender Reiz scheint von der Eingangszeile des Beispielliedes auszugehen. In ihr begegnen sich Erziehungsprinzipien, deren zunehmende Plausibilität von der Familienforschung bestätigt werden, und Deutungen des Taufrituals. Tatsächlich ist die Anvertrauung in den Taufordnungen immer vorhanden gewesen, allerdings an einer anderen Stelle, als sie die Autoren des Liedes vorschlagen, nämlich verborgen im Akt der Elternsegnung (früher Muttersegnung). Für die Interviewten freilich scheint die Bedeutung der Taufe nicht über die einer "feuchten Kindersegnung" hinauszugehen. Was für einen Eindruck haben da nur jahrhundertelange christliche Predigt, Katechese und Seelsorge hinterlassen, dass solche Wertungen (Gott sei Dank! offen und rückhaltlos) geäußert werden?

Die Interviews können wissenschaftlich gesehen nicht repräsentativ sein, dazu ist die untersuchte Basis quantitativ und qualitativ zu schmal. Ähnlich gerichtete EKD-Umfragen erweisen aber, dass es kein Fehler ist, ihnen einen hohen Grad von Repräsentativität zuzuerkennen.

Zweifellos transportieren Kirchenlieder Gottesbilder, Weltbilder und Menschenbilder (265). Aber jede Verständnisbemühung setzt auch solche Bilder voraus. Nach Selbstzweifeln sucht man vergeblich. Dass Kirchenlieder außer Textsorten auch Musikgattungen sind, spielt nur am Rande eine Rolle.

Was beabsichtigen die Autoren mit ihren Dichtungen und was wird von den Rezipienten in welcher Weise wahrgenommen? Diesen Fragenkreis reflektiert die Vfn. in einem dritten Teil unter der Überschrift: Fiktionalität und Nicht-Fiktionalität von Kirchenliedern. Die Zuordnung von Kirchenliedern in den Bereich des Fiktionalen (Dichtung/Lyrik) oder des Nicht-Fiktionalen (Gebrauchstexte/handlungsorientiert) hat Folgen für die Wahrheitserwartungen, die Art der Rezeption und die Behandlung ihrer Textgestalt. Dabei sind die Grenzen fließend, doch beachtenswert. Fiktionale Qualität ist (nicht nur Kirchenlieder betreffend) wohl kaum auf den Unterhaltungswert zu reduzieren. Poetische Wahrheit hat eigene Wirkung. Die nichtfiktionalen Anteile aber sind dem Wandel der Zeit unterworfen und die Besserwisser werden immer wieder von Besserwissern überholt. Was den Emittenten plausibel und daher mitteilenswert war, muss von den Rezipienten nicht in gleicher Plausibilität empfangen oder gebraucht werden. Nichtfiktionales kann als Fiktionales verstanden werden und - ungleich gefährlicher (s. Märchen) - auch umgekehrt. Aber auch wer die Handlungsanweisung distanziert zur Kenntnis nimmt, ist doch eingeladen, die Motive des Emittenten kritisch zu respektieren und in eigene Handlung zu übersetzen. Man wird jedenfalls annehmen dürfen, dass die poetische Wahrheit der Wahrheit des Glaubens nicht ferner steht als die Wahrheit der Aktion. Das alles weiß die Vfn. natürlich viel präziser und wissenschaftlicher zu referieren und zu formulieren.

In einer Schlussbetrachtung macht sich die Vfn. noch Gedanken über die Rubrizierung von Taufliedern in künftigen Gesangbüchern, wobei sie noch einmal unterstreicht, was für ihre gesamte Arbeit gilt: dass ihre Absicht allein war, zu erfassen und zu beschreiben, was existiert, nicht zu werten oder vorzuschreiben. Das soll gern ernst genommen werden. Aber ein wenig pädagogischen Eros wird man der Vfn. doch wohl ohne Beleidigung unterstellen dürfen. Damit und mit dem Angebot ihrer vielen neuen Aspekte wird sie im Diskurs der Hymnologen gebraucht. Schließlich hat sie zahlreiche Probleme und Fragen erweckt, die weiter bedacht und diskutiert werden müssen.