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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

919–921

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Hofmann, Peter

Titel/Untertitel:

Goethes Theologie.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2001. 542 S. gr.8. Kart. Euro 88,40. ISBN 3-506-73931-X.

Rezensent:

Helmut Zander

Goethe ist ein Theologe von eigenem Rang. Deshalb konnte er um 1900 zum Stifter einer vereinsmäßig organisierten Religion werden oder nach dem Zweiten Weltkrieg Trostliteratur in trostlosen Zeiten sein. Seitdem ist es still geworden um den Theologen Goethe - zu Unrecht, wie der katholische Theologe Peter Hofmann in seiner Habilitationsschrift zeigt. Denn H. identifiziert Goethes Platz in einem Spannungsfeld, das aus der aktuellen Religionssoziologie stammen könnte: Goethe zähle sich weder zu den kirchlichen Christen noch zu ihren Gegnern, sondern pflege ein Christentum zum privaten Gebrauch, er erscheint als irenischer Eklektiker, der nur die orthodoxen aller Lager zu seinen Feinden zähle und einen "nachchristlichen Glauben" sein eigen nennen.

H. gründet seine Deutung auf Goethes philosophische Tiefengrammatik, auf die Verhältnisbestimmung von Gott und Natur, womit er zwingend in die Debatte um Pantheismus und Atheismus und um die Spinoza- und Schellingrezeption Goethes gelangt. Goethe habe zwar, so H., die christliche Schöpfungstheologie nach dem Bruch mit seinem Jugendglauben verworfen, aber nie einem platten Spinozismus gehuldigt. Vielmehr konzipiere er einen eigenständigen Entwurf, Gott in der Natur zu sehen, ihn in seinen Wirkungen zu erkennen und den Menschen als Ausdruck Gottes zu sehen, ohne ihn mit Gott identisch werden zu lassen. Goethe dürfe als Kosmologe und Anthropologe nicht leichthin mit einem pantheistischen Etikett behaftet oder von der kreationistischen Schöpfungslehre her abgewertet werden.

Der hermeneutische Schlüssel zu Goethes Weltbild liegt in seinen epistemologischen Entscheidungen, die H. in einer dichten Interpretation der Auseinandersetzung Goethes mit Kant (sowie sekundär mit Fichte, Schelling und Hegel) offenlegt. Dabei macht H. deutlich, dass nicht erst die berühmte Begegnung mit dem Kantianer Schiller am 20. Juni 1794 die "Konversion" eines vorkritischen Goethe zum Königsberger Philosophen begründete, sondern nur seine philosophische Kritik schärfte. Goethe sekundierte Kant, dass es unmöglich sei, das Wesen der Natur erkennen zu können, aber er beharrte darauf, dass es gleichzeitig unmöglich sei, darüber zu schweigen. Hier liegt das "offenbare Geheimnis" einer Erkenntnistheorie zwischen naiver Unmittelbarkeit und kritizistischem Weltverlust - und Goethe wusste sehr wohl, dass ihm Kants Wende in der zweiten Auflage der Kritik der einen Vernunft entgegenkam. H.s Rekonstruktion dieses Goetheschen Zentrums sowie die Anwendung auf die Farbenlehre sind Beiträge zur Goetheforschung auf hohem philosophischen Niveau. Sie bilden den Ausgangspunkt jeder weiteren Beschäftigung mit dem theologischen Denken Goethes und regen an, die Möglichkeiten eines theologischen Gesprächs mit den heutigen "Spinozisten" in Esoterik oder Naturphilosophie auszuloten.

Aber Goethe forderte mehr. Weil er seine Natur sehend und schauend verehrte, regt Hofman an, mit dem Augentheologen Goethe die Welt als ästhetische Offenbarung zu akzeptieren und sich nicht auf Schrift oder Glauben oder Tradition zurückzuziehen. Hier scheint Goethes "häretisches" Potential manifest zu werden. Aber vor einem solchen Verdikt müssten Theologen zuerst einmal das "ausgeliehene" Buch der Natur in ihren dogmatischen Bücherschrank zurückstellen.

H. sucht im zweiten Teil seiner Arbeit den genuin theologischen Dialog mit Goethe und zeichnet deshalb Loci der theologischen Enzyklopädie als Positionen Goethes nach, etwa im Religionsbegriff oder in der Christologie. Doch überraschenderweise befriedigt H. hier überhaupt nicht, weil er Goethes "theologische" Positionen nur kursorisch darstellt. Die Christologie etwa ist auf wenige, wenngleich wichtige Stellen reduziert, während Goethes eschatologische Vorstellungen, um ein anderes Beispiel zu nennen, allenfalls in Trümmern vorkommen. Dadurch wird, im Gegensatz zum Versprechen des Titels, Goethes Theologie gerade nicht sichtbar.

Weil aber der "Theologe" Goethe nicht ausgiebig zur Sprache kommt, bleibt die fundamentaltheologische Schlussreflexion anämisch. Es mag zuviel verlangt sein, das "Lernen" von Goethe, wie H. es fordert, und die Belastbarkeit von Goethes "nachchristlicher" Position an konkreten naturphilosophischen Positionen oder neuer Kosmosfrömmigkeit durchzubuchstabieren. Aber H.s prinzipientheologische Debatte bleibt unbefriedigend. Rudolf Bultmanns und Karl Barths Verdikte über die natürliche Theologie mit dem Hinweis auf die gemeinsamen Erkenntnisgegenstände von Natur und Offenbarung zu beantworten oder die Natur als Selbstoffenbarung Gottes zu deuten, holt die Differenziertheit der Reflexionen Goethes nicht ein. Die Forderung schließlich, Hans Urs von Balthasars Goetherezeption als theologisches Programm zu rekonstruieren oder die anregende, aber essayistische Schlußbetrachtung zu Goethes Dialektik von Anschauung und Schweigen ersetzen keine adäquate eigene Antwort H.s.

Leider ist die Diskrepanz zwischen der theologischen Dignität des Schauens bei Goethe, von der H. beständig spricht, und dem Schaubild, das H.s Buch bietet, dramatisch: Hunderte von Umbruchfehlern, dazu Druck- und Trennungsfehler führen das Ideal der Korrespondenz von Form und Inhalt ad absurdum. Zudem hätte dem Text ein konzentriertes Lektorat gut getan. Allzu viele Wiederholungen von Zitaten und Gedanken sowie eine mäandernde Darstellung machen H.s kluge Überlegungen zu einer mühsamen Lektüre. Um das Maß voll zu machen, waren weder Verlag noch Autor in der Lage, diesem Thesaurus des Wissens ein Register beizugeben.