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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

912–917

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913). Hrsg. v. T. Rendtorff in Zusammenarb. mit St. Pautler.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. XVI, 474 S. gr.8 = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 8. Lw. Euro 178,00. ISBN 3-11-017156-2.

Rezensent:

Hermann Fischer

Das editorische Großunternehmen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Troeltschs schreitet fort (vgl. zu den Prinzipien dieser Edition die Besprechung des zuerst erschienenen Bandes 5 "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte [1902/1912]", ThLZ 125 [2000], 805-810). Neben dem hier vorzustellenden Band ist 2002 bereits Band 15 erschienen: "Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918- 1923)", hrsg. v. Gangolf Hübinger in Zusammenarb. mit Johannes Mikuteit (Besprechung erfolgt demnächst). Jetzt geht es um Band 8 der Ernst Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe mit einigen grundlegenden Studien T.s.

Die Reihe der hier vereinigten 8 Publikationen wird eröffnet mit dem großen Aufsatz "Luther und die moderne Welt" (1908), der jetzt nach der verstümmelten Fassung in dem von Hans Baron besorgten Bd. 4 der Gesammelten Schriften Troeltschs (1925) wieder in seiner ursprünglichen Gestalt zum Abdruck kommt (59-97). Es folgen (101-107.111-117.126- 141) einige aus Anlass des 400. Geburtstages von Calvin (10.7. 1909) verfasste Beiträge: "Calvinismus und Luthertum" (1909), "Die Genfer Kalvinfeier" (1909) und "Calvin and Calvinism" (1909). Dazu kommt die ausführliche, unter dem Titel "Die Kulturbedeutung des Calvinismus" erschienene Auseinandersetzung T.s mit den kritischen Einwänden von Felix Rachfahl, die dieser gegen Max Webers berühmte Abhandlung "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" und gegen T.s Rezeption der in dieser Abhandlung vertretenen Positionen erhoben hatte (146-181). Erst an 6. Stelle (199-316) folgt T.s erstmals 1906 publizierte, 1911 in zweiter Auflage erschienene Studie über "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" und - quasi als Anhang dazu - das Vorwort ("Preface") zur englischen Übersetzung dieser Abhandlung (320 f.), die 1912 unter dem Titel "Protestantism and Progress" erschienen war. Abgeschlossen wird die Edition mit T.s Vortrag "Renaissance und Reformation" (329-373), den er am 21.12.1912 in der Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gehalten und 1913 in der "Historischen Zeitschrift" veröffentlicht hatte. Im "Anhang" wird noch ein Bericht über den von T. 1906 auf dem Stuttgarter Historikertag gehaltenen Vortrag über "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" abgedruckt (375-377).

Der Band bietet also Studien von unterschiedlichem Gewicht, aber thematisch werden sie zusammengehalten durch die prinzipielle Fragestellung nach der "Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt". Die Texte sind wieder mustergültig ediert, die Anspielungen, Zitate und Bezugnahmen auf Diskussionsbeiträge anderer werden ausführlich belegt und kommentiert, so dass sich der Leser ein genaues Bild über die Debattenlage verschaffen kann, die den Hintergrund der Arbeiten bilden. Dem Band sind - wie schon in Band 5 - vorzüglich gestaltete "Biogramme" beigegeben (379-398). Ein Literaturverzeichnis der von T. selbst angeführten und der von den Herausgebern genannten Literatur (399-410.410-428), ein Personenregister (429-433), ein breit angelegtes Sachregister (435- 467) und eine Seitenkonkordanz zur ersten und zweiten Auflage von "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" erschließen und beschließen den Band.

Der wichtigste Beitrag ist T.s auf dem Stuttgarter Historikertag 1906 gehaltener und inzwischen als klassisch geltender Vortrag "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt". Er ist 1906 in der "Historischen Zeitschrift" und gleichzeitig als gesonderte Publikation erschienen und hat sofort eine leidenschaftliche Diskussion ausgelöst. Die Wirkung des Vortrages geht auf diese erste Fassung von 1906, die schon alle wesentlichen Einsichten enthält, zurück, nicht auf die erweiterte Gestalt von 1911. Insofern leuchtet seine jetzige, an der zweiten Auflage orientierte chronologische Platzierung nicht ein (dazu unten mehr).

1906 hatte T. seine große Abhandlung "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" publiziert und hier u.a. die These vertreten, dass die Reformation keine einfache Erneuerung des Urchristentums darstelle, Luther vielmehr mit seinem Werk im Wesentlichen Themen und Probleme behandelt, die ihm durch das Mittelalter gestellt waren. Insofern gehört die Reformation - sieht man von der Auflösung des Sakramentsbegriffes ab - dem Mittelalter an, stellt "eine zweihundertjährige gewaltige Nachblüte des Mittelalters" dar. Aus dieser geistes- und kulturgeschichtlichen Zuordnung folgt die durch T. eingebürgerte Unterscheidung zwischen dem "Altprotestantismus" des 16. und 17. Jh.s und dem sich im Zuge der Aufklärung formierenden "Neuprotestantismus" seit dem 18. Jh.

Diese Einsichten bilden die Voraussetzung für die Thesen des Vortrages von 1906, sie werden nun aber zugespitzt auf die Frage nach der "Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt". Obwohl der Altprotestantismus einerseits die Tradition der mittelalterlichen Kulturidee, d. h. die Vorstellung von einer kirchlich geleiteten und wenn nötig mit Zwang durchgesetzten Einheitskultur, fortführt, hat "der Protestantismus durch die Zerbrechung der Alleinherrschaft der katholischen Kirche die Kraft der kirchlichen Kultur trotz vorübergehender Wiederbelebung überhaupt gebrochen" (247). Insofern lässt sich der dem "konfessionellen Zeitalter" des 16. und 17. Jh.s - also weder dem Mittelalter noch der Neuzeit - angehörende Altprotestantismus als Rückfall und als Öffnung für neue kulturelle Tendenzen würdigen. Das illustriert T. an der Wirkung des Protestantismus auf die Gestaltung des Familienlebens, des Rechts, des Staates, der Gesellschaft, des wirtschaftlichen Lebens, der Wissenschaft und der Kunst. Nicht zuletzt würdigt er den Beitrag speziell des reformierten Protestantismus zur Entwicklung der Idee der Menschenrechte und der Gewissensfreiheit. Aber, so die geschichtshermeneutische Doppelthese: Der Protestantismus hat nicht durch direkte Neubildungen zur Gestaltung der modernen Welt beigetragen, seine Bedeutung besteht "großenteils in indirekten und in unbewußt hervorgebrachten Folgen, ja geradezu in zufälligen Nebenwirkungen oder auch in wider Willen hervorgebrachten Einflüssen" (246). Insofern gilt: "Aus der kirchlichen Kultur des Protestantismus kann kein direkter Weg in die kirchenfreie moderne Kultur führen" (232 f.). Erst nachdem mit der Aufklärung die alten Fesseln der kirchlichen Zwangskultur gesprengt waren, konnten sich die in die Zukunft weisenden Ansätze des Protestantismus frei entfalten.

Es ist klar, dass T. mit diesen Aufstellungen neben mancher Zustimmung Stürme der Entrüstung ausgelöst hat, wie das die kontrovers geführte Diskussion nach der Publikation des Vortrages bezeugt. Der Vorzug dieser berühmten Studie ist zugleich ihre Schwäche. T. schlägt mit seiner Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus und mit seiner Bestimmung des "konfessionellen Zeitalters" Schneisen in ein komplexes Geflecht historischer Entwicklungen und bietet große Durchblicke, die einen die historischen Tatsachen neu sehen und zuordnen lassen. Zu Recht weist er darauf hin, dass der Protestantismus mit der Grundlegung eines religiösen Individualismus und seiner "Überleitung in die Breite des allgemeinen Lebens ... an der Hervorbringung der modernen Welt erheblich mitbeteiligt ist" (223). Aber er verzichtet darauf, seine Einzelurteile exemplarisch am historischen Detail zu bewähren und sie mit gegenläufigen Tatbeständen zu vermitteln, und das macht ihn verwundbar. Seine These vom 200-jährigen Weiterwirken der kirchlichen Zwangskultur des Mittelalters auch im Altprotestantismus (vgl. dazu u. a. 225- 227.235 f.) ist für eine differenzierte Wahrnehmung der vielschichtigen historischen Tatbestände viel zu grobmaschig.

T. hat das selbst empfunden und schon in seiner 1908 veröffentlichten Abhandlung "Luther und die moderne Welt" (1908) neue Akzente gesetzt, obwohl er an seiner Grundüberzeugung festhält, "daß die konfessionelle Epoche der europäischen Geschichte, das Zeitalter der sogenannten Gegenreformation, fast einen Rückfall in das Mittelalter und seine kirchliche Zwangskultur bedeutet" (66). Er spürt in diesem Aufsatz den "Gegenwartskräften" in der Gestalt und in der Theologie Luthers nach und meint, es gelte "hinter die Einzelformulierungen auf das Ganze der religiösen Grundstellung zurückzugehen und das herauszuholen, was über die altprotestantische kirchliche Rechtgläubigkeit und konfessionelle Kultur hinüberreicht in die Gegenwart" (66.69). Das wird an der Konzeption einer geistigen Glaubensreligion bei Luther, dem religiösen Individualismus, der damit verbundenen Gesinnungsethik und schließlich an der dem weltflüchtigen Mönchsideal entgegengesetzten Weltoffenheit verdeutlicht und auf die gemeinsame Wurzel der Luther eigentümlichen Gottesidee zurückgeführt (77). Die neue Botschaft lautet: "Gott ist in Wahrheit nichts als Gnade, auch da, wo er richtet und verurteilt" (81). Aber T. zufolge konnte sich dieser neue Gottesgedanke durch Luthers Festhalten an der Erbsündenlehre ebensowenig frei entfalten wie das Verständnis der Glaubensreligion "durch Rückfälle Luthers in die katholische Sakramentslehre" (83). So gilt auch hier für diese neuen Prinzipien, dass sie erst in schweren Kämpfen im Zeitalter der Aufklärung zu ihrer modernen Ausformung gefunden haben (89).

Wie die Herausgeber in ihrer luziden Kommentierung des Arbeitsprozesses aufweisen (30 f.120-123), konnte T. sich für seine Calvin-Studien auf die im Entstehen begriffenen "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" stützen, wobei sich nicht bis ins Letzte klären lässt, wie die Anregungen verlaufen sind - ob von den "Soziallehren" zu den Einzelstudien oder umgekehrt. T. deutet u. a. den Calvinismus als "Tochterkirche des Luthertums" (111), in den "Soziallehren" erscheint er als "Tochterreligion des Luthertums" (Ges. Schr. I, 609), und die englische Fassung "Calvin and Calvinism" eröffnet T. mit dem Satz: "Calvinism stands to Lutheranism as daughter to mother" (126). Trotz dieser Abhängigkeit deutet T. den Calvinismus - wie schon in den beiden einschlägigen Arbeiten "Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" und "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" - als den weltgeschichtlich wirksameren Zweig der Reformation, der mit der Prädestinationslehre Calvins den Quietismus des Luthertums beseitigt hat (114). Nach T.s Verständnis, für das er sich auf wesentliche Einsichten Max Webers und die Studie von Georg Jellinek über "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" (1895, 21904) stützt, hatte der Calvinismus "von seinen Ideen aus die Möglichkeit, auf die großen politischen und wirtschaftlichen Entwickelungen der westlichen Welt einzugehen, die demokratischen, modern staatsrechtlich-politischen und die modernen wirtschaftlich-fortschrittlichen Prinzipien sich anzueignen. Sein wesentlichster Unterschied gegen das Luthertum mit seiner antidemokratisch-absolutistischen Staatsgesinnung, seiner Nichtresistenz und Gehorsamsverklärung, seiner wirtschaftlich-traditionalistischen Haltung und seiner Verherrlichung des gegebenen Systems ständischer Berufsgliederungen liegt an diesem Punkte" (101). Das ist die Interpretationsperspektive, die die Deutung des Calvinismus in diesen Studien, in der Auseinandersetzung mit der Kritik Felix Rachfahls und in den späteren "Soziallehren" leitet.

Auch für den an letzter Stelle publizierten Beitrag über "Renaissance und Reformation" (mit den handschriftlichen Marginalien T.s) gilt, dass seine Vorzüge zugleich seine Schwäche dokumentieren. Hintergrund dieser Studie ist T.s Überzeugung von dem erst mit der Aufklärung eingeleiteten Entstehen der modernen Welt und Kultur. Gegen die auf Hegel zurückgehende und danach u. a. von F. Chr. Baur, J. Burckhardt und W. Windelband vertretene These, nach der Renaissance und Reformation zusammengehören und sich am krisenreichen Ausgang der katholisch-kirchlichen Kultur des Mittelalters auf dem Weg in die Moderne zueinander verhalten wie weltliche und religiöse Renaissance (vgl. 329-334), stellt T. die Frage, ob nicht gerade die Unterschiede und Gegensätze zwischen beiden Bewegungen universalgeschichtlich viel stärker ins Auge fallen (335). Einen wesentlichen Unterschied sieht T. darin, dass "die Renaissance soziologisch völlig unproduktiv" gewesen sei. "Sie ist anarchistisch und aristokratisch in ihren engsten Kreisen und lehnt sich im übrigen an die bestehenden Mächte in Staat und Kirche völlig unselbständig an." Demgegenüber hat die Reformation in soziologischer Hinsicht eine außerordentlich wirksame Energie entfaltet (349). T. bestreitet die vor allem von J. Burckhardt für die Renaissance behauptete Entdeckung des Individuums. "Der Geist der Renaissance ist jedenfalls mit dem Ausdruck Entdeckung des modernen Individualismus für den Gesamtumfang der Bewegung nicht richtig und für den hierbei gemeinten Höhepunkt, die Hochrenaissance, nicht erschöpfend" (339 f.). Insofern gibt es hier auch keine Anknüpfungspunkte für den "spezifisch moderne[n] Individualismus mit seiner rationalistischen und ethischen Autonomie" (340). T. leugnet nicht manche Gemeinsamkeiten zwischen Renaissance und Reformation, z. B. beider Forderung zum Rückgang auf die sprachlichen Quellen der Bibel hier, der antiken Schriftsteller dort, auf den Kern gesehen handelt es sich aber um ganz unterschiedliche Bewegungen. Sie repräsentieren "die Spaltung der europäischen Kultur in ihre Hauptbestandteile, die Scheidung des christlich-überweltlich-asketischen Elementes von dem antik-innerweltlich-humanen Element" (359).

T. verspielt allerdings den Gewinn solch einer produktiven Deutungsperspektive, indem er sich wieder zu ganz globalen Aussagen verleiten lässt, die eine differenzierte Beurteilung der historischen Tatbestände mehr blockiert als fördert. So behauptet er z. B., es sei nicht verwunderlich, "daß die Renaissance gerade erst in dieser [zuvor dargestellten] Amalgamierung mit dem Katholizismus der Gegenreformation ihre große welthistorische Durchsetzung und Ausbreitung gefunden hat" (362). Diese Kombination von Renaissance und Kultur der Gegenreformation trifft aber schon für die italienische Renaissance nicht zu, denn die großen Architekten, Bildhauer und Maler von Brunelleschi (1376-1446) über Donatello (1386- 1466), Masaccio (1401-1428), Leone Battista Alberti (1404-1472), Bramante (1444-1514), Botticcelli (1445-1510) bis zu Leonardo da Vinci (1452-1519) und Raffael (1483-1520) wirken vor der Reformation (oder erleben höchstens noch deren Anfänge). Das Gleiche gilt für den Kreis von Renaissance-Humanisten am Hofe von Cosimo de'Medici (1389-1464) und Lorenzo Il Magnifico (1449-1492) in Florenz, dem u. a. so bedeutende Denker wie Marsilio Ficino (1433-1499), Angelo Poliziano (1454- 1494) und Pico della Mirandola (1463-1494) angehörten, es gilt auch für Laurentius Valla (1407-1457) oder Gianozzo Manetti (1396-1459) mit seiner wirkungsreichen Abhandlung De dignitate et excellentia hominis.

Die Namen dieser Philosophen tauchen in T.s Abhandlung überhaupt nicht auf. Stattdessen forciert er seine These noch weiter und behauptet, "daß die nächststarke Aufnahme und Amalgamierung der Renaissance in demjenigen protestantischen Staats- und Kirchentum erfolgte, das dem Katholizismus am nächsten geblieben war, in dem anglikanischen Absolutismus der Tudors und Stuarts" (363). Damit werden nun sogar Denker wie Francis Bacon oder Dichter wie Marlowe und Shakespeare quasi gegenreformatorisch vereinnahmt, zumindest kirchlich eingehegt, wenn es von ihnen heißt, sie seien (wohl nur) "bei einem christlichen Publikum und einem sehr kirchlichen Hofe möglich" gewesen (363). Mit Bezug auf Max Wolffs Shakespeare-Biographie meint T. den Hinweis geben zu müssen, "wie schroff kirchlich sowohl Elisabeth als Jacob II. gewesen sind" (363, Anm. 18). Hier machen die Herausgeber dankenswerterweise darauf aufmerksam, dass nach Wolffs Biographie von einer schroffen Kirchlichkeit bei Elisabeth schwerlich die Rede sein könne (363, Anm. 38). Wie wenig haltbar diese und ähnliche Thesen T.s sind, kann man indirekt auch dem Zeugnis Eberhard Gotheins entnehmen, eines Gelehrten, mit dem T. in Heidelberg verbunden war und auf dessen Studien zur Renaissance er sich in seinem Artikel beruft (362, Anm.17). Wie die Herausgeber in ihrer Kommentierung mitteilen, war Gothein vom Sekretär der philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Wilhelm Windelband, gebeten worden, ein halbes Jahr nach T. einen Akademie-Vortrag zu einem bedeutsamen historischen Thema zu halten. Er antwortete dem Präsidenten, er hätte einen solchen Vortrag "auf Lager, einen Anti-Tröltsch, d. h. eine fast durchaus dem neulichen Akademievortrag Tröltsch's entgegengesetzte Darstellung des Verhältnisses von Renaissance, Reformation und Gegenreformation ... Denn unser verehrter Freund und Kollege ist zwar ein ausgezeichneter Kenner und Darsteller der Reformation[,] aber von der Renaissance und auch von der Gegenreformation hat er doch nur recht schiefe Vorstellungen". Gothein hat dann auf diesen "Anti-Troeltsch" verzichtet, um nicht im eigenen Hause einen Streit vom Zaun zu brechen (323 f.). T. hatte wohl selbst ein gewisses Unbehagen an den Vorbereitungen für seinen Vortrag, denn in einem Brief an F. Meinecke vom 17.12.1912 räumt er ein, dass er seine Darlegungen wegen starker anderweitiger Beschäftigung "sehr rasch in diesen Tagen ohne viel Studien niederschreiben" müsse und die Abhandlung "mehr Zergliederung und Räsonnement als Forschung" enthalte (325). Trotz der offenkundigen Schwächen verdanken wir dem Aufsatz aber - gerade in universalhistorischer Perspektive - wichtige und anregende Beobachtungen zu den Unterschieden von Renaissance und Reformation.

Damit sind diese interessanten und nach wie vor spannend zu lesenden Abhandlungen T.s in Kürze vorgestellt. Die Texte werden überzeugend in chronologischer Fassung geboten. Deshalb ist es, wie schon kurz angedeutet, wenig einleuchtend, gerade für den Hauptbeitrag des Bandes, "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt", von der strikten Chronologie abzuweichen und für das Ordnungsprinzip der zweiten Auflage von 1911 zu folgen. Dieser Beitrag hätte an die Spitze des Bandes gehört, dies durchaus mit der Dokumentation der Erweiterung, die er 1911 erfahren hat. Diese Inkonsequenz wäre nach meiner Meinung leichter zu akzeptieren gewesen als die jetzige.

Nicht nur die Chronologie und die Wirkungsgeschichte hätten diese veränderte Platzierung nahegelegt, sondern auch der Umstand, dass T. in den zeitlich folgenden Publikationen wiederholt auf seinen Vortrag von 1906 zurückverweist. Das geschieht gleich in dem jetzt an erster Stelle veröffentlichten Beitrag "Luther und die moderne Welt" (hier: 95; schon bei der Ankündigung des Vortrages wird auf T.s "Aufsehen erregenden Vortrag" von 1906 aufmerksam gemacht, hier: 53) und wiederholt sich (vgl. 149, Anm. 1). Die Herausgeber bekunden auch insofern ein deutliches Gespür für die zeitliche und sachliche Rangfolge der Abhandlungen, als sie in ihrer glänzend geschriebenen "Einleitung" (1-52) an erster Stelle auf den Entstehungshintergrund und die Hauptgedanken des Vortrages von 1906 eingehen, so dass sich auch von daher die chronologische Einordnung nach der ersten und nicht nach der zweiten Auflage nahegelegt hätte.

Es gäbe noch manche Fragen, etwa zur möglichen Ergänzung des Bandes durch den sachlich gut zu ihm passenden Beitrag T.s über "Luther und der Protestantismus" (1917). Auf S. 32, Z. 23 f. v. o. ist der Text fehlerhaft. Aber solche Fragen und einige kritische Erwägungen fallen nicht ins Gewicht angesichts dieses reichen und editorisch wieder vorzüglich betreuten Bandes, und man wünscht dem Unternehmen einen weiterhin so guten Fortgang.