Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2003

Spalte:

910–912

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Meyer, Dietrich, u. Udo Sträter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zur Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts. Beiträge eines Symposiums zum Tersteegen-Jubiläum 1997.

Verlag:

Köln: Rheinland 2002. XVII, 350 S. 8 = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 152. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-7927-1828-6.

Rezensent:

Angelika Dörfler-Dierken

Im Jahre 1697 wurde der reformierte Pietist und Mystiker Gerhard Tersteegen in Moers geboren. Anlässlich seines 300. Todestages fragte ein Kreis von historisch arbeitenden Theologen im Rahmen eines im Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung in Halle abgehaltenen Symposiums danach, inwiefern seine Rezeption mystischer Traditionen in der Linie reformatorischer Theologie steht. Die Anlage der Veranstaltung greift weit über Tersteegen hinaus, wie der Titel des Sammelbandes schon andeutet. Um des Anlasses willen, des forschenden Erinnerns an den niederrheinischen Mystiker, seien im Folgenden zuerst die auf seine Person und Theologie bezogenen Aufsätze knapp vorgestellt.

Ein Teil von ihnen beschäftigt sich mit dem Begriff der Erfahrung und der Rolle der Vernunft, die vom 17. Jh. an in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie gleichermaßen an Bedeutung gewannen. So sind zwei Beiträge Pierre Poiret gewidmet - einem Autor, dem Tersteegen vieles verdankt: Gustav A. Krieg beschreibt in "Das marginale Ich. Religiöser Eklektizismus und religiöses Subjekt bei Pierre Poiret" (149-176) den niederländischen Individualisten als Biographen, der die cartesianische Wende zum Subjekt theologisch vollzogen hat. Er "vermag sich [...] als individuelles Ich am Ende selbst zu marginalisieren" (171). Marjolaine Chevallier betont in "Pierre Poiret et la mystique" (177-202) die sachliche Verbindung zwischen Poirets Reinigungsvorstellung und der pietistischen Vorschaltung der Bekehrung vor Rechtfertigung und Wiedergeburt. Dietrich Meyers Untersuchung "Cognitio Dei experimentalis oder Erfahrungstheologie bei Gottfried Arnold, Gerhard Tersteegen und Nikolaus von Zinzendorf" (223-240) beschreibt einerseits den Erfahrungsbegriff als grundlegend für Pietismus und Mystik, erläutert aber andererseits, dass die drei Autoren jeweils Unterschiedliches meinten, wenn sie von Erfahrung sprachen. Den Mystikbegriff Tersteegens hat Hansgünter Ludewig mit "Gerhard Tersteegen als evangelischer Mystiker" (241-282) ausgeleuchtet. Er stellt heraus, dass dieser sich keineswegs in die Reihe der Mystiker einordnete, wohl weil er sie mysteriös (im Sinne von abgehoben, intellektualistisch) und unbiblisch fand. In die Kreuzesnachfolge führen dagegen nach Tersteegen Jesusbetrachtung und Herzensgebet. In "Tersteegens Predigten" (283-304), die Gustav Adolf Benrath untersuchte, stehen Gnade, Bekehrung und Heiligung - jeweils erwecklich ausgelegt - im Mittelpunkt. Eine Rezeption mystischer Theologumena ist hier dagegen nicht zu beobachten. Gerade der Prediger Tersteegen ist aber von tiefgehenderem Einfluss auf die Erweckungsbewegung des 19. Jh.s gewesen als der Mystiker. Beeinflusst von Tersteegen wurden auch angloamerikanische Erweckungstheologen: J. Steven O'Malley zieht in "Gerhard Tersteegen und John Wesley im Zusammenhang ihrer Welt" (305-312) diesen Rezeptionsstrang aus. Horst Weigelt untersucht die Rezeption Tersteegens in der römisch-katholischen Allgäuer Erweckungsbewegung in "Johannes Evangelista Goßner und Tersteegen" (313-328) und Klaus vom Orde stellt die Druckgeschichte der Werke Tersteegens im 19. Jh. abrisshaft dar in "Die Rezeption der mystischen Tradition in der Nachfolge Gerhard Tersteegens" (329-338).

In eher assoziativ-lockerer Verbindung zu Tersteegen stehen die Untersuchung von Hartmut Rudolph "Evangelische Reform, Naturmystik und medizinische Theologie. Zum Erbe des Paracelsus" (25-40) und diejenige von Volker Wappmann "Dem Licht entgegen" (113-128) zu dem christlichen Kabbala-Forscher und Sulzbacher Hofkanzleirat Knorr von Rosenroth.

Die Fragen nach Tersteegen wurden eingebettet in die weitergehende Fragestellung nach dem Verhältnis von (mittelalterlicher) Mystik und Pietismus. Diese allgemeine Fragestellung kann schnell ein Stück weit eingegrenzt werden: Unschwer ist zu beobachten, dass eine eher affektive denn intellektualistische Ausprägung der Mystik, eine Traditionslinie, die "auf Erweckung des inneren Menschen mit all seiner Schuld abziel[t]" (Dietrich Meyer, Einleitung, VIII f.), von den Pietisten übernommen und weiterentwickelt wurde. Die Rezeption gerade dieser Tradition eröffnete dem seiner Subjektivität bewusst gewordenen Menschen des 17. Jh.s neue Ausdrucksmöglichkeiten für seine religiöse Erfahrung jenseits der orthodox-kirchlichen Predigtsprache. Die zeittypische Betonung der Erfahrung macht verständlich, warum viele Pietisten vom reformatorischen sola gratia ein Stück weit abrückten oder zumindest abgerückt zu sein scheinen und die Bekehrung der Rechtfertigung vorschalteten.

Sachlicher Ausgangspunkt für diese Perspektive ist eine erstmals 1990 geäußerte These von Johannes Wallmann, die er 1994 in dem Aufsatz "Bernhard von Clairvaux und der deutsche Pietismus" (hier wieder abgedruckt, 1-23) der Fachöffentlichkeit bekannt gemacht hat. Der Kirchengeschichtler behauptet, nicht der Pietismus habe die Mystik des Mittelalters beerbt, sondern vielmehr die lutherische Orthodoxie. Widerlegt wird hier Albrecht Ritschls wirkungsmächtige Behauptung, der Pietismus sei aus der mittelalterlichen Mystik herzuleiten, insbesondere aus Bernhards Jesusfrömmigkeit. Nach Wallmann ist der Einfluss Bernhards auf den Hauptstrom des kirchlichen Pietismus (Arndt, Spener, Francke und ihre Württemberger Geistesverwandten) "vergleichsweise gering" gewesen. "[U]ngleich stärker" sei er dagegen "auf das nichtpietistische, orthodoxe Luthertum" (3) gewesen. Diese These begründet Wallmann nicht nur aus den Quellen, sondern auch entwicklungsgeschichtlich aus Ritschls geistiger Entwicklung und der Geschichte seines Werkes heraus. In seinem zweiten Beitrag zu diesem Aufsatzband "Philipp Jakob Spener und die Mystik" (129-148) kommt Wallmann zu dem Schluss, dass Ritschls Urteil von der Mystikferne Speners aufrecht zu erhalten sei. In Hans Schneiders Beitrag "Johann Arndt und die Mystik" (59-90) wird dagegen in Anlehnung an die unter dem Titel "Verborgene Weisheit" im Jahr 2001 gedruckte Dissertation Hermann Geyers die Wallmanns Darlegungen entgegengesetzte These vertreten, dass Arndt nur als Vertreter einer alternativen, einer mystischen theologia sincerior angemessen zu würdigen sei. Arndt wird hier in die Reihe der Mystikfreunde unter den kirchlichen (Früh-)Pietisten eingeordnet; die Grenzen zu den unkirchlichen Pietisten und ihrem Verständnis mystischer Traditionen werden fließend.

Nach Peter C. Erbs Aufsatz "Gottfried Arnold's Defense of Mystical Theology" (203-222) war dieser Radikalpietist unbezweifelbar ein mystischer Theologe. Auch Elke Axmacher unterscheidet in ihrem Beitrag "Meditation und Mystik bei Martin Moller" (41-58) typologisch zwischen der Mystik-Rezeption des orthodoxen Lutheraners und derjenigen der Pietisten. Sie beobachtet ein Phänomen, das eine Einschränkung der These Wallmanns gebietet: Moller stuft in seinen Übersetzungen die geschilderten mystischen Erfahrungen herab "auf die Ebene eines bloß andächtigen Denkens an Gott" (49), korrigiert seine Vorlagen theologisch und passt sie sprachlich an die Luthersprache an. Damit habe er die orthodoxe Lehre in neuer Sprache "ins Leben gezogen" und der Entwicklung religiöser Subjektivität Hebammendienste geleistet. Letzteres beobachtet ebenfalls Christian Bunners in seinem stark forschungsgeschichtlich ausgerichteten Aufsatz "Mystik bei Heinrich Müller" (91-112). Die Diskussionen zwischen den Vertretern der bisher dargestellten Positionen würde der Leser gerne dokumentiert sehen.

Der gehaltvolle Band bietet zahlreiche interessante Einzelbeobachtungen, die in künftigen Forschungen gewiss aufgenommen und weiterentwickelt werden. Dietrich Meyers, seine Einleitung (VII-XVII) abschließende Feststellung, dass "Sprache und Praxis der Mystik im Dienst einer lutherisch orthodoxen Frömmigkeit stehen können", ist wohl kaum zu widersprechen.