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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

907–909

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dellsperger, Rudolf

Titel/Untertitel:

Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte der reformierten Schweiz: Ereignisse, Gestalten, Wirkungen.

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien: Lang 2001. 337 S. m. 1 Abb. 8 = Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie, 71. Kart. Euro 52,20. ISBN 3-906766-53-5.

Rezensent:

Daniel Bolliger

Fünf volle Jahrhunderte umfasst diese Sammlung von fünfzehn 1978 bis 2000 erschienenen Einzelstudien: 1497 wurde der Augsburger und Berner Reformator Musculus geboren, dessen Biographie erstmals im eingangs neu gedruckten Beitrag in Grundzügen dargelegt wurde, 1996 fand die Feier zum vollendeten fünften Dezennium der bernischen reformierten Kirchenverfassung statt, der sich der Schlussaufsatz verdankt - und jedes Jh. zwischen diesen Eckdaten ist durch mindestens zwei Beiträge vertreten. Im früheren Pietismus kommt dabei ein gewisser Schwerpunkt zu liegen: Zwei der Dreiergruppen, in die die "Essays" "locker" (7) gegliedert sind, widmen sich der Zeit um 1700 (bis ca. 1755), während sich die restlichen auf das 16./17. bzw. das späte 18. Jh. bis zur Gegenwart verteilen.

Diese beachtliche Spannweite wird durch die Pfeiler geographischer und thematischer Kohärenz gut getragen. Ebenso entscheidend wie die offensichtliche Einheit des Ortes - alle Aufsätze betreffen den glaubenskulturellen Ausstrahlungsraum der "reformierten Schweiz" (8), vier Fünftel spezifisch denjenigen des mächtigen Stadtstaates Bern - ist dabei die im Titel genannte thematische Einheit als Spannung zwischen individuellem und gemeinsamem Glaubensvollzug. Nicht nur die zentrale neunte Studie (deren Titel sicher nicht zufälligerweise auch den des Bandes bildet) über die Unterschiede im Verständnis christlicher Gemeinschaft bei Zinzendorf und dem "separirten" (191) ehemaligen Berner Münsterpfarrer Güldin behandelt diese spezifisch neuzeitliche Polarität. Alle Aufsätze thematisieren mittelbar die (früh-)moderne Suche nach möglicher "Kirchengemeinschaft" im Zeichen einer zunehmend sozusagen auch von konfessionellen Kirchentümern, nicht mehr allein von christlichen Individuen reklamierten "Freiheyt des Gewissens" (Güldin 1699). Im erstgenannten Titelbegriff verschmilzt so mit der älteren, elementaren Bedeutung als einer "Gemeinschaft der Heiligen" (238) schlechthin die neuerdings üblich(er)e von Union und Ökumene.

Weil in der Frühneuzeit jedwede kirchliche Gemeinschaft exklusiv durch territorial kontrollierte Lehre (im Wortsinn:) definiert war, "gehörte" "der Gang ins Exil [...] in diesen Jahrzehnten zum Berufsrisiko eines Theologen" (37), wie der Vf. treffend bemerkt. Die ersten drei Beiträge beleuchten so theologische Schicksale und Aufbrüche des langen 16. Jh.s und des 17.Jh.s, erst die Lebens- und ansatzweise die Denkwege der Straßburger Abkömmlinge Wolfgang Musculus (9-28) und Johannes Piscator (29-50), die beide anfangs nur als konfessionelle Emigranten nach Bern fanden, dort dann aber hochrespektiert als Bibelkommentator bzw. -übersetzer Bleibendes leisteten, sodann (51-65) die Versuche des "helvetischen Triumvirats" Werenfels-Ostervald-(J.-A.)Turretini, dem nach 1675 immer obsoleteren Kirchengemeinschaftsverständnis eine liberalere (zwar noch "orthodoxe", kirchenpolitisch nur indirekt etwa via Zinzendorf wirksame, doch bereits "vernünftige" und daher, wie der Vf. andeutet, faktisch bereits moderne) Lehralternative mittels der sog. Fundamentalartikel entgegenzuhalten.

Wie gnadenlos der Rat seit 1699 jede halbwegs ernsthafte Infragestellung des Kirchenabsolutismus verfolgte, zeigte der Vf. 1984 in der unüberholten Untersuchung über "die Anfänge des Pietismus in Bern"; der erste Essaytitel der nächsten Triade benennt programmatisch die nun näher geschilderte Folge für die Betroffenen: "Beat Ludwig von Muralts Emigration aus der Kirche" (66-84). Ob motiviert durch den Weltüberdruss des weitgereisten de Muralt, die Gesellschaftskritik Rousseaus (85- 95) oder den Chiliasmus des Heißsporns König (96-132), von dem beide anderen angeregt waren: Stets ging es nicht nur um geistig-geistliche Abkehr, sondern um wörtlichen Auszug aus dem Staatskirchengebiet, für de Muralt ins preußische Colombier, für Rousseau nach der "Ermitage" ebenfalls nach Neuenburg und für König über die Wetterau genauso ins rettende Preußen, wie überhaupt in Deutschland bald eine richtige "kleine Exilsgemeinde bernischer Pietisten" (101) sich ansiedelte. Kulturhistorisch ist reizvoll, dass das Reisethema auch literarisch aufgegriffen wurde durch den "Apologue en faveur de la séparation du Culte Public" de Muralt oder durch König, der die Eschweger Auserwählten zum Auszug aus dem "vorhof des eußerlichen [...] lippenwesens" (115) ermahnt, und natürlich, wenn der "nouvelle Héloïse Julie", der "notre Muralt" (90) als geeigneter Begleiter in der Suche des "instinct divin" erscheint, von St Preux (lies: Rousseau) dann doch eher dessen nüchterneren Reisebriefe empfohlen werden.

Als rettendes Tertium zwischen absolut inklusiver Staatskirche und absolut exklusivem Privatchristentum wirkten seit 1739 lokalspezifische, nachhaltig erfolgreiche Adaptionen der Zinzendorfschen Unitätsidee. Die dritte Triade zeigt darum, wie Zinzendorf sich durch den Berner Synodus (163- 181) zu seiner auf Christusunmittelbarkeit als gleichsam einem Fundamentalartikel beruhenden (und so über-, aber nicht eigentlich postkonfessionellen) Ekklesiologie anregen ließ, wie die Grenzen dieses anspruchsvollen Konzepts (das nur unter noch konfessionell als auch schon pie- tistisch Empfindenden funktionierte) 1742 in Pennsylvania durch den verbitterten Berner Emigranten Güldin klar abgesteckt wurden (182- 205), aber auch, wie es gerade im ebensosehr konfessionell wie pietistisch-erwecklich geprägten Territorium Berns bleibenden, weil versöhnungsreichen Einfluss (133-162) ausüben konnte, der bis ins Sozietätenwesen des 19. Jh.s, ja in die Gegenwart reichen sollte.

Die beiden Schlusstriaden lassen sich als Variation des Gesamtthemas in der Dialektik von Kirchlichkeit und Wissenschaftsfreiheit in der Theologie verstehen, nun mit umgekehrten Vorzeichen: Polemische Mahnungen zur Traditionswahrung kamen von kirchlicher Seite, 1779 in Lavaters antideistischem Zürcher (206-217) und erst recht dann 1845 in Bitzius' (Gotthelfs) antiliberalem Berner (234-260) Synodalvotum, während umgekehrt der Staat im sog. Zellerhandel 1847 (einem Pendant zum Zürcher Straussenhandel) den Liberalismus, mithin die Gewissensfreiheit, zu schützen begann (261-285). Auch hier in der neueren Theologiegeschichte - wie schon bei den Praktikern Zinzendorf und Heinrich Pestalozzi, der entgegen früherer Forschung (Froese) als zwar nicht jenseits von, aber doch nur zwischen den Lagern von Pietismus und Aufklärung stehender Volkserzieher geschildert wird (218-233) - sind Sympathien des Vf.s für einen integrativen Mittelweg unverkennbar, wie er sich in den Synthesen des (1975 bereits monographisch dargestellten) Hegelianers Romang wie auch bei dessen Kontrahenten Biedermann artikulierte, dessen hier (286-308) in beeindruckender Kohärenz interpretiertes Werk der "freien Theologie" schließlich "zum kirchlichen Durchbruch" "verhalf" (286).

Wenn der letzte Beitrag (309-325) die "bernische Kirchenverfassung" als ein Dokument beleuchtet, das sowohl einen "Markstein in der bernischen Kirchengeschichte" (310) als auch "ein Verständigungswerk" (311) zwischen Liberalen und Positiven darstellt, hat das gleichsam epilogischen Charakter, denn der Band unternimmt nicht nur, unbesehen aller Zufälligkeiten seiner Entstehung, einen wichtigen Schritt zu einem wissenschaftlichen Längsschnitt der auch europäisch bedeutsamen Christentumsgeschichte der westlichen Deutschschweiz. Er darf auch als ein auf Jahrhunderte kollektiver Erfahrung gestütztes diskretes Plädoyer für die ekklesiologische Normativität einer stets neu zu suchenden "Verständigung" von moderner Freiheit des Gewissens und christlicher Freiheit zur Gemeinschaft gelesen werden.

Dass auf S. 129 "Kasse" statt "Kassel" gedruckt, ebd. "Jo Cu" nicht als Fehler markiert, S. 26-28 gewisse Unsicherheiten der Transkription zu erkennen und überdies im Verzicht auf einen Nachtrag der "über Internet leicht zugänglichen" neuen Literatur viel Zweckoptimismus zu vermuten ist, sei erwähnt, tut der hohen Qualität des Bandes aber keinerlei Abbruch.