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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

893 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Busch, Gudrun u. Wolfgang Miersemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

"Geist=reicher" Gesang. Halle und das pietistische Lied.

Verlag:

Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen im Niemeyer-Verlag Tübingen 1997. VI, 341 S. m. Abb. 8 =Hallesche Forschungen, 3. Kart. DM 96,-. ISBN 3-931479-05-6.

Rezensent:

Martin Brecht

Der Band bietet die Vorträge eines interdisziplinären Symposiums an den Franckeschen Stiftungen in Halle von 1994 zum pietistischen Lied. Der Zeitpunkt für die Wahl dieser Thematik erweist sich als überaus günstig. Mehrere Autoren und Autorinnen, die in jüngster Zeit auf diesem zuvor eher vernachlässigten Gebiet gearbeitet haben, sind mit gewichtigen Beiträgen vertreten. Dabei stellt sich für Literaturwissenschaft, Hymnologie und Kirchengeschichte gleich interessant und zudem vielfältig anregend heraus, welche Schlüsselrolle nach vorne und hinten dem Halleschen Pietismus in der Entwicklung des geistlichen Lieds zugekommen ist.

Der umfangreiche, programmatische und sehr anregende Einführungsaufsatz "Auf dem Weg zu einer Hochburg ,geist=reichen’ Gesangs: Halle und die Ansätze einer pietistischen Liedkultur im Deutschland des ausgehenden 17. Jahrhunderts" stammt von W. Miersemann, einem der Initiatoren des Symposiums. Der Titel lehnt sich an an die von J. A. Freylinghausen, dem engen Mitarbeiter A. H. Franckes, seit 1704 herausgegebenen Gesangbücher. Ausgegangen wird von der Auseinandersetzung der lutherischen Spätorthodoxie mit den "neuen Liedern" der Pietisten. Ob diese "neuen Lieder" vorwiegend chiliastisch bestimmt waren, wird weiter zu erörtern sein; der Topos findet sich auch in den Psalmen. Interessant ist immerhin, daß die Spätorthodoxie einen nachweisbaren Zusammenhang sah mit dem Enthusiasmus der im Umfeld des jungen Francke aufgetretenen "begeisterten Mägde". Dem inneren Aufschwung hatte auch die keineswegs lediglich private Kirchenmusik zu entsprechen. Der von Andreas Luppius 1692 herausgegebene "Andächtig Singende(r) Christen=Mund" erweist schon mit seiner Dedicatio die Zugehörigkeit zum spenerisch-halleschen Pietismus. Eng damit verwandt sind die bereits aus dem Umkreis des halleschen Pietismus (Erfurt?) stammenden "Geistliche(n) Lieder und Lobgesänge" von 1695. Es wird allerdings dabei bleiben müssen, daß Franckes Lied "Gott Lob! ein Schritt zur Ewigkeit" jenseitsgewandt und nicht chiliastisch ist (vgl. S. 75, Anm. 280). Verschiedene eschatologische Konzeptionen lagen also noch nebeneinander. Friedrich de Boor behandelt kenntnisreich "Das Auftreten der ,pietistischen Sängerin’ Anna Maria Schuchart in Halle 1692", einer der erwähnten Enthusiastinnen. Tatsächlich haben neue Lieder bei den Ekstasen eine Rolle gespielt, aber dabei wird viel traditionelles Material verwendet. Der Generation vor den halleschen Pietisten gehörte der Wolfenbütteler Jurist Gottfried Wilhelm Sacer (1635-1699) an, dessen "Geistliche liebliche Lieder" gleichwohl in Halle rezipiert wurden. Dieter Merzbacher führt Sacers Liedschaffen vor.

Der als Pietismus-Hymnologe ausgewiesene Steffen Arndal geht dem Begriff des "Geist=reichen" bei Freylinghausen und dem hallischen Liederdichter und Arzt Chr. Fr. Richter nach. Bei Richter ist dies ein Sachverhalt seiner Innerlichkeit und damit pietistischer Anthropologie, während das Titelkupfer von Freylinghausens Gesangbuch auch noch die chiliastische Option hat. Die Finnin Suvi-Päivi Koski ist mit ihrer Dissertation über Freylinghausens Gesangbuch, die leider (noch?) nicht deutsch vorliegt, eine ausgewiesene Expertin. Hier geht sie der Theologie dieses Gesangbuchs nach, die vor allem in den 53 Rubriken zum Ausdruck kommt und weithin Freylinghausens Dogmatik entspricht. Die Einordnung der eschatologischen Lieder nach den Adventsliedern kann übrigens vom "zweiten Advent" her auch traditionell interpretiert werden (gegen 177). Instruktiv sind die Vergleiche mit dem Inhalt der vorhergehenden Gesangbücher. Konstatiert wird eine Ausgewogenheit der Auswahl hinsichtlich des reformatorischen, barocken und pietistischen Liedgutes. Der gewiß zutreffende Sachverhalt wird zu den chiliastisch-enthusiastischen Anfängen allerdings nicht in Relation gesetzt. Dianne Marie McMullen geht dem konservativen orthodoxen Widerspruch gegen Freylinghausens Gesangbuch hinsichtlich der neuen und zuvor weltlichen Melodien und Rhythmen nach. Andreas Lindner demonstriert die gleiche Tendenz im Kampf des Naumburger Pfarrers Johann Martin Schamelius um das reformatorische Liedgut. Wie Christian Bunners vorführt, rezipierte Freylinghausen in großem Umfang Lieder Paul Gerhardts, der mit der Breite seiner Frömmigkeit von Orthodoxie und Pietismus gleichermaßen geschätzt werden konnte. Zugleich belegt die Rezeption Gerhardts einmal mehr den lutherischen Charakter von Freylinghausens Theologie. Im Zusammenhang der wiedergegebenen Melodien von Gerhadts Liedern bringt der Vf. das Desiderat der Erforschung der Musikpraxis in Halle vor.

Thomas Althaus faßt über Halle hinaus "Das pietistische Lied bei Gottfried Arnold, dem Grafen Zinzendorf und Gerhard Tersteegen" in den Blick. Damit kommt ansatzweise etwas von den Dimensionen des Gesamtthemas in den Blick. Ein möglicher Ausgang der pietistischen Liedgeschichte wird in den von Hans-Georg Kemper beschriebenen "Säkularisierungstendenzen in den Freundschaftlichen Liedern von Immanuel Jakob Pyra und Samuel Gottlob Lange" dokumentiert. In interessante Zusammenhänge (u. a. bis zu Carl Philipp Emanuel Bach) führen Gudrun Buschs Nachforschungen zum pietistischen Hof in Wernigerode und seinem Choralbuch. Ada Kadelbach kann zeigen, daß der hallische Pietismus über H. M. Mühlenberg, wie es fast nicht anders sein konnte, zeitweilig auch den lutherischen Kirchengesang in Nordamerika beeinflußt hat.

Eine wertvolle Bereicherung stellen die Illustrationen und Textbeispiele dar. Mit Recht ist ein Fortsetzungs-Symposium zu dem glücklich gefundenen Thema geplant. Dem Reichtum des Gegenstands wird es zugute kommen, wenn dabei noch weitere Gesangbuchzentren in den Blick gefaßt werden, wobei an der Interdisziplinarität unbedingt festgehalten werden sollte.