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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

906 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Chapman, Mark D.

Titel/Untertitel:

Ernst Troeltsch and Liberal Theology. Religion and Cultural Synthesis in Wilhelmine Germany.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2001. XII, 218 S. 8 = Christian Theology in Context. Geb. £ 35,00. ISBN 0-19-924642-4.

Rezensent:

Friedemann Voigt

Die Hochschätzung Ernst Troeltschs in England hat eine lange Tradition. Als Troeltsch 1920 zu einer Vortragsreihe nach England eingeladen wurde, gehörte er zu den ersten deutschen Intellektuellen, denen nach dem Ersten Weltkrieg eine solche internationale Anerkennung zukam. Hätte Troeltschs Tod diese Reise nicht verhindert, wäre damit an die in der Studie des Oxforder Systematikers Mark D. Chapman betonte Präsenz der deutschsprachigen Theologie im angloamerikanischen Raum wieder angeknüpft worden, wie sie vor 1914 bestand. "Theology in 1914" heißt das einleitende Kapitel der Studie (1-12), das die internationale akademische und gesellschaftliche Bedeutung der protestantischen Universitätstheologie bis zum Ersten Weltkrieg würdigt.

In den sieben folgenden Kapiteln legt Ch. Grundlagen und Debatten der "liberalen Theologie" dar, wie sie sich im Umkreis der jüngeren Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule formierte. Troeltsch, der "Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule", dient Ch. dabei als Orientierungspunkt, von dem aus Blicke auf andere Vertreter geworfen werden. In Kapitel 2, das der Religionsgeschichtlichen Schule gewidmet ist (13- 44), wird Wilhelm Boussets Stilisierung des historischen Jesus zur charismatischen Führerpersönlichkeit als Beispiel für die Dogmenkritik der Religionsgeschichtler herangezogen. In dem vorzüglichen Kapitel 3 "The Historical Method in Debate" (45-74) verhandelt Ch. unterschiedliche Strategien, das historische Denken in der Theologie zu etablieren. Während Harnack das Christentum gegenüber anderen Religionen zunächst "isoliert" habe, um es sodann einer historischen Betrachtungsweise zu unterziehen, habe Troeltsch den Weg einer philosophischen Fundierung der relativen Höchstgeltung des Christentums gewählt. Da ist zunächst die Berufung auf die Erkenntniskritik Kants ("Kant, Materialism, and Theology", 75-88). Ch. arbeitet heraus, dass auf dem Hintergrund sowohl der neukantianischen Philosophie als auch der Theologie Ritschls die Bezugnahme auf Kant immer zugleich den Anspruch auf legitime Nachfolge und "wahre" Modernität hatte. "Kant has thus unwittingly become a great polemicist for the most diverse theological systems. In the process, Kant's own ideas were often contorted beyond all recognition" (83). Die Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmann (89-110) zeigt dann auch, wie Troeltsch die Kantische Philosophie um kulturethische Aspekte zu erweitern suchte. Diese Haltung wurde aber, wie Abschnitt 6 "Struggles over Epistemology: The Religious A Priori" (111- 137) zeigt, selbst bei seinen theologischen Freunden nicht immer akzeptiert. So befürchtete Bousset, Troeltschs These von der Annäherung der Religion an das religiöse Apriori im Prozess der Geschichte führe in Historizismus und Empirismus. Ch. hält dem entgegen, Troeltschs Theorie des religiösen Apriori sei "a genuine search for reconciliation between spirit and nature, and thus it continues to allow for the ethical transformation of the historical world" (136). Bei seiner Verteidigung der historischen Methode in ethischer Absicht ("Re-Establishing the Unified Vision: Troeltsch's Ethical Theology", 138-160) legt Ch. Wert auf die enge Beziehung von Troeltschs breit angelegten historische Studien zur konstruktiven Aufgabe einer modernitätsadäquaten Ekklesiologie. Die häufig unterschätzte ethische Dimension der Kirchenlehre Troeltschs wird so pointiert zur Geltung gebracht. Darin zeige sich auch Troeltschs ethische Beantwortung des mit der "Moderne" aufgegebenen Problems: Troeltsch habe stets einen ethischen Kompromiss angestrebt, der sich an den konkreten Möglichkeiten der Gegenwart orientierte (181).

Im Schlusskapitel (161-186) plädiert Ch. energisch für eine solche ethische Theologie des "Kompromisses" - nicht zuletzt um anzuzeigen, dass sich hier Berührungspunkte mit der philosophischen und theologischen Tradition Englands finden lassen. Wenn auch die hierbei erneut erkennbare Unterscheidung von dogmatischer Isolation einerseits und historischem Aufbau andererseits manchmal zu schematisch erscheint, darf Ch.s Darstellung als grundlegende Einführung sowohl in die Theologie Troeltschs als auch in die "liberale Theologie" des Kaiserreiches für den englischsprachigen Raum gelten. Darüber hinaus ist seine engagierte, aber nicht unkritische Profilierung der Gegenwartsrelevanz von Troeltschs ethischer Theologie ein wichtiger Diskussionsbeitrag.