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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

895–897

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Brady, Thomas A., u. Elisabeth Müller-Luckner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit.

Verlag:

München: Oldenbourg 2001. XXI, 258 S. gr.8 = Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 50. Geb. Euro 49,80. ISBN 3-486-56565-6.

Rezensent:

Hellmut Zschoch

Der Band enthält die Vorträge eines Kolloquiums, das Thomas A. Brady 1999 im Historischen Kolleg in München organisiert hat. Als Herausgeber führt er in sein Thema ein, indem er es in einem bis auf Ranke zurückgehenden Forschungsrückblick positioniert und gegenüber einer klassischen Deutung der Reformation als epochalem Umbruchsereignis zur Neuzeit den Trend zur Betonung der Kontinuität von Reformation und spätem Mittelalter hervorhebt: "The Reformation has become a late medieval event" (VIII). Diese historiographische Situierung des Reformationsgeschehens wird in den Beiträgen des Bandes nicht in Frage gestellt, aber auch nicht durchweg emphatisch aufgenommen.

Heiko A. Oberman (The Long Fifteenth Century: In Search of its Profile, 1-18) nimmt die Deutung des 15. Jh.s in den Blick. Er distanziert sich sowohl von einer deutsch-protestantischen Interpretation als "Lady-in-Waiting for the Fullness of Time" (wobei der summarische Verweis auf die Nähe von bedeutenden Vertretern der Holl-Schule zum Nationalsozialismus [1 f.] einer sachlichen Auseinandersetzung kaum dienlich sein dürfte) als auch von neueren sozialgeschichtlichen und strukturhistorischen Deutungen. Indem er die Wirkungen der Pest, des Konziliarismus, der Devotio moderna und des monastischen Wanderpredigertums betrachtet, will er das 15. Jh. als eine weit in das 16. hineinreichende vitale Epoche von schlichter - konfessioneller oder säkularer - Teleologie befreien und die deutsche Reformation als "innovation ... in the light of an unbroken continuity" (15) verstehen. Eine neue Zielbestimmung findet Oberman dann in der den Provinzialismus des deutschen Luthertums hinter sich lassenden europäischen Reformation, deren "truly grand narrative" (17) er abschließend auf die Tagesordnung der Reformationsforschung des 21. Jh.s setzt - ein eindrückliches Vermächtnis des inzwischen verstorbenen Reformationshistorikers.

Während Obermans Plädoyer für das "lange 15. Jahrhundert" auf die Funktion von Spätmittelalter und Reformation für die werdende Neuzeit ausgerichtet ist, bindet Constantin Fasolt (Europäische Geschichte, zweiter Akt: Die Reformation, 231-250) die Reformation in dezidiert gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive eng an die europäische Entwicklung seit dem Hochmittelalter. Die Reformation bringt keine Ablösung des mittelalterlichen zivilisatorischen Paradigmas, sondern überträgt dessen Inhalte von der Papstkirche auf neue, bürgerliche Träger: "Sie bedeutet keinen Bruch mit der vorausgehenden Entwicklung Europas, sondern ganz im Gegenteil ihre Fortsetzung und Intensivierung." (247) An Fasolts These verwundern die Exklusivität, die er für einen gesellschaftsgeschichtlichen Zugang postuliert ("Nicht die Geschichte der Reformation ist zu schreiben ..., sondern die Geschichte der europäischen Gesellschaft. ... Denn die Gesellschaft ... ist der eigentliche Gegenstand historischer Betrachtung." [249]), und die Aggressivität, die gegenüber der Deutung der Reformation als Umbruchsgeschehen "in der hergebrachten Geschichtsvorstellung" (232) mehrfach durchschlägt (z. B. "blutsaugender Vampir am Nacken der Historiker", "verteufelte Kraft" [234]).

Die von Obermans und Fasolts historiographischen Statements gerahmten Einzelstudien lassen sich kaum einem derart entschiedenen Konzept zuordnen; sie bleiben durchweg auf den ihnen durch ihre Quellen gewiesenen Pfaden und lassen differenzierte Deutungen der Kontinuitäten und Brüche der Reformation zum Spätmittelalter einerseits und zur Frühen Neuzeit andererseits zu.

Ernst Schubert (Vom Gebot zur Landesordnung. Der Wandel fürstlicher Herrschaft vom 15. zum 16. Jahrhundert, 19-61) betrachtet die auf spätmittelalterlichen Voraussetzungen aufbauende "Umformung der spätmittelalterlichen Fürstenherrschaft", die von der kirchlichen Reformation unabhängig in Gang kommt und in deren Verlauf die Kirchenordnungen nur einen Aspekt der territorialen Vereinheitlichung bezeichnen.

Manfred Schulze (Zwischen Furcht und Hoffnung. Berichte zur Reformation aus dem Reichsregiment, 63-90) wertet die Berichte des kursächsischen Gesandten beim zweiten Nürnberger Reichsregiment (1521-1524), Hans von Planitz, aus. Dabei weist er darauf hin, dass die Freiräume für die beginnende Reformation sich zwar politischem Kalkül verdanken, dennoch aber der Erfolg der Reformationsbewegung nur sehr bedingt auf fürstliche Interessen zurückgeführt werden kann.

Berndt Hamm (Die reformatorische Krise der sozialen Werte - drei Lösungsperspektiven zwischen Wahrheitseifer und Toleranz in den Jahren 1525 bis 1530, 91-122) untersucht das religiös legitimierte "Geflecht axiomatischer Werte, ethisch orientierender Tugenden und verhaltensregulierender Normen" (91) anhand der Äußerungen mehrerer reformatorisch gesonnener Ratsschreiber. Hamm arbeitet heraus, dass das aus dem späten Mittelalter überkommene Ideal des bürgerlichen Gemeinwohls hinter ganz unterschiedlichen Konzepten des Umgangs mit religiösen Differenzen (namentlich mit der innerreformatorischen Abendmahlskontroverse und mit der Täuferbewegung) steht - vom Beharren auf dogmatischer Eindeutigkeit bei Lazarus Spengler über die Bagatellisierung der Gegensätze in Straßburg und Memmingen bis hin zur umfassenden Toleranzforderung des späteren Augsburger Stadtschreibers Georg Frölich (zur Zuschreibung eines anonymen Gutachtens an ihn s. S. 114 mit Anm. 71 und 72). Insofern erkennt Hamm in der Reformation eine "Forcierung des spätmittelalterlichen weltlich-geistlichen Werteverständnisses" (93).

Heinrich Richard Schmidt (Die Reformation im Reich und in der Schweiz als Handlungs- und Sinnzusammenhang, 123- 157) fragt anhand von Einzelbeispielen aus der Früh- und Spätzeit der Reformation (Bern, Nürnberg, Graubünden, Ostschwaben/Altbayern, Straßburg, Esslingen) nach deren Einheit und findet sie in der "Interaktion zwischen Obrigkeit, Gemeinde und Predigern" (154), in einer Gemeindereformation, die das Handeln der Obrigkeit fordert und bewusst einbezieht. Eindringlich betont Schmidt, dass die "innere Umorientierung" (154) als religiöser Bewusstseinswandel vorausgeht und in der Selbstdeutung der am Reformationsgeschehen beteiligten Laien inhaltlich durch die "Verschmelzung von sola gratia und normativer ethischer Deutung des Wortes Gottes" (155) bestimmt ist. Schmidts Plädoyer für die Beachtung der "religiösen Dimensionen" der Reformation (157) durch die Geschichtsforschung deutet an, dass die "falsche Alternative von Kontinuität und Umbruch" (Hamm, 91) durch eine Perspektivenvielfalt, die das Recht differenzierter historischer Zuordnungen der Reformation einschließt, aufgelöst werden kann. Historisch wie theologisch spricht vieles dafür, in dem Titel "Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit" das "zwischen" zu betonen - und das "deutsche" einzuklammern.

Auf die übrigen Einzelstudien des Bandes sei hier nur hingewiesen: Susan C. Karant-Nunn (Patterns of Religious Practice: Nontheological Features, 159-171) macht auf die Differenz zwischen reformatorischen Lehräußerungen und gottesdienstlicher Praxis aufmerksam. Tom Scott (The Reformation and Modern Political Economy: Luther and Gaismair compared, 173-202) verortet sowohl den Wittenberger Reformator wie den Tiroler Täuferführer hinsichtlich ihrer Wahrnehmung ökonomischer Grundtatbestände auf einer Linie eher zum Merkantilismus als zum Marktkapitalismus. Horst Wenzel (Luthers Briefe im Medienwechsel von der Manuskriptkultur zum Buchdruck, 203-229) zeigt die Wechselwirkungen von Brief und Buch für die öffentliche Kommunikation in der Reformationszeit. Personen- und Ortsregister schließen den Band ab.