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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

893–895

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wucherpfennig, Ansgar

Titel/Untertitel:

Heracleon Philologus. Gnostische Johannesexegese im zweiten Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XIV, 476 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 142. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-147658-1.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Die Untersuchung ist die leicht überarbeitete und erweiterte Fassung einer Arbeit, die von Hans-Josef Klauck betreut und von der Universität Würzburg als Promotion angenommen wurde.

Sie widmet sich der Betrachtung der Johannesexegese Herakleons, wie sie in den Zitaten bei Origenes erhalten ist. Die Studie sieht sich als Beitrag zu einer theologiegeschichtlichen Erforschung der Veränderungen des Christentums im Zuge seiner Ausweitung im 1.-2. Jh. Das Buch hat vier Hauptteile: eine Einleitung, der Kommentar zu ausgewählten Fragmenten Herakleons, eine Untersuchung von Herakleons zeitgeschichtlichem Kontext mit Wertung seines Kommentars und eine Auswertung.

Die Ausgangsfrage der Studie richtet sich auf das Verhältnis von Johannesevangelium und Gnosis. W. verweist auf die Forschungsgeschichte, in der bis Mitte des 20. Jh.s das Johannesevangelium als Teil der Gnosis gesehen wurde, während mittlerweile die Anfänge der Gnosis erst in der Spätphase der Entste- hung der neutestamentlichen Schriften angesetzt werden. Daraus schließt W., dass die Gnosis bei der Untersuchung der Auslegung des Johannesevangeliums berücksichtigt werden muss. Gegenüber den Traditionen und Forschungsansätzen, die Herakleon mit den Valentinianern in Verbindung bringen und Herakleons Fragmente von einem gnostischen Mythos aus interpretieren, strebt W. den Vergleich der aus ihrem Kontext als authentisch erarbeiteten Fragmente Herakleons mit dem Vorgehen der Philologie der hellenistisch-römischen Kaiserzeit an.

In dem Kommentarteil erarbeitet W. zunächst anhand der Fragmente 11-16 (zu Joh 2,12-20), dass Herakleons philologische Methode dem Vorgehen weiter Abschnitte des Lehrmodells der antiken Philologie entspricht. Im Folgenden untersucht W., ob und wie Herakleon eine "gnostische Transformation des Johannesevangeliums vornimmt" (103). Zu diesem Zweck untersucht er ausgewählte Fragmente der Auslegung Herakleons. Die einzelnen Kommentarteile haben denselben Aufbau. Auf eine historisch-kritische Einleitung zu dem jeweiligen Bibeltext folgen der Text und die Übersetzung der Auslegung Herakleons sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der Deutung der Fragmente im Kontext von Origenes' Kommentar. Darauf legt W. Herakleons Kommentar im Blick auf seine Anwendung der antiken philologischen Methoden aus.

Einige Schwerpunkte des Kommentars seien hier vermerkt: Herakleons Auslegung des Prologs (Joh 1,1-18, Fragmente 1-3) betont gegen Markions Trennung von Schöpfer und Erlöser die Kooperation der beiden.

An der Gestalt Johannes des Täufers (Joh 1,19-29, Fragmente 4-10) zeigt Herakleon überwiegend historisches Interesse. Zur Erklärung der Unterschiede der Evangeliendarstellungen des Täufers zieht Herakleon die damals geläufige Unterscheidung zwischen der Person selbst und ihrem Äußeren hinzu. Darin zeigt er Ansätze zu der valentinianischen Vorstellung vom "inneren Menschen", der Begriff selbst erscheint jedoch bei ihm nicht.

Die Perikope Joh 4,46-54 (Fragment 40) wird von Herakleon historisch und allegorisch gedeutet. Der ,ÛÈÏÈÎ steht allegorisch für den Demiurg, der im Vertrauen auf den Erlöser bei diesem für seine kranke Schöpfung eintritt. Herakleons Deutung des Demiurgen wird aber nicht in einen valentinianischen Mythos eingebettet.

Am Ende seines Kommentars fügt W. eine Untersuchung der Unterschiede zwischen der valentinianischen Menschenklassenlehre und Herakleons Physisbegriff an, um die verbreiteten Missverständnisse in der Rezeption Herakleons seit Origenes auszuräumen.

Der dritte Teil der Studie fasst die Informationen über Herakleons Leben zusammen und ordnet sie in die Zeitgeschichte ein. Herakleon erscheint als Schulhaupt aus Alexandria, der in Rom Kontakt mit der Schule von Valentin gehabt haben mag, dessen Kommentar jedoch nach seinem Aufenthalt in Rom, erst zwischen 160-180 n. Chr., in Alexandrien geschrieben wurde. Vor dem Hintergrund hellenistischer Textauslegung präsentiert W. Herakleon mit seiner Arbeit am johanneischen Text als einen frühen christlichen Philologen. Bei aller Nähe zur Gnosis verortet W. Herakleons Kommentar in einer Schulsituation, nicht in einem elitären Zirkel, wie er für die Gnosis beschrieben wird. Für W. zeigt Herakleons Kommentar, wie die im Johannesevangelium (im Gegensatz zu den Synoptikern) schon durchdachte Christologie im 2. Jh. durch bewussten Gebrauch von Hoheitstiteln weiter reflektiert wurde. Zur Auslegung zentraler biblischer Begriffe gebraucht Herakleon eher die hellenistische Philosophie als valentinianische Mythen oder Ideen wie die Menschenklassenlehre.

In der abschließenden Auswertung kehrt W. zur Ausgangsfrage nach dem Verhältnis zwischen Johannesevangelium und Gnosis zurück. W. kommt darauf zurück, dass die Entstehung des Evangeliums zwar nichts mit der Gnosis zu tun hat, Herakleons Kommentar jedoch Ausdruck des Interesses der beginnenden Gnosis an dem Evangelium und Ergebnis seiner Gnostisierung ist, wodurch das Christentum durch eine wissenschaftliche Grundlegung im Rahmen eines akademischen Unterrichts intellektuell fundiert und an die hellenistisch-römische Stadtkultur angepasst wurde.

Die Studie ist eine gründliche Untersuchung des Kommentars Herakleons. Die Einordnung des Kommentars in die philologische Methode der alexandrinischen Exegese macht die Vorgehensweise Herakleons deutlich. Bedeutsam ist auch die Abgrenzung Herakleons von der üblichen Auslegungstradition, die ihn schon sehr früh von valentinianischen Vorstellungen her gelesen hat. In diesem Rahmen ist die Bibliographie umfangreich und die Argumentation des Autors gut fundiert.

Probleme treten auf, wenn der Autor sein ohnehin schon umfangreiches Thema weiter ausdehnt durch Rückbezug auf das Johannesevangelium und die Exegese der von Herakleon interpretierten Passagen. Schon die Eingangsfrage nach der gnostischen Herkunft des Johannesevangeliums ist exegetisch überholt und sprengt den Rahmen, den W. durch den Titel selbst gesetzt hat. In der Einleitung erklärt W. zu Recht, dass seine Methode durch den Vergleich mit der antiken Philologie "anachronistische Urteile vermeidet, die sich von der Warte moderner Exegese aus ergeben könnten" (10). Gleichzeitig versucht er sich selbst an einer modernen Exegese, die aufgrund der umfangreichen Kommentarliteratur und der zahlreichen exegetischen Fragen zu den Johannespassagen umrissartig bleiben muss und meist ohne Verbindung zu dem Hauptteil der Studie steht.

Exegetisch hinterfragbar ist auch W.s Behauptung, die synoptischen Evangelien hätten den Anspruch, "vita Iesu" (388) zu sein. Von dieser These leitet W. eine Entwicklungslinie von den an bloßer Traditionsweitergabe interessierten Synoptikern über das zunehmend christologisch reflektierte Johannesevangelium zu der weiter systematisierten Christologie Herakleons ab. Die exegetische Arbeit an den synoptischen Evangelien hat demgegenüber gezeigt, dass schon Markus nicht mit dem Anspruch schreibt, eine historische Vita, sondern das Evangelium Jesu Christi (Mk 1,1) zu verfassen. Der vorhandene Erzählstoff wird von ihm und den anderen Synoptikern durch bewusste Gliederung auch und gerade im Blick auf christologische Hoheitstitel angeordnet. Dieses Vorgehen wird von W. erst für das Johannesevangelium angenommen (388).

Diese Bemerkungen tun jedoch dem Verdienst des Buches keinen Abbruch, Herakleon in seiner Eigenart und in Unterscheidung zu der valentinianischen Gnosis dargestellt zu haben und ihn als Schritt auf dem Weg zu einer wissenschaftlich fundierten Sicht des Johannesevangeliums in Auseinandersetzung mit den Fragen der gebildeten Christen des 2. Jh.s zu würdigen. W. hat das Profil Herakleons überzeugend nachgezeichnet als eines mit den wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit arbeitenden Philologen.