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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

891 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bahr, Carolin

Titel/Untertitel:

Religiöse Malerei im 20. Jahrhundert am Beispiel der religiösen Bildauffassung im gemalten Werk von Georges Rouault (1871-1958).

Verlag:

Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1996. IX, 207 S. 8. geb. DM 68,-. ISBN 3-460-33123-2.

Rezensent:

Hartmut Mai

In ihrer Gießener Dissertation von 1993 wendet sich Carolin Bahr einem ästhetisch und ikonographisch gleichermaßen spannenden Thema in der bildenden Kunst unseres Jahrhunderts zu. Im Mittelpunkt ihrer Analyse der religiösen Malerei steht das Werk des schon seit langem stark beachteten französischen Malers Georges Rouault. In seiner unverwechselbaren künstlerischen Gestaltungsweise durchdringen sich christliches Erbe und zeitgenössischer sozialer Kontext.

Die Auseinandersetzung mit dem Werk von Rouault ist eingebettet in das facettenreiche Gesamtbild religiöser Kunstentwicklung seit dem Beginn unseres Jahrhunderts. Über Rouault hinausgehend verfolgt Bahr die neuen Möglichkeiten religiöser Kunst, die sich für einige Künstler nach dem zweiten Weltkrieg aufgetan haben. Von daher wagt sie sich an eine Perspektive für das 21. Jh. In diese große Linie wird die Analyse von exemplarischen Gemälden eingebracht. Sie werden beim Leser als bekannt vorausgesetzt; denn das Buch weist leider mit "Ecce homo" von Georges Rouault (70 f.) nur eine Abbildung auf. Einer Einleitung zur Problem- und Fragestellung der Arbeit (1-4) folgen vier in sich differenziert gegliederte Hauptteile.

Teil I (5-23) erörtert "Kunst und Religion als Instanzen der Weltdeutung". Das Verhältnis beider Größen wird sowohl unter kunsthistorischem als auch theologiegeschichtlichem Aspekt gesehen. Die Lage von bildender Kunst und Religion um 1900 bildet dabei den Ausgangspunkt. Die Ansätze der Wiederbelebung religiöser Malerei im 19. Jh. und die kirchliche Auftragskunst des 20. Jh.s werden letztlich als mißglückt angesehen. Demgegenüber bedeutet die gegenseitige Anerkennung der Autonomie von Kunst und Kirche wohl einen Fortschritt in der Beziehung beider Größen, garantiert aber für die Zukunft noch keine optimale Lösung. Eine christlich-religiöse Malerei ist nur denkbar in der Förderung eines Inhalts, "den sie dem Betrachter nicht illustrierend, sondern vielmehr mit den nur ihnen (den Kunstwerken) eigenen Mitteln der Anschauung erhellend vermittelt" (23).

Teil II (24-60) behandelt die Geschichte der religiösen Malerei in der ersten Hälfte des 20. Jh.s unter der Fragestellung, ob hier zwei Wege der Erneuerung erkennbar sind. Unter A (24-42) gehört die Aufmerksamkeit der expressionistischen Malerei.

Zusammenfassend wird die Dominanz subjektiv-künstlerischen Ausdrucksverlangens festgestellt. Hier scheinen mir manche Aussagen über das Verhältnis der Künstler und ihrer Werke zur Kirche und ihren Lehren doch zu schroff und zu pauschal formuliert, wenn z. B. zu lesen ist: "In diesem Sinne war die theologische Denkfigur des Expressionismus nicht von der Erwartungshaltung auf einen göttlichen Erlöser, sondern von der Idee einer sich selbst überwindenden und erlösenden Menschheit geprägt." (37) Demgegenüber versuchte nach Meinung von Bahr die unter B (43-53) behandelte "sogenannte expressionistische Sakralmalerei" die bei den klassischen Expressionisten entstandene künstlerische Ausdrucksweise für die kirchliche Kunst dienstbar zu machen. Die Problematik einer Verbindung von "expressionistisch innovatorischer Formensprache mit traditionellen Sujets und Bildformen" (46) wird an Beispielen aus dem Schaffen von Karl Caspar, Carl Johann Becker-Gundahl und Josef Eberz verdeutlicht. Diese Kunstwerke sind durch die "Dominanz objektiv-affirmativer Verbindlichkeit" (51) gekennzeichnet. Darin sieht B. trotz gegenteiligen Anscheins eine Einschränkung der künstlerischen Freiheit. Unter C (54-60) bringt B. ein Zwischenresultat. Danach sind der klassische Expressionismus zum einen und die expressionistische Sakralmalerei zum anderen nur in Teilen der Erneuerung der christlichen Kunst gerecht geworden. Damit wird die eigentliche Fragestellung der Arbeit vorbereitet, ob denn nicht gerade im Werk des Franzosen Georges Rouault sich eine Lösung im "Konflikt zwischen einer autonomen, existentiell relevante Fragen aufwerfenden und einer christlich-religiösen, produktiv-botschaftsverpflichteten Kunst" (60) zeigt, die auch für die Zukunft richtungweisend sein könnte.

Teil III (61-163) ist der religiösen Bildauffassung von Rouault gewidmet. Die außergewöhnliche Bedeutung dieses Künstlers für die religiöse Malerei unseres Jahrhunderts wird herausgestellt. Ihm geht es um die "Präsent-Machung von Ereignissen" statt um ein bildhaftes Nacherzählen der biblischen Ereignisse im Sinne der Tradition (79). Die Eigenart von Rouaults Christus-Bild liegt in einer mystischen Schau, die die gewählte Form durchdringt. "So wird hier nicht allein die Explikation der Sinnfrage in bezug auf Christus gedeutet, sondern die Idee eines Ja wird vehement mit den künstlerischen Mitteln insbesondere der leuchtenden Farbgebung, ins Bild gesetzt und sozusagen zu einem expliziten Weg des Heils erweitert." (105) Aus der gleichen religiösen Grundhaltung erwächst auch die "Rückgewinnung des Menschenbildes" (108), die immer von einer "Hochschätzung der menschlichen Existenz" getragen ist. Im Ergebnis stellt B. bei Rouault "eine neu gewonnene Fundierung religiöser Darstellungen" fest (III, 8: 159-163): "Rouaults Gestaltungsmittel und Formwillen haben seine spezifische Stellung im Religiösen zur Moderne fundiert, indem die aus künstlerischer Subjektivität geborene Botschaft des Kunstwerks und die Evangeliumsbotschaft in ein Beziehungsgefüge treten." (163) Ausgehend von dieser Hochschätzung des Lebenswerks von Rouault wird in Teil IV (164-181) ein Ausblick auf das nächste Jahrhundert gewagt. Dieser orientiert sich an drei namhaften Vertretern moderner religiöser Malerei nach 1945. Es handelt sich um Herbert Falken, Arnulf Rainer und Alfred Hrdlicka. Sie stehen für eine als existentiell empfundene Umsetzung des Christus-Themas in eine sehr persönliche, zugleich zeittypische Ausdrucksweise. B. kommt abschließend zu der Feststellung: "Trotz starker formaler Unterschiede machen daher alle genannten Beispiele grundsätzlich deutlich, daß allein die Bereitschaft von bildender Kunst und Kirche bzw. Theologie, sich aufeinander einzulassen und die Freiheit des anderen in Anerkennung seiner ernsten Absicht zu akzeptieren, Kunstwerke mit religiöser Ausrichtung auf lange Sicht zu ermöglichen vermag." (180) Mithin ist es das Hauptanliegen dieses Buches, Theologen und Künstler zu dieser Kreativität zu ermuntern.

Dem Text folgen ein umfassendes Literaturverzeichnis zum Verhältnis von Kunst und Religion, zu Georges Rouault, zur Kunst nach 1945 und ein Verzeichnis von Ausstellungen und Ausstellungsgemeinden zum Bereich Kunst und Religion (183-207).

Die Veröffentlichung ist dank ihrer Gründlichkeit und ihrer Zielgerichtetheit ein wertvoller Beitrag zur Gestaltung einer konstruktiven Beziehung zwischen Theologie und bildkünstlerischem Schaffen, der weiteres Nachdenken fördert. Daß hierbei das Lebenswerk von Georges Rouault einen unverwechselbaren Platz einnimmt, wird ebenfalls deutlich. Der Rez. sieht im Schaffen von Rouault jedoch nur eine neben anderen gleichberechtigten Möglichkeiten, christliche Themen zum Gegenstand bildender Kunst zu machen, wie sie sich in unserem Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit der Bibel und der Überlieferung in christlicher Frömmigkeit und Ikonographie und in Bezug auf die Welt- und Lebenserfahrung der Menschen in den zurückliegenden Jahrzehnten ergeben haben.