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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

888 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Röhser, Günter

Titel/Untertitel:

Stellvertretung im Neuen Testament.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2002. 163 S. 8 = Stuttgarter Bibelstudien, 195. Kart. Euro 21,90. ISBN 3-460-04951-0.

Rezensent:

Matthias Rein

Mit seiner Studie will Günter Röhser, Professor für Bibelwissenschaften an der RWTH Aachen, das Verstehen der neutestamentlichen Rede von der Stellvertretung aus der Engführung auf den (Sühne-)Tod Jesu befreien (11). Er meint, dass "neben die Deutung des Todes Jesu als Akt exklusiver Stellvertretung von Anfang an eine solche des Lebens Jesu, seines Wirkens und Leidens und also seiner gesamten Existenz tritt" (88). Bei der neutestamentlichen Stellvertretungsterminologie sei der Tod als Folge der Hingabe nicht notwendigerweise impliziert, sühnekultische Kategorien spielten eine untergeordnete Rolle, entscheidend sei allein die Bereitschaft Jesu zum äußersten Einsatz. R.s Studie erhellt Hintergrund und Thesen seines neutestamentlichen Teilartikels "Stellvertretung" in der TRE, Bd. 32 (2001). Sie greift auf die Studie "Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theol. Grundbegriff" (Stuttgart 1997, SBS 165) des Tübinger Alttestamentlers B. Janowski zurück, ist aber anders angelegt.

R. skizziert zunächst Verständnisschwierigkeiten und Vorbehalte gegenüber der theologischen Rede von der Stellvertretung im von der Aufklärung geprägten Denken (Kant, Sölle als Beispiel für feministische Kritik, Hofius mit der Problematik von exklusiver bzw. inklusiver Stellvertretung im Blick auf Jes 53) (9-19). Da Stellvertretungsaussagen im NT nur implizit begegnen (z. B. mit hyper), ist es methodisch notwenig, relevante religiöse Vorstellungen zu beschreiben, die sich auf der Textoberfläche und als Text- und Wortfeldelemente präsentieren und/oder hypothetisch formuliert werden müssen, da sie nur inhaltlich präsent sind (im Anschluss an O. H. Steck) (20-28). In einer synchron angelegten ersten Untersuchung gewinnt R. anhand von Lev 16,20-22; 1Joh 2,1 f.; 1Petr 3,18; Gal 4,4 f.; Röm 5, 6f.; 2Kor 5,19; Kol 1,19 und Diogn 9,2-5 einen erneuerten exklusiven und juridischen Stellvertretungsbegriff (29-57). Dieser beschreibt das Erbringen einer Leistung durch einen geeigneten Mittler, die der Wiederherstellung einer intakten Beziehung zwischen Gott und dem Vertretenen dient, ohne dass der Vertretene selbst aktiv wird (38; vgl. TRE Bd. 32, 141). Im Sinne einer engen Begriffsbestimmung soll das existentielle Mit- und Nachvollziehen des Glaubenden als Bestandteil des christlichen Heilsvorganges nicht mit Hilfe des Stellvertretungsbegriffs erfasst werden (vgl. den Vorgang der Fürbitte - in diesem Sinn exklusiv, d. h. den Betreffenden ausschließend) (30.38). R. überprüft seine Definition, indem er verschiedene Parameter auf genauere Differenzierungen hin befragt (kultisch/nichtkultisch, aktiv/passiv, einmalig/wiederholt u. a.) (48-57). Diachronisch fragt R., welche konkreteren Vorstellungen und Stellvertretungsformen im vor- und außerchristlichen Raum die neu- testamentlichen Aussagen entscheidend beeinflussten. Während er dies für die alttestamentliche Sühnopfervorstellung, Jes 53 und die Märtyrermotive in 4Makk weitgehend ausschließt, sieht er in der alttestamentlich-jüdischen Vorgabe des tathaften und existentiellen Eintretens Einzelner vor Gott für andere und in der paganen hellenistischen Idee vom Selbstopfer und der Hingabe für Freunde entscheidende Ursprünge. Beide Stränge werden auf dem Hintergrund des alttestamentlich-jüdischen Tun-Ergehens-Zusammenhangs und der Gerichtsvorstellung in Kraft gesetzt (58-85), durchdringen sich im hellenistischen Judentum gegenseitig (R. folgt hier Hengels Ansatz) und prägen das Umfeld der christlichen Urgemeinde (86-90; 124 f.).

R. untersucht im Folgenden anhand wichtiger Belegstellen, inwieweit seine inhaltliche Bestimmung der neutestamentlichen Rede von der Stellvertretung gerecht wird (90-127). An zwei prägnanten Beispielen soll dies kritisch betrachtet werden. "Dienen" und "sich Geben" in Mk 10,45 zeigen das Wesen der irdischen Sendung Jesu, wobei Leiden und Sterben eingeschlossen sind, aber nicht im Zentrum der Aussage stehen (100 f.). Inwieweit das so verstandene Menschensohn-Wort "Ermöglichung und Ermächtigung zu einer Existenz in der Nachfolge, wie sie die Lehre [sic!] Jesu nach dem Markusevangelium verlangt" (101) liefert, wird m. E. nicht überzeugend klar. Zu fragen ist, ob Mk 10,45 angemessen verstanden wird, wenn Jesu Sterben als Teil seiner Gesamtexistenz zwar mitgemeint ist, aber nicht mehr im Zentrum steht (so z. B. O. Wischmeyer, Herrschen und Dienen- Mk 10,41-45, ZNW 90 [1999], 28-44, 43). Besteht die theologische Pointe der neutestamentlichen Stellvertretungsaussagen doch darin, dass der Mittler sein Leben tatsächlich für die vielen gibt (und nicht nur eventuell dazu bereit ist). Welche Konsequenzen R.s Stellvertretungsverständnis nach sich zieht, zeigt die Anwendung auf die Abendmahlstradition. "Das ist mein Leib" (Mk 14,24par) bedeutet "Das bin ich mit meiner ganzen Person, mit allem, was ich bin und tue." Edoken im Austeilungsgestus nach Lk 22,19 f. meint "für euch ausgeteilt, zu euren Gunsten gereicht". Die am Mahl teilnehmen, treten durch das Trinken in den neuen Bund mit den Menschen ein, der durch Jesus Christus geschlossen wurde. Die Deutung des Todes Jesu sei nicht intendiert, so R. Der Inhalt des Gemeinschaftskelches (Mk 14,24par) beziehe sich auf den Wein als (messianisches) Zeichen des Bundes Jesu, nicht auf das Blut Jesu (102). Kann diese Deutung überzeugen?

In einem letzten Abschnitt skizziert R. den theologischen Ertrag seiner Studie (128-145). Vielen Überlegungen wird man zustimmen können (z. B. zur Selbstbindung Gottes an die Regeln des von ihm eingesetzten Sühnekultes, 129, und zur neuen Aufmerksamkeit für Anselms Satisfaktionslehre, 136-140). Konsequent fordert R. eine Neuerschließung der neutestamentlichen Stellvertretungsaussagen in Verkündigung, Unterricht und Bildungsarbeit, die sich auf sein gesamtes Dasein vor (sic!) dem Tod, das von Liebe, Dienen, Gerechtigkeit und Gehorsam gegen Gott bestimmt ist, konzentriert (132). Auf die Gefahr der Moralisierung und Ethisierung der Stellvertretung, die damit ins Haus steht, weist u. a. Jüngel hin (in: Das Geheimnis der Stellvertretung. Ein dogmatisches Gespräch mit Heinrich Vogel, in ders.: Wertlose Wahrheit, München 1990, 242-260, bes. 253-260).

R. vertritt eine klare These und versucht, diese an den einschlägigen Belegen zu verifizieren. Mit seinen Überlegungen und ihren Folgen wird man sich in der exegetischen Diskussion auseinander setzen müssen. Ob sie den neutestamentlichen Stellvertretungsgedanken überzeugend neu bestimmen können, ist m. E. zu bezweifeln, denn: Der Tod Jesu steht eben nicht nur am Rand seiner Gesamtexistenz, sondern von ihm und seiner Deutung her muss Jesu irdisches Leben, sein Reden und Tun verstanden werden.