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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

884–886

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Geyer, Douglas W.

Titel/Untertitel:

Fear, Anomaly, and Uncertainty in the Gospel of Mark.

Verlag:

Lanham-London: Scarecrow Press 2002. XI, 340 S. 8 = ATLA Monograph Series, 47. Geb. US$ 58,00. ISBN 0-8108-4202-5.

Rezensent:

Christian Strecker

Das Fremde und Befremdende in der wissenschaftlichen "Aneignung" zu bewahren und im rationalen Zugriff nicht unbesehen auszulöschen, gehört sicher zu den schwierigsten Aufgaben exegetischer Forschung. Inspiriert durch seine Arbeit als "psychiatric social worker" in Chicago, stellt sich Douglas W. Geyer dieser Herausforderung in dem angezeigten Werk auf bemerkenswerte Weise. Vor dem Hintergrund einer eindrücklich breiten Kenntnis der antiken griechisch-römischen und jüdischen Literatur schält er mit großer Konsequenz die rätselhaft dunklen und Schrecken erregenden Züge im Markusevangelium heraus. Seine Motivation bezieht er dabei aus der Überzeugung, dass eine angemessene Lektüre des Evangeliums nur dann gegeben sei, wenn sie sich zumal auch den darin eingelagerten bizarren Momenten stellt. Dementsprechend sucht er jene Elemente im Text zu identifizieren, "that either directly report about the anomalous frightful or evoke feelings of the anomalous frightful" (11), wobei "the anomalous frightful" hier speziell für die dem Evangelium eingeschriebenen Momente bestürzender Unsicherheit ("perplexing uncertainty") und Angst (vgl. 19.38 u. ö.) steht.

Leitend ist in alledem die These, dass das Markusevangelium ungeachtet seines hoffnungsvollen Anfangs konsequent auf Jesu gewaltsamen Tod am Kreuz ausgerichtet sei ("Everything in Mark's Gospel leads up to the cross" [1]). Diese ungewöhnliche Fokussierung auf den in der damaligen Welt extrem angstbesetzten Kreuzestod müsse äußerst befremdend gewirkt haben, und zwar um so mehr als sie im Evangelium letztlich ohne Erklärung bleibe. Auch wenn nun gegen Ende der Schrift die Hoffnung aufscheine, Jesus habe den gewaltsamen Tod überlebt, so hielten sich infolge der seltsamen Schlussbemerkung in 16,8 dann doch Angst und Bestürzung als bestimmende Größen des Evangeliums durch. Pointiert notiert G. dementsprechend: "[T]he Gospel starts with the good, peaks with the bad, and ends with the ugly. Little is explained, little is taught" (4).

Wichtig ist, dass G. jenes befremdliche Moment des "anomalous frightful" bereits vor der eigentlichen "crucifixion story" namentlich in Mk 4,35-6,56 thematisiert sieht. Dieser Abschnitt sei als geschlossener Erzählzyklus zu verstehen, der in besonders verdichteter Form das Unheimliche, Beunruhigende und Schreckliche entfalte. Eingehend widmet sich G. darum im Hauptteil des Buches (Kap. 4-10) den neun Erzählungen dieses Zyklus. Die Ergebnisse, zu denen er dabei gelangt, können hier nur mittels einiger weniger Schlaglichter angedeutet werden.

In der Perikope von der Seesturmstillung (4,35-41) schüchtere Jesu Kontrolle über die ängstigende Natur (Nacht, See, Sturm) die Jünger derart ein, dass am Ende nicht Freude und Dankbarkeit über die Rettung, sondern Unsicherheit über Jesu Macht stehe. Die Besessenheit des Geraseners (5,1- 20) korreliert G. mit antiken Vorstellungen über die Furcht erregende und gewalttätige postmortale Existenz gewaltsam zu Tode Gekommener, wobei auch hier das Befremden über Jesu rettendes Eingreifen auffalle. In der blutflüssigen Frau und der auferweckten Jairustochter (5,21-43) sieht G. sodann "symbols of miasma and anomaly" (270). Die passive Heilkraft Jesu wie auch seine unerklärliche Überwindung des unzeitigen Todes des Kindes löse dabei erneut vor allem eines aus: Verwirrung. Die anschließende Verwerfung in Nazareth (Mk 6,1-13) deutet G. primär als Geschichte des Scheiterns: Jesu Machttaten würden von der "civilized world" seiner Heimat nicht anerkannt, teile diese doch ein anderes Verständnis von Weisheit und Macht. Vor dem Hintergrund solchen Scheiterns erstaune dann aber die nachfolgende vollmächtige Aussendung der Jünger um so mehr, zumal sie weder mit einer weisheitlichen Belehrung noch mit einer konkreten Angabe, welchem Gott sie diene, verbunden sei und dabei überdies einer Entsendung in ein unvorhersehbares und wenig wünschenswertes Exilsleben gleichkomme. In der anschließenden Perikope über das Ende des Täufers (6,14-29) gehe es weniger um eine politische Konfrontation als vielmehr um die Angst des Herodes Antipas, in Jesu Wirken agiere der rächende Totengeist des durch ihn barbarisch (gleichsam nach Art eines sparagmos) getöteten Täufers. Bei der Speisung der 5000 (6,32-44) seien nicht die eschatologischen und sakramentalen Konnotationen bemerkenswert, sondern der Umstand, dass Jesus hier merkwürdigerweise im Hintergrund agiere und nicht öffentlich als Wohltäter oder Retter auftrete. In der den Zyklus schließenden Perikope vom Seewandel (6,45-53) erscheine der Nazarener den entsetzten Jüngern schließlich gar als ein der Totenwelt entstiegenes Gespenst. Diese Sicht ergibt sich für G. daraus, dass Wasser in der Antike chtonisch konnotiert gewesen und das Meer (talassa) als Öffnung in die Unterwelt gesehen worden sei.

Im Schlusskapitel (Kap. 11) hebt G. nochmals eigens darauf ab, dass sich das Markusevangelium angesichts der aufgezeigten Betonung des Unsicheren, Rätselhaften und Furchtbaren nicht im Sinne eines konkreten Codes entschlüsseln lasse. Die gestellte Herausforderung bestünde just darin, sich zu fragen, wie gerade angesichts des im Text beschriebenen, und durch ihn provozierten Ungewissen und Schrecklichen Jesus zu folgen sei.

Elf Appendices zu einzelnen zuvor angesprochenen Themen, die überwiegend eine Darstellung und Diskussion wichtiger Sekundärliteratur bieten, schließen das Buch nebst Literaturverzeichnis sowie Sach-, Autoren- und Begriffsindex ab.

"Not Having the Answer Is the Answer", so lautet die Überschrift des 3. Kapitels. Ihr kommt programmatisches Gewicht zu: Immer wieder akzentuiert G. die Nichtdeterminierbarkeit Jesu unheimlichen Wirkens bei Markus und plädiert dafür, sich dieser auszusetzen. Dadurch erhält sein Buch nahezu ein dekonstruktives Kolorit. Allerdings interessiert G. sich weniger für die grundsätzliche Unabschließbarkeit von Bedeutungen, er postuliert vielmehr ein schriftstellerisch bewusst einkalkuliertes Sinndefizit im Text. Völlig offen bleibt dabei allerdings die Frage, weshalb sich dieses im "anomalous frightful" konzentrierte Sinndefizit vor allem in Mk 4,35-6,56 verdichtet und welche Funktion dieser Zyklus innerhalb des Markusevangeliums insgesamt hat. Dass etwa der die Menschen konsternierende Umgang Jesu mit dem gewalttätig Dämonischen auch an anderen Stellen des Evangeliums auftaucht (vgl. 1,21-28; 9,14-29), bleibt unerörtert. Dies gilt gleichermaßen für weitere Aspekte des "anomalous frightful", die wenigstens z. T. ebenso andernorts begegnen. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob nicht doch wissenschaftliche Modelle und Theorien zur Hand sind, die das von G. herausgeschälte unheimlich Undeterminierte in irgendeiner Form zu erhellen vermögen. So wäre es interessant, G.s Auslegungen mit kulturanthropologischen Ansätzen zu verbinden, etwa mit Mary Douglas' Überlegungen zur transformierenden Kraft des Unreinen oder Victor Turners Liminalitätstheorem.

Wie auch immer, festzuhalten bleibt, dass G.s Auslegungen auch dann, wenn man ihnen nicht rundweg zu folgen vermag, in jedem Fall zum Weiterdenken anregen. Das gilt besonders für die bemerkenswerte Korrelierung einzelner Texte mit antiken Vorstellungen zum gewaltsamen oder unzeitigen Tod. Alles in allem hat G. ein Gewinn bringendes Buch vorgelegt, das innerhalb der neutestamentlichen Fachkreise Aufmerksamkeit verdient.