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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

882–884

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

France, R. T.

Titel/Untertitel:

The Gospel of Mark. A Commentary on the Greek Text.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans; Carlisle: Paternoster Press 2002. XXXVII, 719 S. gr.8 = The New International Greek Testament Commentary. Lw. US$ 55,00. ISBN 0-8028-2446-3 u. 0-85364-576-0.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

In der vergleichsweise jungen nordamerikanischen Kommentarreihe "The New International Greek Testament Commentary" (= NIGTC; hrsg. v. I. Howard Marshall und D. A. Hagner) liegt jetzt eine umfangreiche Kommentierung zum Markusevangelium von R. T. France vor. Dem Vf. ist zu bescheinigen, dass er in seinem Opus die selbstgesteckten Ziele der Reihe einlöst: Gegenstand des Kommentars ist ausdrücklich der griechische Text (GNT 41997; NTG 271993), nicht etwa eine der englischen Standardübersetzungen oder auch eine eigene vom Autor selbst verantwortete Übersetzung. Nicht recht einzusehen und für die Leser/-innen des Kommentars wenig hilfreich ist die Entscheidung, keine eigene Übersetzung anzubieten, an deren Wortlaut seine Interpretation und Auslegung noch einmal abzulesen und kritisch zu verfolgen wäre. Adressaten dieser Kommentierung sind Studierende, Fachexegeten und Multiplikatoren, die einerseits eine allzu überfüllte Kommentierung aller Textdetails und Forschungskontroversen vermeiden wollen und andererseits doch auch den Stand der kontroversen Forschung zuverlässig vor Augen geführt zu bekommen wünschen. Beides geschieht hier in beeindruckender Klarheit und Fairness. In der Tat: Die Leser eines Markuskommentars erwarten eine Auslegung des MkEv selbst, "not a commentary on commentaries on Mark" (1).

Der internationale Anspruch der Kommentierung wird allerdings nur teilweise eingelöst, da die nicht-englischsprachige Fachliteratur größtenteils nur am Rande erwähnt wird. Methodisch und hermeneutisch zielt F. auf eine synchrone und narrative Auslegung des MkEv, die diachrone Fragen deutlich zurückstellt, aber dennoch den vermuteten zeitgeschichtlichen Sitz im Leben des MkEv vorsichtig berücksichtigt (1-3). Mit ansprechenden Argumenten stellt F. das MkEv als "Drama in Three Acts" vor (2.), eine Gattungsbezeichnung, die jedoch nicht im strengen Sinne zu verstehen ist. Insgesamt warnt der Vf. auch dort, wo er das MkEv in die Nähe zu antiken Biographien stellt (4-6), vor einem simplen Schubladendenken und betont durchgehend und mit gutem Recht die Freiheit des Evangelisten in der Darstellung seines Evangeliums. Auch von der Sache her, der Verkündigung des Evangeliums Christi als des am Kreuz gestorbenen und durch seinen Tod die Menschheit erlösenden Sohnes Gottes, ergibt sich "the feeling of otherness" (mit G. Zuntz) für die mit der antiken Literatur vertrauten Leser des MkEv (6 f.). Insgesamt arbeitet F. als mar- kinisches Leitinteresse das Paradox des Christusglaubens heraus (vgl. 20 u. ö.). So lässt sich für F. die Botschaft des MkEv nicht aus einer bestimmten christologischen Kontroverse herleiten (20-23.36). Die Christologie des Evangelisten ist nicht allein aus den christologischen Hoheitstiteln, sondern über die Gesamterzählung zu eruieren (27: "narrative christology"; in der Auslegung von Mk 1,9-11 widerspricht er m. E. zu Recht einer adoptionstheologischen Auslegung; 82 f.). Ihr korrespondiert die Jüngerthematik, die auf die Lesenden hin transparent ist und diese in die Nachfolge zu involvieren sucht (27-29).

Die drei Akte der dramatischen Erzählung des Evangelisten (vgl. 11-15) sind geographisch und theologisch zugleich zu verstehen: Während Jesus in 1,14-8,21 in Galiläa und naher Umgebung wirke, erzählen 8,26-10,52 von seinem Weg nach Jerusalem und 11,1-16,8 von seinem Aufenthalt und Tod in Jerusalem. Inhaltlich stellt der erste Akt die vollmächtige Reich-Gottes-Verkündigung in Wort und Tat vor Augen (88 f.), der zweite Akt den Lern-Weg über den Weg Jesu zum Kreuz (320 f.) und der dritte Akt die heilwirkende Passion Jesu (426 f.). In dieser Anordnung und Deutung sieht F. weniger geschichtliche Erinnerungen als dezidiert mk Komposition. F. warnt vor einer Überbetonung der Spannung zwischen Galiläa und Jerusalem im MkEv (vgl. E. Lohmeyer; R. H. Lightfoot) und sieht in diesem geographischen Aufriss eine Folge der dramatischen Erzählweise des Evangelisten (33-35). In den beiden großen Reden Jesu in Mk 4 und 13 erkennt er bewusste Unterbrechungen des Erzählflusses, die es den Lesern ermöglichen, innezuhalten und der Botschaft und dem Wirken Jesu vertiefend nachzugehen.

Die Überschrift über die Endzeitrede Jesu in 13,7-37: "The End of the Old Order" weist auf eine zu einfache Gegenüberstellung hin, die die gesamte Auslegung dieser Rede bei F. prägt: Mk 13,24-27 beschreiben seines Erachtens "a change of government: the temple and all that it stood for is out, and the son of Man is in" (501). Neben der wenig abgewogenen Einschätzung der mk Position gegenüber Israel provoziert die Deutung der gewöhnlich futurisch-eschatologisch ausgelegten Menschensohnworte in Mk 8,38, 13,26 und 14,62 auf die Erhöhung Jesu und sein Wirken als Erhöhter hin (32 f.342 f.497-503.534 f.610-613) erhebliche Einwände, die hier nicht ausgeführt werden können.

Im Blick auf die Entstehung des MkEv bezieht F. vorsichtig Position für das Papiaszeugnis (7-9; vgl. Eusebius, Hist Eccl III 39,15), nach welchem Markus seine Erinnerungen an die mündliche Evangeliumsverkündigung des Petrus aufgeschrieben habe. Den dortigen Hinweis auf die freie Anordnung des Stoffes durch den Evangelisten relativiert F. freilich mit der sicher stimmigen Beobachtung, dass Markus sein Evangelium erzählerisch und theologisch sehr gut komponiert hat (15-20). Weiterführend ist sein Hinweis, dass Markus mündliche Überlieferung verschriftlicht hat und selbst als Vortragstext intendiert war (9.35 f.). In dieser Linie nimmt er an, dass die mündliche Überlieferung auch für das MtEv und das LkEv noch bestimmend gewesen ist, so dass die Zwei-Quellen-Theorie nicht abgelehnt, aber doch relativiert wird (41-45). So könnten die drei Synoptiker sich auch wechselseitig beeinflusst haben ("cross-fertilisation"). F. folgt der Position von M. Hengel1 hinsichtlich der Zeit und des Ortes der Abfassung des MkEvs: "a Jewish Graeco-Palaestinian, John-Mark, who was a missionary companion of Peter for some time" (Rom 69 n. Chr.; vgl. 40).

Die umfangreichen Einzelauslegungen beinhalten textkritische Beobachtungen, beginnen mit einer überblicksartigen Einführung und führen dann zu ausführlichen Besprechungen einzelner Verse und Worte innerhalb ihres durch das MkEv codierten Bezugsrahmens.

Neben den oben schon angeführten Rückfragen seien weitere kritische Diskussionspunkte angedeutet: Dort, wo F. hinter den Markustext zurückfragt, geraten seine Urteile zu simplifizierend: "Mark tells a good story because Peter must have been a man worth listening to" (18). An dieser (Relevanz des Papiaszeugnisses) und anderen Stellen macht sich der Ausfall einer reflektierten Traditionsgeschichte des Markusevangeliums deutlich bemerkbar. Auch die Deutung des Abendmahles Jesu unterschätzt den traditionsgeschichtlichen Prozess zwischen dem letzten Mahl des historischen Jesus und den Abendmahlszeugnissen im MkEv, MtEv, LkEv und 1Kor. Mit der problematischen Deutung von Mk 14,12 auf den Vorabend des Paschafestes (!) votiert F. für eine Koinzidenz von synoptischer und johanneischer Chronologie und für den Paschamahlcharakter des letzten Mahles Jesu (560 f.).

Trotz verschiedener, die mk Erzählintention aufnehmenden Erklärungen für das als abrupt empfundene Ende in Mk 16,8 hält F. daran fest, dass das MkEv ursprünglich eine Fortsetzung gehabt haben müsse, die er in Analogie zum MtEv (Osterbegegnung mit den Frauen, Osterbegegnung in Galiläa; vgl. Mt 28,9-10.16-20) andeutungsweise rekonstruieren zu können glaubt (670-674). Es sei dahingestellt, ob es sich hier wirklich um "a reasonable guess (it can be no more)" handelt.

Trotz einiger Rückfragen empfiehlt sich der Kommentar insgesamt für einen weiten Kreis von Rezipienten: für die wissenschaftliche Fachwelt ebenso wie für Studierende, die das MkEv aus seiner ihm eigenen erzählten Welt heraus verstehen wollen.

Fussnoten:

1) Vgl. M. Hengel, Studies in the Gospel of Mark, London 1985.