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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

879–882

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Achtemeier, Paul J., Green, Joel B., and Marianne M. Thompson

Titel/Untertitel:

Introducing the New Testament. Its Literature and Theology.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2001. XII, 624 S. m. zahlr. Abb. gr.8 Geb. US$ 35,00. ISBN 0-8028-3717-4.

Rezensent:

Michael Tilly

Das vorliegende umfangreiche Lehrbuch aus der Feder dreier renommierter amerikanischer Exegeten beginnt mit einer kurzen methodologischen Grundlegung (1-13). Der literarische Charakter der neutestamentlichen Schriften nötige zu einem intensiven Vergleich mit der antiken jüdischen und paganen Literatur (5). Die historische Bedingtheit der einzelnen Texte und der Charakter ihrer Sammlung als Ausschnitt aus der umfangreichen literarischen Produktion der christlichen Autoren der ersten beiden Jahrhunderte verbiete ihre homogenisierende Interpretation (8). Die zentrale Bedeutung des Neuen Testaments als Grund und Gegenstand des christlichen Glaubens entbinde nicht von der Notwendigkeit seiner philologisch exakten Interpretation durch die exegetische Wissenschaft (12).

Das 2. Kap. (15-51) bietet einen knappen Überblick über die neutestamentliche Zeitgeschichte. Besonderes Augenmerk erfahren die unterschiedlichen Lebensverhältnisse und deren Wahrnehmung innerhalb der einzelnen Segmente der antiken Gesellschaft und die hohe Bedeutung des Aufeinandertreffens von biblisch-jüdischer Tradition und hellenistisch-römischer Kultur in allen Lebensbereichen. Bei der Behandlung der verschiedenen "Parteien" innerhalb des palästinischen Judentums weisen die Autoren darauf hin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung keiner davon angehörte (35), sondern sich am exklusiven Monotheismus, am Erwählungsbewusstsein, am Tempelkult und an der Toraobservanz orientierte (36 f.).

Kap. 3 (53-87) thematisiert zunächst die Entwicklung der neuzeitlichen Leben-Jesu-Forschung und gelangt zu dem Ergebnis, die Evangelientradition erlaube nicht mehr als eine Annäherung an die Gestalt des historischen Jesus (61). Knapp behandelt werden sodann Entstehung und literarische Merkmale der Gattung "Evangelium", deren Nähe zu antiken Biographien besondere Betonung erfährt (65). Bei der Darstellung des synoptischen Problems und seiner Lösungsmöglichkeiten wird der Neo- Griesbach-Hypothese neben der Zwei-Quellen-Hypothese breiter Raum zugestanden, wobei allerdings weder die minor agreements Erwähnung finden, noch die Logienquelle als beschreibbare literarische Größe behandelt wird.

Mit der Einführung in Mt in Kap. 4 (89-121) beginnt die Untersuchung der einzelnen neutestamentlichen Schriften. Dem Hinweis auf besondere Charakteristika und Probleme des Evangeliums folgen die Analyse seiner Struktur und eine ausführliche Beschreibung seines Inhalts. Erst auf dieser Grundlage und relativ knapp wenden sich die Autoren den eigentlichen Einleitungsfragen zu und bieten abschließend ausgewählte (ausschließlich englischsprachige) Literaturhinweise.

Im Hinblick auf Mk wird in Kap. 5 (123-147) betont, dass sein Evangelium nicht als Bericht, sondern als christologischer Entwurf und als Ruf zur Nachfolge in einer Situation der Verfolgung zu verstehen sei (128). Interessant erscheint mir der ausgeführte Gedanke einer redaktionellen Vorabbildung des Leidens und Todesgeschicks Jesu in der Abfolge der Bedrängnisse in Mk 13 (137). Kap. 6 (149-174) erkennt in Lk ein besonderes Interesse des Evangelisten an "issues of status, power, and social privilege" (173) und das Bestreben, das Heilswerk Gottes in Jesus Christus als Schlüssel zu einem sachgemäßen Verständnis jüdischer Religion und Heilsgeschichte darzustellen (174).

Die Einführung in Joh in Kap. 7 (175-205) betont die hohe Bedeutung der grundsätzlichen Entscheidung zur Nachfolge (179). Wichtig erscheint mir der Hinweis der Autoren, es sei höchst unwahrscheinlich anzunehmen, Joh habe die Gattung "Evangelium" nicht bereits übernommen, sondern gleichsam zum zweiten Mal erfunden (200). Auch der Hinweis darauf, dass uns viele Motive und Vorstellungen des vierten Evangeliums nicht nur in der hellenistischen Literatur begegnen, sondern auch in der jüdischen Tradition, ist festzuhalten (205).

Kap. 8 (207-244) befasst sich mit dem historischen Jesus, seinem irdischen Wirken und seiner Verkündigung, mit der Vorstellung vom Reich Gottes, mit Jesu Wundertaten und Machterweisen. Ausführlich behandeln die Autoren die Messiaserwartungen im antiken Judentum und die christologischen Hoheitstitel im Neuen Testament. Die Frage, ob Jesus selbst sich als der Messias Israels verstand, wird verneint (234 f.). In Kap. 9 (245-269) werden zunächst literarisches Genre und Intention der Apg erörtert, deren Quellenwert für die Rekonstruktion der Geschichte der ersten Christen Betonung erfährt (249). Das "Wir" in den einschlägigen Textpassagen folge allerdings einer schriftstellerischen Konvention antiker Geschichtsschreibung (268). Kap. 10 (271-281) befasst sich mit dem Brief in der Antike, Kap. 11 (283-297) mit den Strukturen der antiken Gesellschaft und der Biographie des Heidenapostels.

Die Darstellung des Röm in Kap. 12 (299-326) geht von einer doppelten Zielrichtung des Schreibens aus, nämlich dem Werben um Unterstützung durch die römischen Christen und der Bestreitung der Agitation judenchristlicher Gegner in Jerusalem (301); die Behandlung der korinthischen Korrespondenz in Kap. 13 (327-354) rekonstruiert fünf aufeinander folgende Schreiben des Apostels ("Vorbrief"; 1Kor; "Tränenbrief"; 2Kor 1-9; 2Kor 10-13) (333). Vor allem der Gebrauch des Ethnikons als Adressatenbezeichnung im Gal (Kap. 14; 355-375) spreche für die Landschaftshypothese (374). Der Verfasser des Eph (Kap. 15; 377-389) sei ein Vertrauter des Paulus gewesen, der seine Theologie in einem neuen Kontext appliziert habe (381). Hinsichtlich des Phil (Kap. 16; 391-405) sei an eine Abfassung des Schreibens bereits Mitte der 50er Jahre in Ephesus zu denken (403). Eigenwillig ist die gemeinsame Behandlung von Kol und Phlm in Kap. 17 (407-426). Die Autoren halten die paulinische Verfasserschaft des Kol auf Grund der fehlenden Bezugnahme auf die Zerstörung Kolossaes (61 n. Chr.) und der prinzipiellen Möglichkeit von Entwicklungen und Brüchen im paulinischen Denken für erwägenswert.

Ebenso wird 2Thess in Kap. 18 (427-446) zusammen mit 1Thess behandelt und als paulinisches Schreiben gedeutet, ohne dass Gegenargumente wie z. B. die massive Sinnverschiebung bei der Rezeption von 1Thess 2,9 in 2Thess 3,8 eine Erklärung erfahren (444). Auch hinsichtlich der Pastoralbriefe (Kap. 19; 447-464) wollen die Autoren die paulinische Verfasserschaft nicht ausschließen. Der Hebr (Kap. 20; 465-490) unternehme den Versuch, durch eine eigenständige Interpretation des Christuskerygmas Glaubenszuversicht unter den bedrängten Christen zu wecken. Kap 21 (491-512) bietet eine ausführliche Diskussion der Gattungszugehörigkeit von Jak (499-502). Bei der Darstellung von 1.2Petr und Judas (Kap. 22; 513-534) benennen die Autoren Argumente für eine apostolische Verfasserschaft des 1Petr. Den Hinweis auf einen offenkundigen Mangel an "petrinischer" Theologie kontern sie mit der Gegenfrage, ob eine solche aus den Quellen überhaupt zu erheben ist (520). Hinsichtlich 2Petr wagen die Autoren keine Aussagen über Zeit und Ort der Abfassung. Auch die Darstellung von Jud beschränkt sich auf literarische Probleme; eigentliche Einleitungsfragen werden nicht thematisiert.

Die Johannesbriefe (Kap. 23; 535-553) seien als Zirkularschreiben an eine Reihe von Gemeinden (1Joh), als an eine dieser Gemeinden gerichtetes Begleitschreiben (2Joh) und als Brief an eines ihrer prominenten Mitglieder (3Joh) zu verstehen (536). Kap. 24 (555-587) hält hinsichtlich der Apk fest, dass die gegen Ende der Regierungszeit Domitians abgefasste Schrift Gattungsähnlichkeit mit einem Rundbrief, mit der Schriftprophetie und mit der sog. "apokalyptischen Literatur" aufweise, wobei die Autoren letztere Gattung vor allem anhand literarischer Phänomene definieren. Das abschließende Kapitel 25 (589-608) bietet einen kurzen Überblick über den Kanonisierungsprozess der neutestamentlichen Schriften in Abgrenzung von Schriftensammlungen heterodoxer Strömungen. Beigegeben ist ein Index der Namen und Sachen (609-624).

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Autoren durchweg einen gemäßigt konservativen Standpunkt einnehmen, ohne jedoch anders lautende Meinungen zu unterschlagen. Auch dort, wo dieser Standpunkt von der Mehrzahl der Exegeten kritisch betrachtet wird, bieten sie keine vermeintlich eindeutigen Lösungen, sondern stellen in differenzierter Weise die Argumente der unterschiedlichen Positionen dar. Durchgängig präsentiert das Buch sachlich relevantes religionsgeschichtliches und literarisches Vergleichsmaterial, Schaubilder, Landkarten und Illustrationen aus der abendländischen Kunstgeschichte.

Als Kritik muss festgehalten werden, dass nicht wenige literarkritische Probleme der einzelnen neutestamentlichen Schriften übergangen werden. So werden z. B. weder die Kohärenzprobleme von Joh 4-7 und 13-17 erwähnt noch wird die Frage der Integrität von Joh 21 gestellt. Jüngere rabbinische Quellen werden unkritisch als zeitgenössisches Vergleichsmaterial behandelt (z. B. 226), ohne ihren eigenständigen Kontext zu berücksichtigen. Ob sich Paulus und seine Leser generell an einer idealisierten Vergangenheit orientierten, ist fraglich (284). M. E. bezeugt die apokalyptische Literatur allein eine Entsprechung der idealen Urzeit und der erhofften Heilszeit. Der Verlauf der Geschichte hingegen wurde im 1. Jh. zumeist noch im Sinne der überkommenen deuteronomistischen Konzeption konnotiert. Während die Behandlung der Evangelien und der paulinischen Hauptbriefe klar gegliedert erfolgt, ist die Darstellungsweise bei den "kleinen" Briefen eklektisch und unübersichtlich. Zu fragen ist nach der beabsichtigten Lernintention eines ganzseitigen Kastens (201), in dem im Anschluss an die Bedeutung des Judentums bei Joh zahlreiche judenfeindliche Zitate deutscher Theologen (ohne genaue Quellenangaben) zusammengestellt sind.

Insgesamt tritt das vorliegende Werk nicht in Konkurrenz zu den gängigen deutschsprachigen Einführungen und Arbeitsbüchern, wenngleich die Integration der relevanten Vergleichstexte und die Aufbereitung der Grafiken, Karten und Schaubilder geradezu vorbildhaft ist. Von Interesse ist das Buch vor allem für jeden, der sich über aktuelle Tendenzen innerhalb des konservativen Segments der amerikanischen neutestamentlichen Wissenschaft informieren will.