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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

869 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ohlig, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Religion in der Geschichte der Menschheit. Die Entwicklung des religiösen Bewusstseins.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002. 272 S. m. Abb. 8. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-534-15212-3.

Rezensent:

Andreas Feldtkeller

Die Religionswissenschaft hat ein gespaltenes Verhältnis zu Entwicklungsmodellen. Weit verbreitet ist eine völlige Abneigung gegen jegliche Differenzierung zwischen Formen der Religion, die älteren und jüngeren Stadien von Entwicklung zugeordnet werden. Diese Position hat ihre Berechtigung in dem Anliegen, dass keine Gestalt von Religion mehr anderen gegenüber als "primitiv" dargestellt werden soll.

Auf der anderen Seite bleibt eine solche Entscheidung unbefriedigend, wenn sie eine wissenschaftliche Theoriebildung zu beobachtbaren Strukturparallelen verweigert, die zwischen religionsgeschichtlichen Prozessen in verschiedenen Teilen der Welt gefunden werden. Deshalb gibt es immer wieder Bemühungen darum, an der Vorstellung von Entwicklung in der Religionsgeschichte festzuhalten, aber sie in eine Sprache zu bringen, die möglichst wenig wertet.

Wer sich nicht grundsätzlich gegen Entwicklungsmodelle entschieden hat, sollte sich das Buch von Karl-Heinz Ohlig ansehen. Natürlich sind bei einem Durchgang durch die gesamte Religionsgeschichte der Menschheit auf 250 Textseiten Vereinfachungen nicht zu vermeiden, aber es ist beeindruckend, welche Fülle von Material und Kenntnissen in diese Darstellung eingegangen sind, insbesondere was Differenzierungen innerhalb der Religionsgeschichte vor dem Entstehen der so genannten Hochkulturen anbelangt.

Die alte Frage, die einmal zu dem Begriff der "primitiven" Religion geführt hatte, nämlich nach der Beziehung zwischen prähistorischer Religion (vor der Entstehung von Schriftsystemen) und Religionen schriftloser Kulturen, die in der Neuzeit vorgefunden wurden, greift O. mit der differenzierenden Beobachtung auf, dass verschiedene Formen schriftloser Kulturen jeweils in weltweiter Streuung erhalten geblieben seien (103), und dass diese Formen Parallelen zu Merkmalen prähistorischer Religion verschiedener Stadien aufwiesen (107). Das Modell, mit dem O. diesen Befund interpretiert, ist das eines Flickenteppichs, bei dem immer neue Flicken zu einem tragenden Grundmuster hinzukommen: Er geht aus von einer Aufeinanderfolge jeweils weltweit verbreiteter Kulturen, wobei immer Gruppen von Menschen in abgelegenen Gebieten am weiteren Verlauf der weltweiten Entwicklung nicht beteiligt waren, sondern ihre eigene Geschichte hatten. Dadurch sind rezente Jäger- und Sammlerkulturen als "frühe - keineswegs aber unbedingt ursprüngliche Religionsstufen" zu verstehen (103).

Dieses Modell wird im weiteren Verlauf des Buches auf die noch folgenden, im Vergleich zur Religionsgeschichte der Steinzeit sehr kurzen Phasen wiederum weltweiter religiöser Entwicklung angewandt, wobei sich jedoch versteht, dass keine Epoche der Religionsgeschichte in der darauffolgenden endgültig überwunden ist (vgl. 111), sondern zusätzliche religiöse Ausdrucksformen und Denkmuster zu den weiter bestehenden hinzufügt.

Drei Zäsuren sind noch zu nennen: erstens der Übergang zu der von O. so genannten "Hochreligion", nämlich der Form von Religion, wie sie gemeinsam mit den "Hochkulturen" aufkommt. Für sie möchte O. keine weltweit verbindenden Inhalte behaupten, wohl aber gemeinsame Strukturen: u. a. das Konzept der "personenanaloge(n) Gottheit" (120), das eine Mehrzahl solcher Gottheiten zu denken erlaubt und dabei den höchsten Rang in der Regel männlichen Gottheiten einräumt, während bis ins Neolithikum der noch nicht persönlich gedachte umgreifende Sinn vorwiegend mit weiblich-mütterlichen Attributen verknüpft wurde (118). Damit verbunden ist eine Umkehr der religiösen Blickrichtung von der Erde zum Himmel.

Die zweite Zäsur bildet das Aufkommen der Universalreligionen. Darunter versteht O. Religionen, die auf der jeweiligen heimatlichen hochreligiösen Tradition beruhen, in denen aber die menschliche Sinnfrage "auf eine Weise artikuliert und gelöst (wird), dass die neuen Theorien und Handlungsmodelle prinzipiell für alle (Menschen) eine Option sein könnten ..." (157). Komprimiert auf 70 Seiten erfolgt unter dieser Rubrik ein Durchgang durch diejenigen religiösen Traditionen, die normalerweise im Zentrum der Aufmerksamkeit religionsgeschichtlicher Beschreibung stehen. O. unterscheidet drei Varianten universaler religiöser Theorien, nämlich Monismus (Hinduismus, Buddhismus, chinesische und griechische Universalismen), Monotheismus (Judentum, Christentum, Islam) und Dualismus (Zarathustra-Religion, Parsismus, Gnosis, Manichäismus).

Als eine mögliche dritte Zäsur, jedoch mit vorsichtiger Beurteilung, ob es sich tatsächlich um eine solche handelt, wird die "kritische Wende" in der Religionsgeschichte diskutiert, nämlich der Übergang zu immanenter Religionskritik, der jedoch hier in seiner Wirkung auf das westliche Christentum lateinischer Tradition beschränkt gesehen wird. Das von O. verwendete Makro-Modell der Religionsgeschichte würde es erlauben, darin einen neuen Flicken auf dem Flickenteppich zu sehen, bei dem noch abzuwarten bleibt, ob er sich zu einer wirklich weltweiten Kultur auswächst, die - wie alle früheren "Religionsstufen" - zum Vorangegangenen zwar hinzutritt, aber es nicht vollständig verdrängt. Einem Rezensenten, der sich mit dem Konzept "religiös motivierter Religionskritik" auf eine breitere Einbettung des Phänomens Religionskritik in die Religionsgeschichte festgelegt hat, möge man es nachsehen, wenn er der Begrenzung von immanenter Religionskritik auf den Raum des westlichen Christentums nicht zu folgen vermag.

Das Buch zu lesen lohnt. Es vermittelt eine komprimierte Zusammenschau von Religionsgeschichte, die ihresgleichen sucht, und auch wenn man nicht allem zustimmen wird, regt es dazu an, sich nicht mehr mit diffuseren Vorstellungen über makro-historische Zusammenhänge in der Religionsgeschichte zu begnügen.