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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

865–867

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Broek, Roelof van den, and Cis van Heertum

Titel/Untertitel:

From Poimandres to Jacob Böhme: Gnosis, Hermetism and the Christian Tradition.

Verlag:

Amsterdam: In de Pelikaan 2000. 432 S. m. 1 Abb. gr.8 = Pimander, Texts and Studies published by the Bibliotheca Philosophica Hermetica, 4. Lw. ISBN 90-71608-10-7 (über Brill, Leiden).

Rezensent:

Marco Frenschkowski

In Deutschland nach wie vor zu wenig beachtet, hat sich in Frankreich, den Niederlanden, aber auch anglophonen Ländern seit etwa 1980 eine explosionsartige Vermehrung der Forschung über Traditionen westlicher Esoterik entwickelt. Die Hermetische Literatur steht dabei in einem Mittelpunkt des Interesses. Gegenüber älteren Positionen (A.-J. Festugière) haben sich drei fundamentale Verschiebungen ergeben: die Aufteilung in eine "höhere" philosophische Hermetik (Corpus Hermeticum) und eine "niedere" (alchemistisch-magisch-astrologische) ist nicht zu halten. Beide Aspekte hermetischer Tradition sind untrennbar vernetzt; die Unterscheidung stammt ausschließlich aus dem theologischen Unbehagen gegenüber "okkulter" Literatur. Gegenüber der Sicht, die Hermetik stelle eine eher banale Fassung griechischer Popularphilosophie im Gewand fingiert ägyptisierender Offenbarungsliteratur dar, hat sich definitiv ein ägyptischer Ursprung zentraler Gedanken, Motive und Begriffe durchgesetzt, nicht zuletzt durch die Entdeckung neuer ägyptischer Texte bis in die allerjüngsten Jahre. Als dritte Verschiebung hat gegenüber einer Deutung des Corpus Hermeticum als eines "Lesemysteriums" eine Sicht an Boden gewonnen, derzufolge es zumindest im kaiserzeitlichen Ägypten eigene hermetische Gemeinden gegeben habe. Diese werden dann gerne mit Freimaurerlogen u. ä. verglichen, oder mit gnostischen oder orphischen "Konventikeln" (ein pejorativer Begriff, der in der Forschung mittlerweile vermieden wird). Damit kehrt die Forschung in manchen Punkten (nicht im letztgenannten) zu Fragestellungen von Richard Reitzenstein zurück (Poimandres. Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen Literatur, Leipzig 1904). Ich wage die Vermutung, dass auch andere Ideen der Religionsgeschichtlichen Schule eine Renaissance erleben könnten, sobald die Berührungsängste gegenüber den aus heutiger Sicht superstitiösen Literaturen der Antike (etwa gegenüber Magie und Mantik) auch im deutschen Sprachraum überwunden sein werden. Der angezeigte Band bietet Ergebnisse eines Kolloquiums, welches aus Anlass des 80. Geburtstages von Gilles Quispel (30. Mai 1996) von der Universität Amsterdam veranstaltet wurde. Neben den Vorträgen wurden neuere Arbeiten Quispels zum Themenfeld wiederabgedruckt, daneben weitere bereits an entlegener Stelle erschienene Studien anderer Autoren zur Hermetik.

Inhalt: J. R. Ritman, Per Unum - Ad Unum (9-11); R. van den Broek, Introduction (13-15); P. Kingsley, An Introduction to the Hermetica: Approaching Ancient Esoteric Tradition (17-40); ders., Poimandres: The Etymology of the Name and the Origins of the Hermetica (41-76; These: Poimandres < kopt. p-eime nte-re "The understanding/knowledge of Re"; auch zur linguistisch nicht möglichen Volksetymologie "poimen andron" "Menschenhirte"); R. van den Broek, Religious Practice in the Hermetic Lodge: New Light from Nag Hammadi (77-95); ders., The Hermetic Apocalypse and Other Greek Predictions of the End of Religion (97-113); ders., Hermes and Christ: Pagan Witnesses to the Truth of Christianity (115-144); G. Quispel, Hermes Trismegistos and the Origins of Gnosticism (145-165); ders., Reincarnation and Magic in the Asclepius (167- 231); ders., The Original Doctrine of Valentinus the Gnostic (233-263; kritisch zu Ch. Markschies); ders., Transformation through Vision in Jewish Gnosticism and the Cologne Mani Codex (265-269); ders., Paul and Gnosis: A Personal View (271-302); ders., Gnosis and Alchemy: the Tabula Smaragdina (303-333); C. Gilly, Die Überlieferung des Asclepius im Mittelalter (334-367; zeigt, dass der lateinische Asclepius im Gegensatz zum griechischen Corpus Hermeticum in der westlichen Theologie des Mittelalters breit rezipiert wurde; Albert d. Gr. zitiert allein etwa 120-mal); J.-P. Mahé, La Renaissance et le mirage égyptien (369-384); C. Gilly, Das Bekenntnis zur Gnosis von Paracelsus bis auf die Schüler Jacob Böhmes (385-425). Aus dem letzten Aufsatz lernt man u. a., wann zum ersten Mal in der Neuzeit "Gnostiker" als offene positive Selbstbestimmung möglich wird: bei Abraham von Franckenberg, Theophrastia Valentiniana (1629, publiziert erst 1703 anoynm durch Gottfried Arnold).

Zu Einzelheiten: Der Begriff Gnosis wird sehr weit und etwas willkürlich gebraucht ("the inner experience of ultimate reality", 13; anders 164.294). Wertvoll sind Erwägungen über den initiatorischen (also performativen) Charakter der gnostischen (und hermetischen) "Rätselrede" (26-28). Abgelehnt wird (m. E. mit Recht) die Idee, das Corpus Hermeticum zeige christliche Einflüsse (61 u. ö.); jüdische sind dagegen Konsens (69; klassisch: C. H. Dodd, The Bible and the Greeks, 21954). Schwer zu beurteilen ist die "Erlebnisechtheit" hermetischer Visionen (insbesondere NHC VI, 6 De Ogdoade et Enneade), die R. van den Broek verteidigt (92). Gegen Quispels Annahme, der einflussreichste Text der abendländischen Alchemiegeschichte, die Tabula Smaragdina, sei entgegen herrschender Meinung nicht erst arabisch (und von da ins Lateinische übersetzt), sondern doch schon spätantik (4. Jh.: 324 f.), spricht das Fehlen jeglicher Zitate in der reichen antiken griechisch-alchemistischen Literatur. Spekulativ ist auch die Vermutung, dieser Text setze ebenso wie Zosimus von Panopolis traditionsgeschichtlich oder sogar literarisch ThEv voraus (311-316.325). Widerlegt ist (durch B. Aland) die Annahme, Irenäus bezeuge bereits den vollen "Westlichen Text" (so 320). Falsch ist die These, erst die Christen hätten griechisch "Kyrios" für das Tetragramm in die Septuaginta eingesetzt (207.310); schon Philon setzt Kyrios für Jahwe voraus. Quispels kuriose literargeschichtliche These zu Joh., die u. a. mit einer Vorlage rechnet, die vom Verfasser der Apk. (!) stamme (211), scheint mir sachlich unmöglich. Bedenkenswerter scheinen mir Quispels Überlegungen zu spezifisch ägyptischen Wurzeln der Gnosis: "How was it possible that I needed eighty years before I discovered that the basic tenet of Gnosticism, Encratism, and esoteric Judaism originated in Egyptian magic? (...) And how was it possible that, as far as I know, nobody ever discovered this?" (216). Quispel denkt besonders an ägyptische Totenbuch-Magie. Seine These ist doch wohl etwas reichlich zuversichtlich formuliert, weist aber auf ein Traditionsstratum hin, das vielleicht zu wenig bedacht wurde. Der beabsichtigte Paradigmenwechsel in der Erforschung der Renaissance, der durch die Bücher von Frances A. Yates seit 1964 inauguriert wurde, wird von der jüngeren Geschichtswissenschaft eher kritisch gesehen, was Quispel in seiner Begeisterung für diesen Ansatz (221 f.) nicht wahrnimmt. Ob Valentin wirklich der Autor des Briefes an Rheginus NHC I, 4 ist (255 f.), bleibt eher fragwürdig. Quispels Gesamtschau des Paulus (271-302) verdient wie vieles in dem Band weitergehende Beachtung; sie wartet mit vielen spekulativen Thesen auf. Wie einst von Reitzenstein wird der Apostel dezidiert als Gnostiker verstanden, was nur durch eine (m. E. illegitime) Ausweitung des Gnosisbegriffs möglich wird. Ähnlich wie einst für A. Schweitzer ist für Quispel die Rechtfertigungslehre eine heute in ihrer forensischen Struktur nicht mehr nachsprechbare Veranschaulichungsform paulinischer Christusmystik (300).

Solche Thesen sind nicht mehr so weit außerhalb des Diskurses der neutestamentlichen Wissenschaft, wie sie es vor 40 Jahren gewesen wären; aber tief problematisch bleiben sie dennoch. Eine letzte kritische Bemerkung: Zwar besitzen wir hermetische Hymnen und Gebete und (vage) Indizien für rituelle Handlungen, aber ob daraus wirklich die Existenz eigener hermetischer Gemeinden folgt (77-95.170.326 f.; offenbar Konsens der Autoren), ist mir fraglich. Wir verfügen über kein einziges äußeres Zeugnis für solche hermetischen Gemeindebildungen, was doch bei der guten Quellenlage für Ägypten zu erwarten wäre. Wie, wenn die Hermetik in einem "gebildeten" Umfeld graecoägyptischer Tempel gepflegt worden wäre, ohne eigene abgrenzbare Gruppenstrukturen zu besitzen? Auch lehrt die Soziologie moderner esoterischer Richtungen (vgl. meinen Artikel "New Age" in RGG4), dass man sich deren Gruppenbildungen oft nicht nach dem Muster von Kirchen oder gar autoritär verfassten "Sekten" vorstellen darf, sondern in Form lockerer Sympathisantenkreise. In gewisser Hinsicht verhält sich die Hermetik zur ägyptischen Tradition wie die Gnosis zur jüdisch-christlichen; gerade als signifikante "Parallelerscheinung" zur Gnosis auf anderer Traditionsbasis ist sie von höchstem Interesse.

Die Bibliotheca Philosophica Hermetica (J. R. Ritman Library) in Amsterdam ist eine 1957 von dem Geschäftsmann Joost R. Ritman gegründete und seit 1984 öffentlich zugängliche Einrichtung, die sich auf die Sammlung von Texten christlicher u.a. Hermetik und ähnlicher Traditionen spezialisiert hat und auch Ausstellungen und Tagungen durchführt. Die Sammlung umfasst augenblicklich knapp 20.000 Bücher und etwa 550 Manuskripte. Wer wissen will, wie heute eine seriöse Erforschung esoterischer Traditionsströme aussieht, wird an dem Band und der ganzen Unternehmung der Bibliotheca Philosophica Hermetica Gefallen finden.