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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

855–866

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens

Titel/Untertitel:

Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus

Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften*

Es gehört zu den zentralen Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft, der jeweiligen Gegenwart ein auf den urchristlichen Zeugnissen basierendes Bild von den Anfängen des Christentums zu vermitteln. Auf diese Weise leistet sie als historische Disziplin ihren spezifischen Beitrag zur Theologie. Angesichts des in Aufklärung und Historismus herausgebildeten historisch-kritischen Bewusstseins, das die Voraussetzung der gegenwärtigen Beschäftigung mit der Vergangenheit bildet, stellt sich die Frage, wie zu einer auf den Zeugnissen des Urchristentums basierenden Geschichte gelangt werden kann, die als Beitrag in das theologische Gespräch einzubringen ist.1 Wie alle anderen historischen Texte auch, sind die Quellen des Urchristentums nicht einfach mit der Wirklichkeit, auf die sie verweisen, identisch, sondern beziehen sich auf diese in selektierender und interpretierender Weise. Sie tun dies, wie andere Texte auch, im Medium der Sprache, die den Zugang zur Wirklichkeit strukturiert und zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermittelt.2 Geschichte liegt nicht einfach in den Zeugnissen der Vergangenheit verborgen, sondern muss durch einen kreativen, sinnbildenden Akt aus ihnen erhoben werden.3 Hieraus ergibt sich die erkenntnistheoretische Frage nach dem Verhältnis von vergangenem Geschehen und historischer Einbildungskraft in der Geschichtsschreibung. Will die neutestamentliche Wissenschaft ihrer Aufgabe auf methodisch reflektierte Weise nachkommen, ist sie hierauf - und damit auf das Gespräch mit der Geschichts-theorie - verwiesen.4 Im dem Folgenden werden zunächst einige Aspekte aus der jüngeren geschichtstheorischen Diskussion aufgegriffen, die sodann für die neutestamentliche Wissenschaft fruchtbar gemacht werden.5

1. Methodische Grundlagen des

neuzeitlichen Geschichtsbegriffs


Die neuere geschichtstheoretische Diskussion im europäischen Raum setzt in den siebziger Jahren des vorigen Jh.s ein6 und hat sich in einer inzwischen kaum noch überschaubaren Zahl von Publikationen niedergeschlagen.7 Parallel dazu entstanden in den USA die Arbeiten von Hayden White, die das europäische Geschichtsdenken des 19. Jh.s angesichts des linguistic turn reflektieren und mittlerweile auch in der europäischen Diskussion rezipiert werden.8 Damit wird der Notwendigkeit eines Diskurses über die theoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft Rechnung getragen, der durch den nachhaltigen Einfluss des Historismus in Deutschland bis etwa zur Mitte des 20. Jh.s kaum stattgefunden hatte. Zwar hatte Johann Gustav Droysen in seinen Vorlesungen zur Historik bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s die Grundlagen historischen Erkennens einer sorgfältigen Analyse unterzogen.9 Die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich jedoch zunächst nur wenig um eine Weiterentwicklung dieser methodischen Grundlegung bemüht, sondern sich stattdessen an der maßgeblich durch Leopold von Ranke inaugurierten, auf kritisches Quellenstudium gegründeten Herausarbeitung des Wesens vergangener Epochen orientiert, ohne die hiermit verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme eigens zu thematisieren. Auch die von Ernst Troeltsch und Max Weber entwickelten Ansätze zur Überwindung der Probleme des Historismus haben diese Situation zunächst nicht grundlegend verändert.

Der vor nunmehr drei Jahrzehnten neu in Gang gekommene Diskurs über die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Zuganges zur Vergangenheit unter den Bedingungen des historisch-kritischen Bewusstseins ist in diesem größeren Horizont anzusiedeln. Trotz nicht zu leugnender Verdienste des Historismus, die sich in seiner differenzierten Beurteilung niederschlagen,10 ist die ihm inhärente "Theorieschwäche" unverkennbar.11 Diese besteht in einer am Verstehensbegriff orientierten, individualisierenden Hermeneutik, die eine Abweisung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen zur Folge hatte,12 sowie in einer ungenügenden Differenzierung zwischen der Vergangenheit und der vom Historiker entworfenen Geschichte, die sich in einem positivistischen Erklärungsmodell niederschlug.13

Demgegenüber hatte bereits Droysen geltend gemacht, dass die Vergangenheit nicht in einem Akt unmittelbarer Einfühlung wahrgenommen werde, historisches Erkennen vielmehr auf einem "durch Kritik und Interpretation gewonnene[n] Verständnis" basiere.14 Droysen kritisierte also die Auffassung, das Wesen der Geschichte bestehe in der Kritik der Quellen, die zur "reinen Tatsache" führe, und hielt dem entgegen, dass die interpretierende Tätigkeit bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit die Vorstellung einer historischen Objektivität von vornherein einschränkt.15 Das "Wesen der geschichtlichen Methode" bestimmte er folglich nicht als Ermittlung der reinen Tatsache, sondern als Akt forschenden Verstehens.16 War das Wesen historischen Arbeitens auf diese Weise von der Interpretation her bestimmt, die die Ergebnisse der Kritik aufnimmt und weiterführt,17 so bedeutete dies den Einbau einer konstruktivistischen Komponente in den historischen Erkenntnisprozess, durch die der jeweilige Geschichtsentwurf von der vergangenen Wirklichkeit bereits im Ansatz methodisch unterschieden wurde.18

Auch wenn Weber Droysen kritisch gegenüberstand, hat er bei diesem vorhandene Ansätze erkenntnistheoretisch ausgebaut. Durch seine Analyse sozial- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnis19 wird die Vorstellung eines unmittelbaren Bezugs auf den Erkenntnisgegenstand durch die Unterscheidung von wissenschaftlichen Fragestellungen und persönlichen Werturteilen sowie durch die Einführung der heuristischen Kategorie des "Idealtypus" weiter relativiert. Mit Webers klarer Trennung von Wirklichkeit als chaotischem, amorphem Strom von Ereignissen und der Erkenntnis erst ermöglichenden Kategorie des Idealtypus wurde ein wesentliches Defizit des Historismus bearbeitet.20

Die gegenwärtige Geschichtstheorie steht in der Tradition dieser Einsichten. So wichtig bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit eine kritische Durchdringung des historischen Materials ist - an Droysens Einsicht, dass auch die Kritik nicht die "eigentliche historische Tatsache" sucht,21 führt kein Weg vorbei. Webers Betonung, dass kulturwissenschaftliche Erkenntnis Wertentscheidungen nicht zu begründen vermag und Vergangenheit stets aus dem Interesse und mit den heuristischen Mitteln der Gegenwart befragt wird, ist eine erkenntnistheoretische Einsicht, hinter die nicht mehr zurückzufallen ist. Es ist unbestreitbar, dass das historische Material erst durch die an es herangetragenen Fragestellungen und Erkenntnisinstrumente, erst durch die Darstellung ermittelter Tatsachen in der eigenen Sprache, zu einer Informationsquelle über die Vergangenheit wird. Vergangene Tatsachen und Ereignisse sind niemals so, wie sie sich einst zugetragen haben, zugänglich. Die Überführung historischer Quellen in Geschichte stellt vielmehr einen komplexen Prozess von deren Analyse, Auswertung und Einordnung in einen zusammenhängenden Ereignisverlauf dar, für den die historische Einbildungskraft unabdingbar ist, denn die Quellen selbst sind noch keine Geschichte.22 Es ist dieses eigentümliche Ineinander von Konstruktion und Rekonstruktion, das die neuzeitliche Geschichtswissenschaft seit ihren Anfängen charakterisiert und in jüngerer Zeit zur Neuaufnahme des Gesprächs zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern über das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Literatur geführt hat.23 Damit wird eine Dimension wiederentdeckt, die für die Ausprägung des neuzeitlichen Geschichtsdenkens von zentraler Bedeutung war und die nunmehr mit der historischen Kritik in Beziehung zu setzen ist.24

Die genannten Entwicklungen führen zu der - bereits im 18.Jh. beginnenden - Auflösung der aristotelischen Opposition von Geschichtsschreibung, die überliefere, was geschehen ist, und Dichtung, die fingiere, was gewesen sein könnte.25 Diese Gegenüberstellung wird unter den Bedingungen des neuzeitlichen Geschichtsbewusstseins als erkenntnistheoretisch ungenügend erkannt und durch einen Geschichtsbegriff ersetzt, der die in der Kategorie der erzählten Zeit kulminierende Gemeinsamkeit mit der literarischen Erzählung herausstellt.26 Gelangt die kritische Sichtung des historischen Materials erst in dem Geschichtsentwurf an ihr Ziel, der die vergangene Zeit in der Gegenwart repräsentiert,27 dann ist die Einbindung des Interpretationsvorgangs in die Methodik historischen Erkennens unverzichtbar - die Geschichtsschreibung wird zum "Theorieproblem der Geschichtswissenschaft".28

Fiktionalität kann dann nicht länger auf freie Erfindung begrenzt werden, die der Dichtung zuzuweisen, aus der Geschichtsschreibung dagegen herauszuhalten wäre.29 Für letztere ist vielmehr gerade die Wirklichkeit erschließende Kraft, die Fiktionen als "heuristische Hypothesen über die Wirklichkeit" besitzen, von Interesse, weil sie einen an den Quellen orientierten Zugang zur Vergangenheit allererst ermöglichen.30 Die Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Dichtung wird damit nicht hinfällig. Für die methodische Grundlage des Geschichtsbegriffs ist gleichwohl die Einsicht in die voneinander nicht zu trennenden Prozesse des kritischen Quellenstudiums und der Interpretation mit Hilfe der historischen Einbildungskraft unverzichtbar, weil nur so auf methodisch reflektierte Weise aus Quellen Geschichte werden kann.31

2. Geschichtsheorie und

neutestamentliche Wissenschaft


An der Herausbildung des neuzeitlichen Geschichtsbegriffs waren protestantische Theologen wesentlich beteiligt.32 Die Entstehung der kritischen Bibelwissenschaft als einer gegenüber der Dogmatik eigenständigen Disziplin ist deshalb ein wesentliches Resultat dieses Prozesses. Die Entwicklung von der Aufklärungshistorie des 18. zum Historismus des 19. Jh.s hat sich dabei in der theologischen Diskussion ebenso niedergeschlagen wie die Entstehung der Geschichtsphilosophie. Dies weist bereits auf den engen Zusammenhang zwischen der Entstehung des neuzeitlichen Geschichtsbewusstseins und einer wissenschaftlich verantworteten Theologie hin. Die oben skizzierten neueren Entwicklungen in der Geschichtstheorie sind deshalb auch in der neutestamentlichen Wissenschaft zu bedenken.

Der Durchbruch zum historischen Denken machte sich zuerst und am nachhaltigsten an der Diskussion um einen von dogmatischen Setzungen unverstellten Zugang zu Jesus als Grundlage des christlichen Glaubens bemerkbar. War zunächst durch Hermann Samuel Reimarus die Lehre Jesu von derjenigen der Apostel abgetrennt worden, so stand das 19. Jh. im Zeichen der Suche nach einem an den Maßstäben historischer Kritik gewonnenen Bild von Jesus und der Geschichte des Urchristentums.

In geschichtsmethodologischer Hinsicht war die Diskussion von der Auseinandersetzung mit der Tübinger Schule, namentlich mit David Friedrich Strauß und Ferdinand Christian Baur, geprägt. Mit dem 1835/36 erschienenen "Leben Jesu" von Strauß setzte sich kurz darauf (1838) Christian Hermann Weiße auseinander, der dessen These von der mythischen Prägung der Jesusüberlieferung einen durch historische Forschung gesicherten Jesus als Grundlage des christlichen Glaubens entgegenstellen wollte. Die von ihm entwickelte Theorie zweier auf mittelbarer bzw. unmittelbarer Augenzeugenschaft beruhender Quellen (die von Markus aufgezeichneten Petruserinnerungen sowie die Spruchquelle des Apostels Matthäus) sollte dabei dazu dienen, die Vorstellung einer frei umlaufenden mündlichen Tradition zu widerlegen und die maßgeblichen Inhalte des Christentums stattdessen auf zwei historisch zuverlässige Quellen über Jesus zu gründen. Dieser Ansatz hat die Jesusforschung bis zum Anfang des 20. Jh.s geprägt und eine Rezeption geschichtshermeneutischer Einsichten in diesem Bereich weitgehend verhindert. Gegenwärtig erfährt er in manchen Jesusdarstellungen eine Wiederbelebung.

Auch Baur hat theologischerseits entschiedene Ablehnung erfahren.33 Seine historische Kritik, z. T. überzogen und unhaltbar, hat auch die produktiven Aspekte seines Ansatzes in Misskredit gebracht. Gegen seine Festlegung auf die Mt-Priorität sprachen deutliche Argumente, die seine Position insgesamt schwächten. Auch seine Bestreitung der Echtheit vieler Paulusbriefe erwies sich als zu radikal. Der Eindruck entstand - ob zu Recht oder nicht -, hier solle auf der Basis einer bestimmten Geschichtsphilosophie über den historischen Quellenbefund entschieden werden. Mit einer generellen Zurückweisung seines Ansatzes wurden jedoch zugleich die - trotz zweifellos notwendiger Korrekturen - bleibend wichtigen Anstöße, die von ihm ausgegangen sind, zur Seite geschoben.

So richtig es ist, dass Strauß' Mythenkritik den historischen Wert der Evangelien zu gering veranschlagt - seine Auffassung, in den Evangelien würden bestimmte "Mythen" zur Erklärung eines historischen Phänomens herangezogen, sieht durchaus etwas Zutreffendes. Dieses, in Nähe zu Herders Traditionshypothese stehende Modell der Synoptikerexegese wird durch die neuere Mündlichkeitsforschung wiederentdeckt, ist in seiner Tragweite jedoch noch längst nicht ausgearbeitet. So zutreffend es ist, dass Baurs Vorstellung der Entwicklung des Urchristentums in seiner mitunter zu schematischen Weise nicht aufrechterhalten werden kann - mit seiner konsequenten Anwendung historiographischer Grundsätze auf die Geschichte des Urchristentums hat er Pionierarbeit geleistet.34 Er hat deutlich gesehen, dass der Historiker vor der Aufgabe steht, aus der Menge der Einzeldaten eine Geschichte zu formen und nicht positivistisch beim Detail zu verharren. Mit seiner Frage nach der Tendenz der Überlieferungen, die der Historiker beim Entwurf eines historischen Zusammenhangs zu berücksichtigen habe, verbindet er historische Quellenkritik und Interpretation auf eine Weise, die den oben genannten, von Droysen herausgearbeiteten Prinzipien historischer Forschung entspricht. Seine geschichtsmethodologischen Einsichten für eine Geschichte des Urchristentums sind deshalb aufzunehmen und weiter zu bedenken.

Die neutestamentliche Wissenschaft hat die Ansätze von Droysen, Baur und Weber, ebenso wie die Anstöße von Herder und Strauß, vergleichsweise wenig rezipiert. Als um die Wende vom 19. zum 20. Jh. deutlich wurde, dass auch der älteste Bericht über Jesus im MkEv nicht in einem positivistischen Sinn historisch-biographisch verstanden werden darf, hat sie stattdessen andere Antworten entwickelt: Albert Schweitzer hielt der Leben-Jesu-Forschung vor, sie nehme die Fremdheit der Person Jesu nicht ernst und forderte stattdessen die Hinwendung zum "wahren, unerschütterlichen, historischen Fundament" des Christentums. Zur selben Zeit leitete Adolf von Harnack in seinen berühmt gewordenen Vorlesungen über "Das Wesen des Christentums" dieses auf analoge Weise aus der "Verkündigung Jesu nach ihren Grundzügen" her.35 Beide Modelle - die trotz der erklärten Absicht eines "rein historischen" Zugangs zu höchst unterschiedlichen Resultaten gelangen - suchten eine unmittelbare Vergewisserung über das historische Fundament des Christentums, ohne über den Charakter historischer Erkenntnis eigens zu reflektieren. Wenn Harnack dabei in seiner späteren Untersuchung36 das als historische Quelle inzwischen fraglich gewordene Markusevangelium beiseite stellt und sich stattdessen auf die verbleibende Spruchquelle Q stützt, dann wird außerdem bereits die Tendenz erkennbar, das Wesentliche des Auftretens Jesu in seinen Worten zu suchen - eine Linie, die über Rudolf Bultmanns Jesusbuch bis in die gegenwärtige Q- und Jesusforschung hineinwirkt und über die Rekonstruktion der Worte Jesu einen unmittelbaren, den historischen Vorläufigkeiten enthobenen Zugang zum Ursprung des Christentums gewinnen möchte.37

Bultmanns Beschäftigung mit der erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Problematik eines Bezugs auf die urchristliche Geschichte stellt zweifellos einen wichtigen Fortschritt innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft dar.38 Gleichwohl lässt sich bei seinem existentialphilosophischen Ansatz, charakterisiert durch Begriffe wie "Entgeschichtlichung", "höchst persönliche Begegnung mit der Geschichte" oder "Ausgeliefertsein an die Geschichte", die Tendenz nicht verkennen, die Perspektivität und Vorläufigkeit geschichtlicher Entwürfe mit dem Verweis auf die "Eigentlichkeit" theologisch zu überhöhen.39 Die Verbindung formgeschichtlicher Methodik mit einer am Begriff der "Entscheidung" ausgerichteten existentialen Hermeneutik wäre darum noch einmal geschichtstheoretisch zu reflektieren.

Eine oft übersehene Rezeption geschichtshermeneutischer Einsichten findet sich dagegen zunächst bei Emanuel Hirsch.40 Hirsch knüpft ausdrücklich an Ranke, Droysen und Baur an und macht deren Einsichten für die Beschäftigung mit der Geschichte des Christentums fruchtbar. In neuerer Zeit sind Überlegungen zu einem geschichtsmethodologisch reflektierten Bezug auf die Anfänge des Christentums z. B. von B. Lategan,41 Elisabeth Schüssler-Fiorenza42 sowie speziell im Blick auf die Jesusforschung von Gerd Theißen und Dagmar Winter formuliert worden.43 Kürzlich haben zudem Udo Schnelle und Eckart Reinmuth die neuere geschichtstheoretische Diskussion aufgenommen.44 In diesen Ansätzen wird die Perspektivität historischer Erkenntnis ebenso berücksichtigt wie die Unentbehrlichkeit fiktionaler Elemente in der sinnstiftenden historischen Erzählung. Damit sind erste Schritte auf einem Weg getan, der für den künftigen Diskurs über die methodologischen Grundlagen der Erforschung des Urchristentums von grundlegender Bedeutung ist.45 Dies sei abschließend durch einige Hinweise konkretisiert.



Die Texte des Neuen Testaments beziehen sich auf die Wirklichkeit Jesu, indem sie sie, um einen Ausdruck Gerd Theißens aufzunehmen, mit einer "Fiktionalitätsaura"46 umgeben. Auf diese Weise konstruieren sie vergangene Wirklichkeit so, dass sie für die eigene Gegenwart Bedeutung erlangt. Die Evangelien sind Zeugnisse, die die Ereignisse von Jesu Wirken und Geschick narrativ verarbeiten und theologisch deuten. Als Repräsentationen der Geschichte Jesu sind sie dabei zugleich historische Quellen, die über ihre eigene sowie die erzählte Zeit Aufschluss geben.47 Die Briefe des Paulus lassen sich auf ana-loge Weise als Sinnstiftungen begreifen, die gegenwärtige und vergangene Wirklichkeit angesichts des Christusereignisses neu konstruieren.48 Diesen Wirklichkeitsbezug der urchristlichen Zeugnisse sichtbar zu machen, ist eine der zentralen Aufgaben neutestamentlicher Wissenschaft. Die Wirklichkeitskonstruktionen des Urchristentums stellen dabei den Ausgangspunkt eines gegenwärtigen Bezugs auf die Anfänge des Christentums dar. Diese Deutungen sind nicht einfach zu wiederholen, sondern kritisch auf die Differenz von Wirklichkeit und deren Repräsentation hin zu befragen.

Eine derartige kritische Analyse zeigt, dass die Evangelien nicht den tatsächlichen Verlauf der Wirksamkeit Jesu widerspiegeln, sondern Überlieferungen selektieren, deuten und neu arrangieren. Es wäre freilich nicht plausibel, dieses Material nur auf die "Verkündigung" Jesu zu reduzieren und damit seines historischen Kontextes zu entheben. Das historische Material lässt auch Deutungen nicht zu, die Jesus aus dem Judentum herauslösen und in ein "heidnisches Galiläa" einordnen.49 Die heutige Zeichnung eines Jesusbildes hat diese Resultate kritischer Quellenforschung zu berücksichtigen, wenn sie aus dem historischen Material durch konstruktive Einbildungskraft Geschichte entstehen lässt. Das Resultat ist nicht die vergangene Wirklichkeit hinter den Texten, sondern eine neue Sinnstiftung, durch die die Vergangenheit in der Gegenwart wirksam wird.50

3. Schlussfolgerungen

Wenn die neutestamentliche Wissenschaft Bilder von den Anfängen des Christentums zeichnet, handelt es sich dabei um vor den Quellen verantwortete Entwürfe historischer Einbildungskraft, die das historische Material aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart interpretieren. Die Quellen sind dabei die Bausteine, historische Phantasie ist die Architektin, die sie zu einem Geschichtsbild zusammenfügt. Die Quellen selbst ergeben keine Geschichte, sie haben jedoch ein "Vetorecht" gegenüber nicht möglichen Deutungen.51

Neutestamentliche Wissenschaft hat die Aufgabe, das historische Material einer sorgfältigen philologisch-historischen Analyse zu unterziehen und entsprechend zu werten. In diesem, von Droysen als "Kritik" bezeichneten Bereich hat sie ein geschärftes Bewusstsein und eine ausgefeilte Methodik entwickelt, die auch künftig leitend sein müssen. Weniger niedergeschlagen hat sich dagegen der in der Theoriebildung neuzeitlicher Geschichtswissenschaft seit Humboldt und Droysen anzutreffende, von Weber noch einmal selbständig reflektierte erkenntnistheoretische Hinweis auf die für die Entstehung von Geschichte notwendigen Sinnbildungsprozesse, die das historische Material mit heuristischen, korrigierbaren und falsifizierbaren Modellen konfrontieren. Der in der Geschichtstheorie der Neuzeit seit ihren Anfängen wahrgenommene gemeinsame Bereich von Historiographie und Dichtung weist hierauf ebenso hin wie die in neuerer Zeit wieder betonte Erklärungsleistung der historischen Erzählung.

Die Gebiete, in denen sich diese Überlegungen in der neutestamentlichen Wissenschaft vornehmlich niederschlagen, sind die Jesusforschung sowie die Geschichte des Urchristentums. In beiden Bereichen sind die Quellen zu Erzählungen zu verknüpfen, die die Entstehung des Christentums aus dem Wirken Jesu heraus verständlich machen. Derartige Entwürfe sind niemals mit der Vergangenheit zur Deckung zu bringen, sie sind vielmehr eine anhand des historischen Materials gewonnene Hypothese über die den Quellen zugrundeliegenden Ereignisse, ihren Zusammenhang, ihre Ursachen und Wirkungen.

Eine Besinnung auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen neuzeitlicher Geschichtswissenschaft und deren hermeneutische Implikationen führt somit zu einer Konzeption neutestamentlicher Wissenschaft jenseits des Historismus. Angesichts der Aufgabe, der jeweiligen Gegenwart die Anfänge des Christentums in Form eines heuristischen Modells vor Augen zu führen, sind Darstellungen über die Anfangszeit des Christentums als Erzählungen zu entwerfen, die Anspruch auf historische Plausibilität besitzen und zugleich in dem Bewusstsein geschrieben sind, dass es sich um Modelle handelt, durch die vergangene Wirklichkeit in der Gegenwart repräsentiert, also durch die Erzählung vertreten wird.52 Auf diese Weise wird der Vergangenheit ihr Recht gelassen, sie wird zugleich als Geschichte für die jeweilige Gegenwart zugänglich. Die bleibend notwendige Ausrichtung christlicher Theologie an ihren Ursprüngen kann so in einer den gegenwärtigen Erkenntnisbedingungen entsprechenden Form erfolgen.

Summary

New Testament exegesis deals with texts from antiquity. Its contribution to theology, at least in part, is to search for a model of Christian origins. The necessity to consider insights from theory of history is, therefore, obvious. - Current discussion in the theory of historiography has brought to the fore the need to integrate historical criticism and constructive imagination in a theoretical concept. Already Johann Gustav Droysen has pointed out that historical criticism does not search for "the historical fact", but has to be supplemented by "interpretation" to create a picture of the past. The newly inaugurated discourse between historical sciences and literary studies, culminating in Paul Ricurs monumental work "Time and Narrative", marks an important shift in theory of history and is at the same time connected with characteristics of historiography in the late 18th century. A second major impulse came from Max Weber's distinction of knowledge in cultural (or social) sciences on the one hand and value judgements on the other. - In more recent times, several approaches in New Testament studies have contributed to this debate from a theological point of view, although the discussion is still in its initial stages. This article advances these perspectives by arguing for the integration of creative imagination and historical criticism in a model of history of early Christianity as well as in Jesus research.

Fussnoten:

* Die Titelformulierung ist angelehnt an W. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 21972. Mommsens Vortrag war die "erweiterte Fassung einer am 3. Februar 1970 an der Universität Düsseldorf gehaltenen Akademischen Antrittsvorlesung", mit dem Ziel, "den gegenwärtigen Standort der Geschichtswissenschaften sowohl im Rückblick auf ihre großen Traditionen wie auch im Hinblick auf ihre Aufgaben in der heutigen Gesellschaft näher zu bestimmen" (5 f.). - Für hilfreiche Hinweise danke ich Cilliers Breytenbach, Detlev Dormeyer und Eckart Reinmuth, Eckart Reinmuth außerdem, dass er mir sein noch unveröffentlichtes Manuskript über neutestamentliche Historik (s. unten Anm. 44) zur Verfügung gestellt hat. Der fruchtbare Austausch bei verschiedenen Gelegenheiten hat viel zur Klärung der eigenen Gedanken beigetragen.

1) Die im Folgenden angestellten geschichtstheoretischen Überlegungen wären deshalb mit theologisch-hermeneutischen Konsequenzen zu verbinden. Vgl. hierzu neuerdings E. Reinmuth, Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments, Göttingen 2002, 11-38.

2) Eine konzise Darstellung der mit der Referenz von Texten auf Wirklichkeit verbundenen erkenntnistheoretischen Aspekte findet sich bei B. Lategan, Reference: Reception, Redescription, Reality, in: ders./W. S. Vorster, Text and Reality. Aspects of Reference in Biblical Texts, Philadelphia 1985, 67-93. Die Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft hat J. Fried prägnant dargestellt: Wissenschaft und Phantasie, HZ 263 (1996), 291-316: 295-300.

3) Klassisch formuliert von W. v. Humboldt, Ueber die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: ders., Werke in fünf Bänden (hrsg. von A. Flitner und K. Giel), Band I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 21969, 585-605: 585: "Das Geschehene aber ist nur zum Theil in der Sinnenwelt sichtbar, das Uebrige muss hinzu empfunden, geschlossen, errathen werden."

4) Dass die Geschichtswissenschaft, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden, einer Reflexion auf den Charakter historischen Erkennens bedarf, wurde schon früh erkannt und führte zur Ausprägung der Historik, die sich mit den methodischen, erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft befasst. Begründet wurde die Disziplin von J. G. Droysen, der den Begriff prägte und in dessen Tradition auch die geschichtstheoretischen Ansätze der jüngeren Zeit stehen. Vgl. J. G. Droysen, Historik. Historisch-kritische Ausgabe von Peter Leyh, Stuttgart 1977 (zum Begriff "Historik" a. a. O., 43 f.). Für die neuere Diskussion sei verwiesen auf J. Rüsen, Grundzüge einer Historik I-III, Göttingen 1983-1989; C. Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997; H.-J. Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995.

5) Einige vorläufige Bemerkungen finden sich in: J. Schröter, Überlegungen zum Verhältnis von Historiographie und Hermeneutik in der neutestamentlichen Wissenschaft, in: P. Pokorny'/J. Roskovec (Hrsg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 191-203.

6) Vgl. den programmatischen Vortrag von R. Koselleck, Wozu noch Historie?, gehalten auf dem Deutschen Historikerkolleg in Köln 1970, abgedruckt in: HZ 212 (1971), 1-18.

7) Exemplarisch seien genannt: die von dem Arbeitskreis "Theorie der Geschichte" publizierten sechs Bände "Beiträge zur Historik" (München 1977-1990); J. Rüsen, Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1976; ders., Kann Gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte (Kulturwissenschaftliche Interventionen 2), Berlin 2003; K. E. Müller/J. Rüsen (Hrsg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997; H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001, sowie die oben Anm. 4 genannten Werke.

8) H. White, Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-Century Europe, Baltimore und London 1973 (dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt 1991); ders., Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore und London 1978 (dt.: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986 [1991]).

9) Droysen hielt diese Vorlesungen zwischen 1857 und 1882/83 insgesamt 17mal in Jena und Berlin. Vgl. das Vorwort von P. Leyh (s. Anm. 4), IX.

10) Vgl. überblicksweise T. Hertfelder, Neue Ansichten vom Historismus, HJ 118 (1998), 361-373; M. Murrmann-Kahl, "... wir sind der Herr Überall und Nirgends" (F. Th. Vischer). Historismusdebatten im letzten Jahrzehnt, ThLZ 126 (2001), 233-256.

11) Vgl. Goertz (wie Anm. 4), 53-56.

12) Dies wurde zuerst im Lamprecht-Streit sichtbar. Vgl. hierzu M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh 1992, 123-126, Anm. 155, sowie die ausführliche Darstellung des Lamprecht-Schülers H. Schönebaum, Karl Lamprecht. Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages (25. II. 1856), Archiv für Kulturgeschichte 37 (1955), 268-305.

13) Vgl. Mommsen (wie Anm. *). Zu Darstellung und Kritik des positivistischen Modells vgl. Lorenz (wie Anm. 4), 65-87.

14) Historik (wie Anm. 4), 57.

15) Vgl. U. Barth, Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York 1991, 194-203.

16) A. a. O., 22: "... das Wesen der geschichtlichen Methode ist forschend zu verstehen, ist die Interpretation" (dort gesperrt).

17) Historik (wie Anm. 4), 431: "Die Gewissenhaftigkeit, die über die Resultate der Kritik nicht hinausgehen will, irrt darin, daß sie der Phantasie überläßt, mit ihnen weiter zu arbeiten, statt auch für die weitere Arbeit Regeln zu finden, die ihre Korrektheit sichern."

18) A. a. O., 417, vgl. auch 239. An beiden Stellen kritisiert Droysen Ranke, dessen Darstellungen zu sehr in die Nähe des historischen Romans gerieten.

19) M. Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. Von J. Winckelmann, Tübingen 71988, 146-214.

20) Vgl. J. Kocka, Max Webers Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Max Weber, der Historiker (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 73), Göttingen 1986, 13-27.

21) A. a. O., 111 f. 428.

22) Vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, 206: "Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können ... Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen."

23) Dokumentiert sind die Ergebnisse zweier wichtiger Symposien in: E. Lämmert (Hrsg.), Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart 1984 sowie D. Henrich/W. Iser, Funktionen des Fiktiven (Poetik und Hermeneutik X), München 1983.

24) Am Beginn des neuzeitlichen Geschichtsbewußtseins stand die von F. Schiller begründete neue Form der Geschichtsdarstellung, noch nicht die kritische Erforschung der Vergangenheit - wobei auch jene durchaus den Anspruch hatte, über tatsächlich Geschehenes zu berichten! Letztere wurde dagegen in Weiterführung von Schillers Gedanken zunächst von Humboldt gefordert und dann von Droysen systematisch ausgearbeitet. Zu der für die neuzeitliche Geschichtsschreibung grundlegenden ästhetischen Dimension vgl. J. Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780-1824) (Frankfurter historische Abhandlungen 41), Stuttgart 2000, 75-112.

25) Aristoteles, Poet. 1451b. Zur Diskussion um diesen Topos vgl. Koselleck (wie Anm. 22), 278-284.

26) Zu nennen ist vornehmlich das große Werk von P. Ricur, Temps et récit, 3 Bde., Paris 1983-1985 (dt.: Zeit und Erzählung, München 1988-1991). Ricur entwickelt ein Modell, das literarische und historische Erzählung vom aristotelischen Begriff der Fabel her erfasst und den Zugang zur vergangenen Wirklichkeit als erzählter Zeit entwirft, die von der Erzählzeit zu unterscheiden ist.

27) Vgl. H. R. Jauß, Der Gebrauch der Fiktion in Formen und Darstellung der Geschichte, in: R. Koselleck/H. Lutz/J. Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung (Beiträge zur Historik 4), München 1982, 415-451.

28) Vgl. J. Rüsen, Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft. Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion, in: Koselleck/Lutz/Rüsen (wie Anm. 27), 14-35; ders., Die vier Typen des historischen Erzählens, a. a. O., 514-605.

29) Vgl. neben Koselleck (wie Anm. 22) und Ricur (wie Anm. 26) noch den wichtigen Aufsatz von W. Mommsen, Die Sprache des Historikers, HZ 238 (1984), 57-81.

30) Vgl. H. M. Baumgartner/J. Rüsen, Erträge der Diskussion, in: Lämmert (wie Anm. 23), 691-701: 691.

31) Jauß (wie Anm. 27), 427-434, hat den Gebrauch fiktionaler Mittel in Rankes "Französischer Geschichte" aufgezeigt. Daran wird deutlich, dass sich die Vorstellung einer "objektiven Anschauung" der Geschichte mit einer Darstellungsweise verbindet, die ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen nicht bedenkt.

32) Wichtige erkenntnistheoretische Voraussetzungen der geschichtlichen Betrachtungsweise wurden bereits von J. G. Herder in seiner Schrift von 1774 "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" formuliert.

33) Vgl. U. Köpf, Ferdinand Christian Baur als Begründer einer konsequent historischen Theologie, ZThK 89 (1992), 440-461: 447-450.

34) Vgl. K. Scholder, Ferdinand Christian Baur als Historiker, EvTh 21 (1961), 435-458; Köpf (wie Anm. 33), 451-461.

35) A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums, hrsg. und kommentiert von T. Rendtorff, Gütersloh 1999. Harnack will die Frage, was das Christentum sei, als "rein historische" gestellt wissen und auf diese Weise "das Wesentliche und Bleibende" erkennen, herausheben und verständlich machen (41).

36) Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament II: Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1907.

37) Gegenwärtig schlägt sich dies in der von den Quellen gar nicht nahegelegten These nieder, die Jesusüberlieferung sei in ihren Anfängen von der Sammlung aus ihren situativen Einbindungen herausgelöster Worte geprägt gewesen. Zur Darstellung und Kritik dieser These kann hier nur auf meinen demnächst in ZAC erscheinenden Beitrag vorausverwiesen werden.

38) Zu verweisen ist besonders auf seine Aufsätze "Das Problem der Hermeneutik" (1950), jetzt in: Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, ausgewählt, eingeleitet und hrsg. von A. Lindemann, Tübingen 2002, 223-247, sowie "Ist voraussetzungslose Exegese möglich?" (1957), a. a. O., 258-266.

39) Dieser Zugang liegt auch Bultmanns Jesusbuch zu Grunde, in dem "Jesu Verkündigung" vorab in einen "zeitgeschichtlichen Rahmen" gestellt wird, von dem sie dann offenbar weitgehend unabhängig als das verstanden wird, was Jesus "eigentlich gewollt" hat (11). Vgl. hierzu die kritischen Bemerkungen in der Rezension von E. Lohmeyer, ThLZ 52 (1927), 433- 439.

40) Vgl. Barth (wie Anm. 15), 212-303, sowie G. Lüdemann, Emanuel Hirsch als Erforscher des frühen Christentums, in: J. Ringleben (Hrsg.), Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1991, 15-36.

41) Vgl. etwa ders., Some Unresolved Methodological Issues in New Testament Hermeneutics, in: ders./W. S. Vorster (wie Anm. 2), 3-25.

42) E. Schüssler-Fiorenza, The Rhetoricity of Historical Knowledge: Pauline Discourse and its Contextualizations, in: L. Bormann/K. del Tredici/A. Standhartinger (Hrsg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. Essays Honoring Dieter Georgi, Leiden/New York/Köln 1991, 443-469.

43) G. Theißen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium (NTOA 34), Freiburg (CH)/Göttingen 1997.

44) U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 2-8; E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven (THLZ.F 8), Leipzig 2003.

45) Es sei ausdrücklich angemerkt, dass hier nur Arbeiten aus dem unmittelbaren Kreis der Neutestamentler/innen genannt wurden. Die Situation in den anderen theologischen Disziplinen wäre separat zu beurteilen. Die Hinweise auf die Arbeiten von Murrmann-Kahl und Barth (s. oben Anm. 12 und 15) deuten bereits auf eine andere Diskussionslage in der Systematischen Theologie hin.

46) G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Göttingen 32001, 31: "Historische Imagination schafft mit ihren Hypothesen ebenso eine Fiktionalitätsaura um die Gestalt Jesu wie die religiöse Imagination des Urchristentums."

47) Vgl. J. Schröter, Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Anfängen des christlichen Glaubens (BThSt 47), Neukirchen-Vluyn 2001, 6-61; ders., Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Frage nach dem historischen Jesus, in: J. Schröter/R. Brucker (Hrsg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), Berlin/New York 2002, 163-212.

48) Zur Frage der Veränderlichkeit des Bildes der Vergangenheit durch historisches Denken vgl. grundsätzlich J. Rüsen, Kann Gestern besser werden? Über die Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte, in: ders., Kann Gestern besser werden? (wie Anm. 7), 17-44. Bei Paulus wird dies besonders an der Neukonstruktion der Geschichte Israels und der Heiden angesichts des Christusereignisses deutlich. Wie der Rekurs auf Abraham in Gal 3 und Röm 4, auch auf Adam in Röm 5, erkennen lassen, überwiegen für ihn die Gemeinsamkeiten (Sündhaftigkeit, Adressaten der Verheißung), die jetzt eine Gemeinschaft in Christus ermöglichen.

49) Derartige Versuche hat es immer wieder gegeben. Sie werden jedoch durch die literarischen und archäologischen Zeugnisse falsifiziert. Vgl. S. Freyne, Archaeology and the Historical Jesus, in: ders., Galilee and Gospel. Collected Essays (WUNT 125), Tübingen 2000, 160-182.

50) Vgl. J. Rüsen, Geschichte verantworten, in: ders., Kann Gestern besser werden? (wie Anm. 7), 47-87, 65 f.: "Die Historiker sind für das, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht in der Weise verantwortlich, als wenn sie unmittelbar beteiligt gewesen wären. Ihre Verantwortung bezieht sich auf die Interpretation dieses Geschehens als notwendige Bedingung dafür, daß und wie es in der kulturellen Orientierung der gegenwärtigen Lebenspraxis wirksam wird. Indem sie dieses Geschehen interpretieren, benutzen sie Kriterien des historischen Sinns, die Werte und Normen einschließen. Diese Werte und Normen konstituieren ihre Verantwortung."

51) Vgl. das Zitat von Koselleck oben Anm. 22.

52) Vgl. Ricur (wie Anm. 26), 222-293. Diese Form der Darstellung war in früheren Generationen - etwa bei A. v. Harnack, H. Lietzmann oder A. Deißmann - noch selbstverständlich. Sie ist gegenwärtig zu Gunsten einer Darbietung des Materials weitgehend abhanden gekommen.