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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

842–844

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kohler, Günter

Titel/Untertitel:

Seelsorge im Kontext Ostafrikas. Eine Untersuchung zur Interaktion zwischen religiös-sozialer Tradition in Ostafrika und partnerzentrierter Seelsorge und Beratung.

Verlag:

Erlangen: Erlanger Verlag für Mission und Ökumene 2001. 371 S. 8 = Missionswissenschaftliche Forschungen, NF 16. Kart. ¬ 28,00. ISBN 3-87214-346-8.

Rezensent:

Heinrich Balz

Die Neuendettelsauer Dissertation von G. Kohler ist, wie viele von Missionsmitarbeitern am Ende ihrer Auslandserfahrungen unternommenen, weniger eine Inaugural- als eine Bilanz-Dissertation von großem Materialreichtum, der, insbesondere in dem auf Mikrofiches verfügbaren ergänzenden Dokumentationsband, Stoff für mehrere Doktorarbeiten geboten hätte. Dennoch zieht der Vf. seine Linie zügig durch; fünf Kapitel entfalten nach verschiedenen Seiten hin die Bedeutung partnerzentrierter Seelsorge für Ostafrika als zentrale These, die zu sinnvoller Diskussion Anlass geben kann.

Das Einleitungskapitel (15-93) behandelt die "historischen Wurzeln" der gegenwärtigen kirchlichen ostafrikanischen, spezieller der tanzanisch-lutherischen Situation in Gestalt einer würdigenden Darstellung B. Gutmanns, aber auch korrigierend-ergänzender Positionen wie der von J. Raum und O. F. Raum. Noch interessanter ist der Überblick über afrikanische poimenische Ansätze von heute: S. Lutahoire, M. Mndeme, K. Kijanga, D. Lyattuu aus dem englischsprachigen, Masamba ma Mpolo aus den französischsprachigen Bereich.

Kap. 2, Eine empirische Untersuchung (94-151) über Seelsorge und Beratung in vormissionarischer, missionarischer und heutiger Zeit ist mit Statistiken und Diagrammen zu den ausgewerteten Interviews sehr akribisch, in der Kritik an den Missionaren streng. Die eigene Deutung und Kritik dessen, was in der gegenwärtigen lutherischen Kirche in Tanzania an Seelsorge real stattfindet, ist in der Konfrontation des Häuptlingshaften mit dem neu einzuführenden Partnerschaftlichen unerwartet grundsätzlich, was auf K.s wesentliche These vorausweist.

Kap. 3, Pastoraltheologische Entwürfe des 20. Jahrhunderts im Kontext neuer therapeutischer Paradigmen (152-233) ist von allen das umfangreichste und für die gesamte Untersuchung der Mittel- und Wendepunkt. Die neue partnerzentrierte Seelsorge wird in ihrer amerikanischen Entwicklung und in ihrer europäischen Version je in ihren Hauptvertretern vorgestellt. Die anschließende "Systemische Familientherapie" schlägt, über die herkömmlich westliche Individualseelsorge hinaus, mittelbar schon die Brücke zum besonderen ostafrikanischen Kontext.

Kap. 4, Der poimenische Befund im Kilimanjarogebiet und Poimenik (234-283) ist von allen das dichteste, für den mit Kirche in Afrika befassten Leser interessanteste, weil am meisten vom tanzanischen Wissen und der Erfahrung des Vf.s getragen. Es kontrastiert die soziale und menschliche Gegenwart mit dem unbewegten, erstarrten tanzanisch-kirchlichen Ideal und empfiehlt eine Besserung in einer vorsichtig partnerschaftlichen Annäherung des "Soll" an das "Ist". Fragen von Kirchenordnung, christlicher Ethik und Seelsorge greifen dabei beständig ineinander, wobei aber die erneuerte Seelsorge für den Vf. der Schlüssel zum ganzen Problemkreis ist. Der Blick ist auf die tanzanische lutherische Kirche beschränkt; andere afrikanische Kirchenordnungen, welche die außerkirchlich bzw. traditionell geschlossene Ehe von Christen anerkennen, bleiben außer Betracht.

Kap. 5, Schlussfolgerungen (310-340), stellt diese ausführlich für Ostafrika, knapp für die Poimenik in Deutschland an. Es summiert, dass, ohne darum neuerlich in westliche Überfremdung zu verfallen, die lutherischen Kirchen in Ostafrika gut daran täten, partnerschaftlich zu werden und damit der überkommenen Häuptlings- und Ältestenrolle in der Seelsorge ein für allemal den Abschied zu geben.

Die darin angelegte These K.s geht davon aus, dass die aus Amerika und Europa kommende partnerzentrierte Seelsorge und Beratung auch dem ostafrikanischen Kontext mit seinen anderen sozialen und religiösen Traditionen zur Bewältigung der gegenwärtigen Situation Entscheidendes zu geben hat. Sie ist für ihn also Antwort nicht nur auf die Zeit, Kultur und Situation ihrer Herkunft, sondern überhaupt die beste Auslegung dessen, was das Evangelium in Sachen Seelsorge den Menschen zu bieten hat. Das Bewusstsein ihrer Sendung ist als solches nicht kulturell gebunden oder relativiert; Partnerzentriertheit und Partnerschaftlichkeit kann ihrerseits theologisch nicht hinterfragt werden. Fraglich ist vielmehr nur, ob die Hindernisse und Widerstände, die sich ihr in Ostafrika entgegenstellen, eine eigene Aufmerksamkeit und Behandlung verdienen, oder ob sie wesentlich schon durch die Auseinandersetzung der neuen Seelsorgebewegung mit ihrer Tradition, ihrem westlichen Gegenüber schon erledigt und klassifiziert sind. Insgesamt und positiv ist hier zu sagen, dass K. dem ostafrikanischen Gegenüber eine Sonderbehandlung wenigstens im Grundsatz zugesteht: einmal, weil Partner immer ein Recht auf je ihre Eigenart haben, zum anderen aber auch, wie vom Vf. mehrfach betont, weil im Blick auf missionierte und kolonisierte Völker mit dem Überstülpen neuer Ideen von anderswo, einschließlich der neuen Seelsorgebewegung, doppelte Zurückhaltung geboten ist. Auch die Poimenik in Deutschland kann von Afrika etwas lernen, wenngleich nicht dies, sondern vielmehr was der ostafrikanische Kontext und seine gegenwärtige schwache seelsorgerliche Praxis von der neuen Seelsorgebewegung lernen sollte, für K. deutlich im Vordergrund steht.

Wären beide Seiten des Austauschs gleichgewichtig, dann könnte man im Zweifel sein, ob "Missionswissenschaftliche Forschungen" der geeignete Publikationsort für diese Dissertation sind; ob sie nicht eher in eine Reihe gehört hätte, wo sie die pastoraltheologische Leserschaft, deren Horizont sie erweitern soll - wie im Vorwort von R. Riess 13 f. erhofft - besser erreichen würde. Andererseits ist eine Suahili-Übersetzung der Dissertation für die tanzanische Theologen- und Pfarrerschaft in Vorbereitung: Ihr kann eine nachhaltige, möglicherweise auch kontroverse, Wirkung vorausgesagt und gewünscht werden. Dennoch ist die These K.s auch unter missions- und afrikawissenschaftlichem Blickpunkt kritisch zu befragen.

Selbst wenn, wie von K. einleuchtend gezeigt und reichlich belegt, die alte Form autoritärer Beratung in Ostafrika in der Krise ist, so steht doch keineswegs fest, dass das, was ihr folgt, eindeutig dem westlichen Ideal von Partnerschaftlichkeit entsprechen wird. Es könnte auch sein, dass die Jungen Rat und Weisung zwar nicht mehr von allen kirchlichen und außerkirchlichen Autoritätspersonen annehmen, wohl aber von denen, die sich verständig auch für den neuen Wandel der Zeiten erweisen. Es gibt unter den Alten die Törichten und Unbelehrbaren, aber auch die Weisen, von denen die Jungen sich in Ehe- und Familiendingen etwas sagen lassen, ohne darum alsbald auf partnerschaftlicher Gleichheit mit ihnen zu insistieren.

Dies scheint insbesondere die alternative Antwort auf die von K. beschriebene Krise zu sein bei dem tanzanischen Erzähler und lutherischen Pfarrer G. S. Maanga, der an der selben Bibelschule in Mwika lehrt, wo K. 1984-1991 dozierte. Im Konflikt der jungen Generation mit den Eltern und ihrem falschen Autoritätsanspruch kommt das lösende Wort und die Versöhnung regelmäßig von einem älteren Onkel, einer Tante, die sowohl die neue wie die alten Wirklichkeiten, das Stadt- und das Landleben in Tanzania verstehen; vgl die beiden Erzählungsbände von Maanga, Terrible Darkness, Berlin 1999 und Golden Asset, Berlin 2002, deutsch in Auswahl: Hin und her gerissen, Kurzgeschichten aus Tanzania, Erlangen 2001.

Ebenso verständlich wie problematisch im spezifisch tanzanisch geschichtlichen Zusammenhang erscheint weiterhin K.s Warnung vor dem, und in gewissem Sinn negative Fixierung auf das, "Leitbild vom Häuptling", von dem nichts Gutes mehr zu erwarten sei. Seelsorge ist nicht Politik, und doch gibt es Berührungen. Ein kontextueller Seitenblick auf das politische Programm des Afrikanischen Sozialismus und die Schriften von J. Nyerere - sie fehlen in K.s Bibliographie - hätte hier manches differenzieren können. Auch die brüderliche Gleichheit, die Nyerere vorschwebte, war mit dem alten System der Häuptlinge unvereinbar, weshalb dieses durch ihn per Dekret landesweit abgeschafft wurde. Aber das gesellschaftliche Ergebnis war nicht das erhoffte, sondern die ndugunisation, wo jeder sich selbst und seine engere Gruppe bediente, und niemand mehr die Verantwortung für das größere Ganze auf sich nahm, die traditionell bei den Häuptlingen lag. Folgerichtig war die eindeutigste Selbstkritik des alt gewordenen Nyerere am politischen Weg seines Landes seit der Unabhängigkeit die: dass es falsch gewesen sei, die Häuptlinge abzuschaffen.