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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

825–827

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Roth, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Interaktion des Religionsunterrichts im Fokus theologischer Topoi. Zur Relevanz der Person der Lehr-Person.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. X, 404 S. 8 = Religionspädagogische Kontexte und Konzepte, 5. Kart. ¬ 15,90. ISBN 3-8258-3884-6.

Rezensent:

Rolf Schieder

"Erfurt" ist für die Pädagogik zu einem ähnlich prägnanten Symbol geworden wie der "11. September" für die Politik. Jenseits medialer Aufgeregtheit und politischem Aktionismus setzt sich die Einsicht durch, dass der wirksamste Schutz gegen Gewalt an der Schule im Aufbau einer Schulkultur besteht, in deren Mittelpunkt der Respekt nicht nur der Lehrenden und Lernenden voreinander, sondern auch der Respekt beider gegenüber dem Lernen selbst stehen muss.

Die Erwartungen an die Lehrkräfte sind gestiegen. Sie sollen einerseits für eine Unterrichtsatmosphäre sorgen, die einer pädagogischen Kommunikation förderlich ist. Andererseits kann diese Atmosphäre aber nicht ohne die Mitwirkung aller Beteiligten aufgebaut werden. Die Brüche in der religionsunterrichtlichen Interaktion wählt die Vfn. in ihrer überarbeiteten Mainzer Habilitationsschrift als Ausgangspunkt für die Entwicklung ihrer zentralen theologischen These: Eine rechtfertigungstheologisch geschulte RL (Religionslehrperson) ist in besonderer Weise dazu geeignet, mit Interaktionsproblemen im Unterricht angemessen umzugehen. Zugespitzt könnte man sagen: Die Ausbildung der RL sollte theologischer werden, damit sie ihre pädagogische Aufgabe sachgemäß wahrnehmen können. Scharf geht die Vfn. deshalb mit problemorientierten religionspädagogischen Konzepten ins Gericht: deren Vertreter seien pädagogischen Trends hinterhergelaufen anstatt einen eigenständigen theologischen Beitrag für die Pädagogik zu leisten.

Der Titel "Interaktion des RU" befremdet beim ersten Lesen, hätte man doch die Formulierung "Interaktion im RU" erwartet. Mit der Titelwahl soll auf die Diskursförmigkeit von Interaktion aufmerksam gemacht werden. Auch der Untertitel "Zur Relevanz der Person der Lehr-Person" weist auf den überindividuellen Forschungsansatz hin. Nicht auf das Psychologische kommt es an, sondern auf die Analyse von Unterrichtsatmosphären sowie einen theologisch informierten Umgang damit.

Habilitationsschriften sind in der Regel nicht leserfreundlich. Die Darstellung des Forschungsstandes, die detaillierte Auseinandersetzung mit Positionen, von denen man sich absetzt, die ausführliche Herleitung des eigenen Ansatzes erschwert das Lesen und könnte das Originelle und Weiterführende leicht abschatten. Es mag deshalb hilfreich sein, zwischen den spannenden und den weniger spannenden Kapiteln sozusagen als Lesehilfe zu unterscheiden.

Das theologische und kreative Zentrum findet sich auf den Seiten 160-239. In Anknüpfung an E. Käsemanns Verständnis der Dikaiosyne Theou als universalem Kraftfeld Gottes und in Weiterführung des Oikodome-Verständnisses von Ph. Vielhauer, demzufolge Oikodome als "schöpferisch konstruktiver Aktionsbereich" zu verstehen ist, "in dem die Selbstentfaltung des Einzelnen aus ihrem Schöpfer-Mitgeschöpflichkeitsverhältnis wie beiläufig resultiert" (181), stellt die Vfn. - in Anlehnung an, aber auch in Überbietung M. Welkers - die Emergenz-Aktionalität der Dikaiosyne in der Oikodome in den Mittelpunkt ihrer religionspädagogischen Konzeption. "Das direkte, interviante Selbst-Tätig-Sein der Gerechtigkeit Gottes wie das ihm folgende inviante Tätig-Werden der Gottesgeschöpfe sind Ausdruck des Weg schaffenden Schöpfers in der Gabe der Subjektivität des kreativen Handelns." (202) Das Verständnis der freien Selbstbestimmung des Individuums als Emergenz der Treue Gottes will ein Rechtfertigungsverständnis vermeiden, das das Individuum zwar von allen innerweltlichen Mächten und Gewalten befreit, es aber wegen der Abstraktheit des Befreiungsgeschehens alleine und isoliert zurücklässt. Demgegenüber besteht die Vfn. darauf, dass Rechtfertigung kein folgenloses Ereignis ist. Vielmehr führt sie den Gerechtfertigten zur Erkenntnis seiner eigenen Bedeutung für Gottes Oikodome. Dies bedeutet aber keine Vergesellschaftung des Individuums, sondern eine Steigerung von Subjektivität. Die theologische Struktur des Oikodome-Begriffs und des Subjektivitätsbegriffs entsprechen einander: Wie die Oikodome ein Bau und ein zu Bauendes zugleich ist, so ist sich das Subjekt zugleich gegeben und aufgegeben.

Wie ist aber eine Religionspädagogik zu konzipieren, deren Konstitutivum die befreiende Schöpfermacht Gottes ist, durch die er seiner Schöpfung die Treue hält, und deren Statthalter Christus "als Repräsentant einer neuen Schöpfung" (177) ist? Letztlich muss die religionsunterrichtliche Interaktion für die Emergenz-Aktionalität Gottes offen gehalten werden (203 ff.). Die Kritik am sog. problemorientierten Unterricht hat hier ihren Kern: Der Rechtfertigungsglaube kann nicht erst nachträglich in das Unterrichtsgeschehen eingetragen werden, er muss die RL wie das Unterrichtsgeschehen von Beginn an und grundlegend bestimmen. Die "Vernachlässigung des onto(christo)logischen Charakters der Wirklichkeit, bzw. der oikodomisch emergierenden Aktionalität der Dikaiosyne" (266) in der religionspädagogischen Praxis führt zu einer merkwürdigen Verdoppelung der Wirklichkeit: Erst wird die nichtchristliche Sicht der Dinge dargestellt und nachträglich wird die christliche Deutung hinzugefügt. So entsteht bei den Schülerinnen und Schülern ein Eindruck der Beliebigkeit. Theologische Deutungen der Wirklichkeit zeichnen sich dann durch ihre Leblosigkeit und Folgenlosigkeit aus.

Dikaiosyne und Oikodome sind die beiden zentralen theologischen Begriffe dieser Studie. Die Verknüpfung von Dikaiosyne und Oikodome mündet in eine Emergenz-Aktionalitätstheorie, die nicht vor der Zuspitzung des theologischen Ansatzes auf die religionsunterrichtliche Situation zurückscheut. Wie agieren also RL, die die Rechtfertigung nicht nur als theologische Theorie kennen, sondern die von ihr durchdrungen sind? (247-277) Handlungsanweisungen sind kontraproduktiv, denn die RL ist ja gerade zur Geistesgegenwart in ganz unterschiedlichen interaktiven Lagen gefordert. Ihre ganz persönlichen Konsequenzen als RL und Seminarleiterin dokumentiert die Vfn. im Kapitel Oikodome als Orientierung für einen Geist-Leib-Körper-Lehrplan (314-372). Ganzheitlichkeit im Sinne des In-Christus-eine-neue-Kreatur-Seins, Relativierung der Lehrer-Schüler-Rollen durch die Einsicht, dass beide Kinder Gottes sind, Pflege des Bewusstseins, dass Lehrer wie Schüler Lernende sind, sowie Autobibliogenes Training als eine Unterrichtsmethode führt die Vfn. als Beispiele an und aus.

Die Abschnitte über sozialwissenschaftliche und psychologische Interaktionstheorien sind für die aktuelle theologische Theoriebildung von eher historischem Interesse (118-159). Der empirische Untersuchungen referierende und eigene Beobachtungen darstellende Teil (19-88) dient dem Nachweis der Relevanz und Aktualität der Fragestellung. Diese Aktualität drängt sich mittlerweile aber von so vielen Seiten auf, dass es dem eiligen Leser genügen sollte, die Zusammenfassung (89- 106) zu lesen. Zusammenfassungen finden sich im Übrigen am Ende eines jeden Kapitels und erhöhen so die Verständlichkeit. Das ist hilfreich angesichts einer ausgesprochen komplexen Sprachform. Diese scheint zum Teil den Erfordernissen einer Habilitationsschrift, zum Teil einer Lust am Sprachspiel geschuldet zu sein. Umso gespannter darf man auf künftige unverschlüsseltere Veröffentlichungen der Vfn. sein. Das wäre zu wünschen, denn ihre pointierte Position ist geeignet, eine solche Debatte über die theologischen Grundannahmen und Grundhaltungen religionspädagogischen Handelns anzuregen, die religionsunterrichtliche Praxis und theologische Reflexion nicht trennt, sondern beide konsequent aufeinander bezieht.