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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

819–821

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Merks, Karl-Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verantwortung - Ende oder Wandlungen einer Vorstellung? Orte und Funktionen der Ethik in unserer Gesellschaft. (29. Internationaler Fachkongreß für Moraltheologie und Sozialethik, September 1999/Tilburg).

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2001. 290 S. gr.8 = Studien der Moraltheologie, 14. Kart. ¬ 49,80. ISBN 3-8258-4786-1.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Das Buch dokumentiert den Kongress für Moraltheologie und Sozialethik aus dem Jahr 1999, der in den Niederlanden tagte. Eine Einführung stammt von K.-W. Merks, dem Kongressorganisator und Herausgeber des Bandes (9-20). Der Sammelband enthält die Kongressvorträge und -diskussionen, wobei ebenfalls einige internationale sowie außertheologische Perspektiven und außerkirchliche Beispiele für Verantwortungsübernahme (59-73: ein Bericht von Rupert Neudeck über die Rettungsaktion des Schiffes Cap Anamur im Südchinesischen Meer) zur Sprache gelangen. Unter anderem wird über die neuere Ethikentwicklung in Polen referiert, unter Einschluss kritischer Bemerkungen über die Flucht der Ethik in die Metaethik während des revolutionären Systemumbruchs (A. Dylus, 141 f.) und mit Hinweisen auf heutiges Interesse in Polen an business ethics (153 ff.). Aus den Niederlanden selbst wird die Toleranzidee vor Augen geführt, die dort seit der Renaissance Wurzeln fasste (Peter J. A. Nissen, 25-37). Relevante Stichworte lauten: Poldermodel, Kultur der Kompromissbereitschaft, Umgangsökumene, Dulden anderer Überzeugungen bei gleichzeitiger Übernahme privater und öffentlicher Verantwortlichkeit.

Das im niederländischen Ethikdiskurs anzutreffende Bemühen um Rationalität, Transparenz und Toleranz ist für andere Länder sicherlich anregend und vorbildlich. Zugleich ist allerdings zu sehen, dass das Funktionieren einer derartigen toleranten Diskurskultur kulturell eingeübt und über lange Zeiträume vorbereitet sein muss: Die Niederlande haben ein Arrangement mit konfessioneller und weltanschaulicher Vielfalt bereits Jahrhunderte früher praktiziert als der deutschsprachige Raum. Der Beitrag Nissens nennt einige kultur- und ideengeschichtliche Hintergründe in den Niederlanden, zu denen die spätmittelalterliche devotio moderna oder der Humanismus des Erasmus von Rotterdam oder das Nichtvorhandensein einer Staatsreligion in der Neuzeit gehören (33 f.).

Kulturvergleichend erhellend ist der Vortrag über Japan (Haruko K. Okano, Ethik in Japan, 181-191). Anstelle des westlichen Autonomie-, Individualitäts- und individuellen Menschenwürdegedankens sind das Leben in Beziehungen - in Familie, Staat, Vereinen usw. - sowie ein Harmonieideal die fundamentalen Wertmaßstäbe. Hieraus erklären sich zum Beispiel die Probleme der japanischen Kultur, den individuellen Hirntod als Kriterium für die Organentnahme bei Verstorbenen zu akzeptieren: Noch heute "weisen die Nahestehenden trotz des Willens der Verstorbenen oft die Organtransplantation ab" (190). Signifikant ist die kulturelle Distanz Japans gegenüber dem medizinethischen Prinzip des informed consent und dem Leitbild der Freiheit und Selbstbestimmung von Patienten, das für die Sicht des Arzt-Patienten-Verhältnisses in der westlichen Ethik inzwischen unhintergehbar geworden ist. Zwar ist das Prinzip des informed consent in Japan jetzt formal rezipiert worden; jedoch wird es im Bann traditioneller Hierarchien, d.h. arztpaternalistisch umgesetzt (als "inform and consent"): "Der informed consent funktioniert ... als Mittel der Ärzte, die Patienten zu überreden und schließlich die Zustimmung der Patienten zu bekommen" (190).

Europäischen Ethikherausforderungen, namentlich Problemen der Säkularisierung, der Zeitbeschleunigung oder der Verantwortlichkeit des Individuums in Anbetracht gesellschaftlicher Komplexität und Systemdifferenzierung widmen sich eine Reihe von Artikeln (J. Römelt, F. Vosman, M. Schramm u. a.). Im Blick auf das Anliegen, die Verantwortungsfähigkeit einzelner Menschen zu stabilisieren, ist der Hinweis auf Ricurs Konzept einer narrativ gebildeten subjektiven Identität interessant (F. Vosman, 89 ff.). Ein gesonderter Beitrag beleuchtet die Ehe-, Familie- und Lebensberatung (A. Maurer), wobei deutlich wird, dass tradierte katholische Leitbilder zu Ehe und Familie in der alltäglichen Beratungspraxis vollständig verblasst sind bzw. von Ratsuchenden als Belastung thematisiert werden (230). Als Sinn von Beratung wird hervorgehoben, dass sie humanen und moralischen Reifeprozessen zugute kommen soll (238 f.) - eine Zielvorstellung, die in Zukunft im Kontext der technisierten Medizin, z. B. im Umgang mit prädiktiver Medizin oder in der individuellen Sterbevorbereitung mit Hilfe von Patientenverfügungen belangvoller werden wird denn je.

Ein wesentlicher Punkt des damaligen, 1999 stattfindenden Kongresses war der heftige innerkatholische Streit über die Schwangerschaftskonfliktberatung, der inzwischen mit dem vom Vatikan auferlegten Rückzug der deutschen katholischen Kirche aus der gesetzlich geregelten Beratung Schwangerer geendet hat. Dieser Schritt der katholischen Kirche erfolgte zu Lasten und auf Kosten der Betroffenen, namentlich der ratsuchenden Frauen, und läuft dem Ethos der Unterstützung und psychologischen Begleitung von Menschen gänzlich zuwider. Das Buch enthält den bemerkenswerten Beschluss des Kongresses der Moraltheologen und Sozialethiker von 1999, der sich gegen den Rückzug der Kirche aus der nach deutschem Recht erfolgenden Schwangerschaftskonfliktberatung aussprach (270 f.). Dabei wird deutlich, dass es bei dieser Kontroverse hintergründig auch um die tradierte moraltheologische Kategorie der "Mitwirkung" ging.

Darüber hinaus debattierte der Kongress Gefahren der Retheologisierung und Rekonfessionalisierung der Ethik (167 ff.). Hiermit bedachte er ein Problem, das abgewandelt auch für die protestantische Ethik relevant ist. Die Gesamtaussage des vorliegenden Bandes läuft - zu Recht - darauf hinaus, die theologische Ethik solle angesichts der gegenwärtigen Kulturbrüche und des Übergangs in ein postkonfessionelles Zeitalter zu einer Selbstdefinition finden, die nicht wieder in alte Denkschemata und Konfessionalismen zurückfällt. Mit solchen Akzenten besitzt der Band nicht nur innerkatholischen, sondern ökumenischen Rang.