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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

883–886

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wagner, Gabriel

Titel/Untertitel:

Gabriel Wagner (1660-1717). Ausgewählte Schriften und Dokumente. Mit einer Einleitung hrsg. von S. Wollgast.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1997. 656 S. gr.8 = Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung. Abt. I: Texte und Dokumente, 3. Lw. DM 395,-. ISBN 3-7728-1416-6.

Rezensent:

Detlef Döring

Die Forschungen zur clandestinen Literatur der Frühen Neuzeit haben in den vergangenen Jahrzehnten ersichtlich an Interesse und Bedeutung gewonnen. Dies gilt stärker für das Nachbarland Frankreich, wo z. B. eine eigene Zeitschrift für die Beschäftigung mit den Clandestina existiert (La Lettre Clandestine), als für Deutschland. Immerhin hat hier inzwischen die von M. Pott begründete und jetzt von W. Schröder herausgegebene Sammlung "Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung" durch den Nachdruck verschiedener nur noch äußerst schwierig zugänglicher Texte einen ersten, entscheidenden Schritt vollzogen: die Eröffnung des Zugangs zu den Quellen. Mit einer Reprintausgabe gesammelter Schriften Gabriel Wagners liegt jetzt ein neuer Band jener Reihe vor. Herausgeber ist der durch seine vielfältigen Publikationen zur deutschen Philosophiegeschichte der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung bekannte S. Wollgast.

W.s Verdienst besteht unzweifelhaft darin, in der Vergangenheit auf diese von der deutschen traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung vernachlässigte Epoche immer wieder hingewiesen zu haben. Problematisch dagegen ist, daß W. seinem eigenen so wichtigen Anliegen keinen guten Dienst erwiesen hat, indem er unter zu geringer Berücksichtigung der bei seinem Thema im besonderen Maße notwendigen Quellenforschung auf der Basis einer (derzeit objektiv bedingten) ungenügenden Kenntnis der Materie immer wieder zum Entwerfen großer Synthesen neigt, die so derzeit noch gar nicht möglich sind.1 Schwerwiegender noch ist W.s Neigung zu einer plagiatorischen Arbeitsweise, die in der vorliegenden Publikation in massiver Form Anwendung findet. Bei der von W. vorgelegten Einleitung (einschließlich aller zahlreichen Zitate aus dem Leibniz-Nachlaß in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover)2 handelt es sich im wesentlichen um eine weitgehend wortwörtliche Abschrift aus folgender Veröffentlichung: Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus. Hrsg. von Gottfried Stiehler. Berlin: Dietz Verlag 1961, 65-123.3 Da es der Rez. für wenig sinnvoll betrachtet, im Jahre 1998 eine Publikation des Jahres 1961 zu besprechen, enthält er sich aller weiteren Ausführungen zu diesem Text, so problematisch und unhaltbar seines Erachtens viele der dortigen Ausführungen sind. Die folgenden Bemerkungen beschränken sich daher auf die Erörterung der Auswahl der Wagner-Texte in der vorliegenden Edition.

Was W. umfangmäßig an Wagner-Texten vorlegen kann, das ist im Vergleich zur literarischen Gesamtproduktion des Autors wenig. Immer wieder muß der Herausgeber konstatieren, daß diese oder jene Publikation in keiner Bibliothek aufzufinden war. Andere Texte sind weder damals noch später überhaupt je zum Druck gelangt. Am bedauerlichsten ist dies bei Wagners Hauptwerk "Prüfung des europischen Verstandes durch die weltweise Geschicht". Auch eine 1715 veröffentlichte inhaltliche Zusammenfassung dieser Schrift, die ein Schüler Wagners verfaßte, konnte vom Herausgeber nicht ermittelt werden.4 Dafür kann W. zwei bisher unbekannte Texte bieten, die nach seiner Auffassung von Wagner stammen. Sie beanspruchen überdies biographisches Interesse, da sie in den Jahren nach Abbruch der Korrespondenz zwischen Leibniz und Wagner (1708) entstanden sind. Bisher war als einziges Lebenszeichen Wagners aus jener Zeit allein eine Mitteilung des Polyhistors Christoph August Heumann bekannt. Der Rez. kann sich im Prinzip W.s Zuschreibungen anschließen, hält jedoch die beigebrachte konkrete Beweisführung für fragwürdig.

Die ganze Argumentation beruht auf einem Schreiben des Berliner Akademiemitglieds F. Jägwitz, in dem dieser mitteilt, ein zwölfjähriges Mädchen habe ihm einen handschriftlichen Text "Vorschlag an die Königl. Weltw. Gesellschafft in Berlin" überbracht. In einem (heute nicht mehr vorhandenen) Begleitbrief wird ein Franz Michael v. Gleich als Autor genannt. Nach W.s Mitteilung schließt Jägwitz, daß Realis de Vienna (also Wagner) der wirkliche Verfasser sei. Nun war 6 Jahre zuvor (1710) eine Streitschrift (Antwort auf Jucundi de Laboribus Unverschämtheit) zur Verteidigung Wagners unter dem Pseudonym F. M. v. B. erschienen. W. erklärt kurzerhand das B. für einen Lesefehler (wessen?), da ja 1716 jener "Vorschlag" eines F. M. v. Gleich eingereicht worden ist. Der fiktive Verfasser der "Antwort" heißt nun im weiteren Text der Einleitung F. M. v. G., während im Inhaltsverzeichnis des Bandes F. M. v. B. genannt wird. Hier wären doch weitläufigere Ausführungen dringend notwendig gewesen. Da der Brief von Jägwitz die Hauptquelle zu dieser Angelegenheit bildet,5 hätte er näher vorgestellt bzw. im Wortlaut wiedergegeben werden müssen. Warum "schließt" Jägwitz auf Wagner? Welche Angaben macht er zu jenem verlorenen Begleitschreiben? Daß beide von W. entdeckten Texte aus der gleichen Feder stammen, scheint mir aufgrund der inhaltlichen und stilistischen Übereinstimmungen wahrscheinlich zu sein. Zur Gedankenwelt des G. Wagner könnten sie durchaus passen. Einen völlig überzeugenden Beweis der Verfasserschaft Wagners vermögen jedoch die vom Herausgeber vorgestellten Überlegungen nicht zu erbringen.

Eine Schwierigkeit der Lektüre der Texte Wagners bildet die Tatsache, daß es sich mit zwei Ausnahmen um Streitschriften handelt, die auf Publikationen anderer Autoren reagieren, auf Arbeiten von Christian Thomasius und Joachim Lange. Langes Text, eine (gegen Wagner gerichtete) Streitschrift, ist im vorliegenden Band mit abgedruckt worden. Die Thomasius-Texte, ohne deren Kenntnis man Wagners Ausführungen nicht versteht, konnten schon aus Raumgründen keine Berücksichtigung finden. Die günstigste Lösung hätte ein Kommentar der Texte geboten, den jedoch (mir unverständlicherweise) die Konzeption der Reihe verbietet. Hier sollte man nun wenigstens einige nähere erklärende Ausführungen in der Einleitung erwarten dürfen. Dies ist jedoch kaum der Fall. Der Herausgeber setzt quasi die Kenntnis der Thomasius-Schriften voraus und beschränkt sich im wesentlichen auf die Interpretation der Aussagen Wagners, wobei er weitgehend die Ausführungen Stiehlers übernimmt.

Was freilich nun die interessante Frage nach der Rezeption der Schriften Wagners angeht, meint der Herausgeber lakonisch, daß "seine Ideen fortgewirkt" haben. Als einziger Beleg für dieses Fortwirken wird auf die Existenz eines Exemplars von Wagners "Prüfung" in Gottfried Arnolds Bibliothek hingewiesen. Dies reicht als Quellennachweis ganz gewiß nicht aus. Daß es mit dem Fortwirken Wagners vielmehr einige Schwierigkeiten gegeben haben mag, belegt indirekt schon W. selbst, wenn er immer wieder vermerkt, daß er Schriften Wagners trotz aller Mühen in keiner Bibliothek entdecken konnte. Auch der ausnahmsweise unter direkter Berufung auf Stiehler getroffene Hinweis auf Schüler Wagners6 ist nur von geringem Wert, solange nicht wenigstens einer dieser Schüler namentlich genannt wird. Pathos tritt hier an die Stelle nüchterner wissenschaftlicher Forschung.

Ein Rätsel bildet dem Rez. die Preiskalkulation des Verlages. Für den qualitativ im übrigen nicht gerade überwältigenden Nachdruck einiger weniger Texte samt einer aus einem Plagiat bestehenden Einleitung die Summe von 395 DM abzuverlangen, ist schon fast als unseriös zu bezeichnen.

Fussnoten:

1 Vgl. die kritische Rezension von W.s Buch "Vergessene und Verkannte" durch H. Dreitzel, die in mancher Hinsicht zwar überziehen mag, deren Grundintention man jedoch beipflichten muß (Zeitschr. f. hist. Forschung 24, 1997, 116-120).

2 Dies suggeriert dem Leser, daß der Autor eigene, aufwendige Forschungen in den Manuskripten des Leibniz-Nachlasses vorgenommen hat.

3 Es ist im Rahmen einer Rez. nicht realisierbar, eine (weitgehend mögliche) Synopse beider Texte aufzustellen. Ich gebe einige wenige Beispiele, die sich auf zentrale zusammenfassende Aussagen und Wertungen zu Wagners Schriften beschränken. Hier wenigstens sollte man eigenständige, auf der Beschäftigung mit den Quellentexten beruhende Darlegungen eines Autors erwarten. Im vorliegenden Beispiel handelt es sich ausschließlich um eindeutige Plagiate (Stiehlers Schrift wird hier niemals als Quelle erwähnt). Stiehler (105): "Wagners politisches Ideal war ein starkes deutsches Kaisertum, das aus der strikten Beschneidung der Macht der Einzelfürsten erwuchs. Dieses Ziel war damals jedoch nicht zu verwirklichen, da es keine gesellschaftlichen Kräfte gab, um aktiv darauf hinzuarbeiten. Dabei bleibt aber die Bedeutung von Wagners Eintreten für ein echtes deutsches Nationalbewußtsein ungeschmälert. Denn der Kampf umd die geistige Einigung der Nation, der dann in den folgenden Jahrzehnten in der Philosophie, Kunst und Literatur so entschieden fortgeführt wurde, bildete eine wichtige Vorbedingung für die spätere politische Einigung. Wagner tadelt den Thomasius ...". W. (64): "Wagners politisches Ideal war offenbar ein starkes deutsches Kaisertum, erwachsen aus der strikten Beschneidung der Macht der Einzelfürsten. Dieses Ziel war damals jedoch nicht zu verwirklichen, da keine gesellschaftlichen Kräfte aktiv darauf hinarbeiteten. Dennoch bleibt die Bedeutung von Wagners Eintreten für ein echtes deutsches Nationalbewußtsein ungeschmälert. Denn der Kampf um die geistige Einigung der Nation, der in den folgenden Jahrzehnten in Philosophie, Kunst und Literatur so entschieden fortgeführt wurde, bildete eine wichtige Vorbedingung für die spätere politische Einigung. Wagner tadelt Thomasius ...". Stiehler (82): "Es gibt in der Geschichte der älteren deutschen Philosophie wenig Denker, die so uneingeschränkt und voller Begeisterung das Lob der Naturwissenschaften verkünden wie Wagner. Seitenlang ließen sich Aussprüche Wagners aneinanderreihen, in denen er dazu aufruft, von den inhaltlosen Schulwissenschaften abzugehen und im Studium der Natur echte, fruchtbare Erkenntnisse zu gewinnen." W. (53): "Es gibt in der Geschichte der älteren deutschen Philosophie wenig Denker, die so uneingeschränkt und voller Begeisterung das Lob der Naturwissenschaften verkünden wie Wagner. Seitenlang ließen sich Aussprüche Wagners aneinanderreihen, in denen er dazu aufruft, von den inhaltlosen Schulwissenschaften abzugehen und im Naturstudium echte, fruchtbare Erkenntnis zu gewinnen." Stiehler (122): "Wagner steht in der Grundfrage der Philosophie auf den Positionen des Materialismus; er ist originell vor allem in seinem leidenschaftlichen Kampf gegen die scholastische Logik und in seinem Streben, den Naturwissenschaften an den Universitäten und im geistigen Leben überhaupt zur ersten Stelle zu verhelfen. Schließlich ist Wagner in seinen politischen Anschauungen radikaler als die meisten deutschen bürgerlichen Wissenschaftler seiner Zeit." W. (72; man beachte die Tendenz der hier vorgenommenen Veränderungen): "Wagner ist originell vor allem in seinem leidenschaftlicheen Kampf gegen die scholastische Logik und in seinem Streben, den Naturwissenschaften an den Universitäten und im geistigen Leben überhaupt zur ersten Stelle zu verhelfen. Zudem ist er in seinen politischen Anschauungen radikaler als die meisten deutschen Wissenschaftler seiner Zeit."

4 Dies ist um so erstaunlicher, als in den sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts diese Schrift anderen Forschern vorgelegen hat (darunter G. Stiehler). Der Rez. kann jedoch W.s Mitteilung auf Grund eigener Nachfragen mit negativen Ausgang nur bestätigen.

5 Lapidar erwähnt W. in der Anm. 94 noch Konzilsitzungen, in denen jene Denkschrift Thema der Besprechungen bildete. Auch hier wäre man für nähere Mitteilungen dankbar gewesen. Merkwürdig ist die Tatsache, daß der "Vorschlag" schon am 18.3.1716 Gegenstand der Beratung war, die Zustellung dieses Textes nach Jägwitz’ Brief jedoch erst am 27.10.1716 erfolgte. Zudem soll der Text noch an Leibniz geschickt worden sein, der jedoch bereits am 14.11.1716 starb.

6 Stiehler meint lediglich, man müsse "durch mühevolle Forschungsarbeit klären, wer die bedeutendsten von Wagners Schülern waren und wo sie gewirkt haben." (123). Irgendeinen Namen nennt er nicht.