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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

817–819

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Jaeger, Friedrich

Titel/Untertitel:

Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 468 S. gr.8 = Bürgertum, 19. Kart. ¬ 64,00. ISBN 3-525-35684-6.

Rezensent:

Rolf Schieder

Warum soll eigentlich in einer theologischen Literaturzeitung eine geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift besprochen werden? Das Forschungsgebiet legt das nicht unmittelbar nahe. Es geht in diesem Buch um die Rekonstruktion der Transformation des amerikanischen Liberalismus von einem ökonomisch-utilitaristischen in einen kommunitären am Beispiel der Gründer der New School for Social Research in New York. Für Theologen ist diese Untersuchung deshalb interessant, weil sie die Bedeutung von (Zivil-)Religion als einen wesentlichen Faktor sozialwissenschaftlicher Theoriebildung hervorhebt. Insofern kann diese Arbeit als weiteres Indiz dafür gelten, dass Religion im geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskurs nicht mehr als isoliertes und zu vernachlässigendes Gebiet angesehen wird. Je mehr sich aber andere Disziplinen mit Religion beschäftigen, umso größer werden die Chancen für die Theologie, dass ihre Forschungen von anderen Disziplinen wahrgenommen werden und sich eine lange Phase der Isolation ihrem Ende zuneigt.

Und warum soll man sich für eine Epoche amerikanischer Theoriebildung interessieren, die fast ein Jahrhundert zurückliegt? Der Vf. kann plausibel machen, dass zwischen den aktuellen Debatten über "Bürgergesellschaft" und die Auseinandersetzungen zwischen "Liberalen" und "Kommunitaristen" im Blick auf die Problemlagen kein grundsätzlicher Unterschied besteht. Prozesse stürmischer Modernisierungen, die sich an der Urbanisierung, der Professionalisierung und der Bürokratisierung der amerikanischen Gesellschaft ablesen lassen, machten eine neue Sozialpolitik notwendig, deren theoretisches Fundament von den Intellektuellen des Progressive Movement entscheidend geprägt wurde. Vor allem John Dewey ist bis heute einflussreich geblieben.

Dem "gospel of morality" (dem ein "gospel of efficency" an die Seite gestellt wurde) des Progressive Movement entsprach das Social Gospel, das aus christlicher Perspektive an der Reform der amerikanischen Gesellschaft arbeitete. Als Theologe hätte man sich etwas präzisere Angaben über die gegenseitigen Durchdringungsverhältnisse gewünscht. Doch stand das nicht im Mittelpunkt des Interesses der Untersuchung. Es geht dem Vf. darum, die politische Philosophie des New Liberalism u. a. am Beispiel von H. Croly, W. Lippmann, Th. B. Veblen, vor allem aber an John Dewey und Horace M. Kallen herauszuarbeiten und für heutige Debatten transparent zu machen.

Fortschrittsoptimismus, Frauenbefreiung, Glaube an die Wissenschaft als Medium gesellschaftlicher Erneuerung, Sozialstaatlichkeit, Stärkung der politischen Öffentlichkeit gegenüber den formalen Strukturen der Demokratie und schließlich die Stärkung nationaler Identität durch eine von den Konfessionen unabhängige Zivilreligion arbeitet der Vf. in je eigenen Kapiteln als die spezifisch amerikanische Liberalismus-Variante heraus. Er kann überzeugend darlegen, dass sich der deutsche Streit zwischen Liberalen und Kommunitaristen von den Debatten des Progressive Movement informieren und inspirieren lassen sollte. Denn deren Konzept eines "kommunitären Liberalismus" vermeidet gerade die unfruchtbaren gegenseitigen Unterstellungen, die die deutsche Debatte prägen und die immer wieder auf die Alternative "romantischer Sozialismus" oder "utilitaristischer Liberalismus" hinauszulaufen scheinen. Der Vf. ist jedenfalls der Überzeugung, dass es dem Progressive Movement gelungen sei, "komplexe Zeit- und Gegenwartsdiagnosen an konkrete Erfahrungsbestände anzubinden und das Motiv gesellschaftlicher Veränderung nicht in moralischen Appellen, Ermahnungen und Tugendzumutungen enden zu lassen, sondern zu empirisch gehaltvollen und methodisch reflektierten Reformstrategien auszugestalten" (403). Auch der Community-Begriff John Deweys zielte gerade nicht auf die Sicherung eines erzwungenen Konsenses, sondern basiert auf den liberalen Freiheitsrechten von Individuen, die sich unter den Bedingungen pluralistischer Lebensformen freiwillig vergesellschaften.

Während in Deutschland die Frage nach dem Zusammenhang von Zivilgesellschaft und Zivilreligion erst allmählich im Diskurs der Intellektuellen Platz greift, nahm die Debatte über die Bedeutung einer Zivilreligion für die Suche nach einer überzeugenden Idee vom Gemeinwohl im Progressive Movement einen prominenten Platz ein. Vor allem die New Immigration sorgte dafür, dass die alte Hoffnung, Amerika sei ein melting pot, in Frage gestellt werden musste. Denn die "neuen Einwanderer repräsentierten in der Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht mehr soziale Gruppen, die aufgrund gleichartiger Kulturtraditionen, Bildungsniveaus, politischer Grundüberzeugungen, sozialer Kompetenzen und ökonomischer Lebensstandards schnell zu integrieren waren. Vielmehr gehörten sie zu Ethnien, die eine Gefahr für die kulturelle Homogenität der amerikanischen Gesellschaft darzustellen schienen und eine dauerhafte Bedrohung der angelsächsisch und protestantisch geprägten Kultur des amerikanischen Ostens personifizierten." (310)

Während H. Croly die Assimilationsstrategie eines "new nationalism" vertrat, setzte sich H. M. Kallen, Sohn eines russischen Rabbi, für einen "cultural pluralism" ein. Er bestand darauf, dass Amerika eine "nation of nationalities" sei, deren Prinzip laute: "From many one, but also: Within one, many." Die amerikanische Zivilreligion trete nicht in Konkurrenz zu den vielen Religionen, vielmehr sorge sie für eine angemessene Orchestrierung des Religiösen. Sie stehe für "the union of the different".

John Dewey hegte zwar Sympathie für Kallens kulturellen Pluralismus, sein Zivilreligionskonzept hatte aber andere konfessionelle Hintergründe und auch andere Ziele. Der junge Dewey war tief von Social Gospel beeinflusst und blieb Zeit seines Lebens überzeugt, dass die Reich-Gottes-Hoffnung eine politische Hoffnung sei und dass die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus die unabweisbare Konsequenz habe, dass das Reich Gottes in und unter den Menschen zu finden sei. Kirchen erschienen ihm als Anachronismus.

Der Zivilreligionsdiskurs des Progressive Movement zielte letztlich auf eine post-kirchliche Form von Religion. Die Unterscheidung von Staat und Zivilgesellschaft wiederholte sich auf dem Feld der Religion: hier waren Kirche und Zivilreligion zu unterscheiden. Die religiöse Bedeutung von Demokratie, ihre spirituelle Grundierung und Kraft wird Dewey nicht müde zu betonen. Zunehmend sieht er aber die Notwendigkeit, das Religiöse der Zivilreligion von den existierenden Religionen zu emanzipieren, um den ethischen Impetus des "American creed" zu erhalten. Religion sei letztlich ein "sense of the whole", die supranaturalistischen Konfessionen würden aber an dessen Stelle partikularistische Ideen setzen. Da die Konfessionen nicht universalisierungsfähig seien, müsse eine a-theistische Zivilreligion entwickelt werden. Der Gottesbegriff sollte so gefasst werden, dass er als Element menschlicher Subjektivität für die Spannung zwischen Realität und Idealität steht. Ein "common faith of mankind" sei anzustreben.

Der Vf. nimmt zu dieser universalistischen Zivilreligion des Pragmatismus kritisch Stellung. Diese "verinnerweltlicht Transzendenz zur kulturellen Kompetenz geschichtlicher Selbsttransformation und rekonstruiert Erlösung als Universalgeschichte derjenigen Kulturleistungen, in denen erfolgreich Einverständnis und kommunikative Verständigung zwischen Menschen erzielt werden" (371). Antworten auf die uneingelösten Fragen nach dem Bösen, dem Leiden und dem Tod blieben der Zivilreligion aber verschlossen. Es zeichnet dieses Buch aus, dass dessen Vf. zurückhaltend urteilt und versucht, die Komplexität der Diskurslagen zu erhalten. Ebenso vorsichtig wird den Teilnehmern an der deutschen Debatte über Liberalismus und Kommunitarismus empfohlen, den amerikanischen Stand der Forschung in seiner ganzen Breite zur Kenntnis zu nehmen, um nicht ohne Not falsche Fronten aufzubauen. Mit weitaus weniger Vorsicht und Zurückhaltung kann der Rez. dieses Buch als einen gelungenen Beitrag zu einer interdisziplinären und internationalen Diskurskultur empfehlen.