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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

814–817

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Herfeld, Matthias

Titel/Untertitel:

Die Gerechtigkeit der Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Analyse der Grundvollzüge moderner Ökonomie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 499 S. m. 1 Abb. 8 = Leiten, Lenken, Gestalten, 10. Kart. ¬ 39,95. ISBN 3-579-05302-7.

Rezensent:

Traugott Jähnichen

Die am Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften in Münster entstandene Dissertation ist ein engagiertes Plädoyer für die Würdigung der Tauschgerechtigkeit im theologisch-ethischen Diskurs. Tauschgerechtigkeit, welche durch a) einen gleichberechtigten Zugang zum Tausch für alle, b) eine dezentrale Steuerung der einzelnen Tauschinteressen, c) eine Steigerung des wechselseitigen Vorteils durch Gegenseitigkeit und d) die Überwindung von Knappheit durch die dynamisch schöpferischen Potentiale des Marktgeschehens charakterisiert wird, ist nach Ansicht des Vf.s in der theologischen Sozialethik bisher nur unzureichend berücksichtigt worden, wie nicht zuletzt die Wirtschaftsethiken von Georg Wünsch und Arthur Rich sowie entsprechende Arbeiten von Yorick Spiegel oder Ulrich Duchrow zeigen. Demgegenüber plädiert H. dafür, die ethische Qualität, welche Tauschinteraktionen als dem spezifischen Modus des Wirtschaftssystems zukommt, durch die Kategorie der Tauschgerechtigkeit in den Mittelpunkt der ethischen Bewertung zu stellen, um "wirtschaftliches Handeln auch als gutes Handeln" (468) begreifen zu können. Diese Intention ist mit dem Anspruch verknüpft, eine konstitutive "gerechtigkeitsethische Perspektive des Glaubens in Form eines theologieadäquaten und modernitätstauglichen Gerechtigkeitssystems in den öffentlichen Diskurs einzubringen" (17).

Die Arbeit zeichnet sich durch eine klare Gliederung aus: In einem ersten Teil wird eine theologisch-ethische Grundlegung entwickelt, die jeweils ausgehend von alt- und neutestamentlichen Aussagen in systematischer Perspektive die Gerechtigkeit Gottes sowie deren Verbindung zur menschlichen Gerechtigkeit und schließlich die Dimension der Gerechtigkeit in ökonomischen Interaktionen entfaltet. Auf dieser Basis wird in einem zweiten Teil die Marktwirtschaft einer gerechtigkeitsethischen Analyse unterzogen, wobei das Modell des ökonomischen Tausches die Grundlage der Untersuchung bildet. Schließlich wird in einem dritten Teil über die marktwirtschaftliche Interaktion hinausgehend der gesamtgesellschaftliche Leitbegriff der sozialen Gerechtigkeit in seiner Bezogenheit auf die Dimension der Tauschgerechtigkeit interpretiert. Erfreulich ist, dass der Vf. sein Erkenntnisinteresse im Rahmen der Arbeit klar benennt: ihm geht es "nicht fundamentalkritisch" um eine "prinzipielle Infragestellung der Marktwirtschaft" (25), sondern um ein Verständnis marktwirtschaftlicher Interaktionen und eine Würdigung der dem marktwirtschaftlichen Handeln immanenten Gerechtigkeitsgehalte.

Ausgangspunkt des theologisch-normativen Teils ist die Beschreibung der Gerechtigkeit Gottes als einer "dynamisch oder schöpferisch" zu qualifizierenden Gerechtigkeit (47), welche nicht im Sinn der distributiven Gerechtigkeit straft und richtet, sondern vielmehr ein "schöpferisches, heilendes und zurechtbringendes Handeln, mit anderen Worten: eine heilvolle Dynamik" (170) bedeutet. Dieser Gegensatz zwischen einem schöpferisch-dynamischen und einem distributiven Gerechtigkeitsverständnis bestimmt weite Passagen der Arbeit. Im Anschluss an Grundintentionen der Konzeption der Königsherrschaft Christi wird der Aufweis von Analogien zwischen der Gerechtigkeit Gottes und menschlicher Gerechtigkeit versucht, wobei H. diesen Gedanken wirtschaftsethisch konkretisiert, indem er die schöpferische Gerechtigkeit Gottes durch ihre Tendenz zur Überwindung von Knappheiten näher bestimmt und diese für eine positive ethische Würdigung von wirtschaftlichem Wachstum (46.101.174 u. ö.) heranzieht. So sehr man dem Vf. bei dem Bemühen, wirtschaftliche Wertschöpfung ethisch zu legitimieren, zustimmen kann, dürfte die Begründung der Berechtigung wirtschaftlichen Wachstums durch den unmittelbaren Verweis auf die lebensschaffende Gerechtigkeit Gottes zu kurzschlüssig sein. Es wäre hier überzeugender gewesen, durch die Bezugnahme auf vermittelnde Kategorien - wie die in der Schöpfung begründete Güte oder den Segen Gottes - den theologischen Bezug zu wirtschaftlichem Wohlergehen deutlicher in seiner Relativität herauszustellen.

Neben dem grundlegenden Aspekt der Überwindung von Knappheiten bestimmt der Vf. den Gerechtigkeitsbegriff durch weitere, im Wesentlichen anthropologisch begründete Kriterien der Gerechtigkeit: die aus der Würde des Menschen abzuleitenden Menschenrechte unter Einbeziehung wirtschaftlicher Mindeststandards, die Freiheit und Selbstbestimmung begründende individuelle Personhaftigkeit des Menschen, der Gemeinschaftsbezug wirtschaftlichen Handelns, das Bedenken von Schutzmechanismen zur Begrenzung der Sündhaftigkeit des Menschen sowie die Eröffnung von Möglichkeiten zum angemessenen Gebrauch der Vernunft. Diese Kriterien werden durch einen Vergleich mit der klassischen Gerechtigkeitsvorstellung des "suum cuique" und der befreiungstheologischen "Option für die Armen" präzisiert. Der Vf. interpretiert die Formel des "suum cuique" dahingehend, dass hier gegen eine einfache Vorstellung von Gerechtigkeit als Gleichheit die Verschiedenheit der Menschen betont ist, worin er ein weiteres Argument für die Vorzugswürdigkeit dezentraler Interaktionsformen wie der des Tausches sieht. In diesem Sinn wird auch das Konzept der "Option für die Armen" aufgenommen, da eine Besserstellung der gesellschaftlich schwächsten Gruppen weniger durch "gegenleistungsfreie Transfers" (dazu insbes. 444 ff.), sondern durch Verbesserungen der dezentralen Tauschinteraktionen zu realisieren ist. Im Rückgriff auf diese Kriterien entwickelt der Vf. - wie im umfangsreichsten zweiten Teil der Arbeit anhand der Darstellung des durch die Gelddimension, die Rechtsordnung sowie die Produktionsbedeutung erweiterten Tauschmodells rekonstruiert wird - eine positive theologische Bewertung von Tauschinteraktionen, da eine "Steigerung der subjektiven Werteverwirklichung im Tauschprozess" (373) optimal erreicht werden kann.

Der Vf. macht in der Arbeit allerdings auch auf die gerechtigkeitstheoretischen Defizite von Tauschinteraktionen, wie sie für die Marktwirtschaft typisch sind, aufmerksam, indem er unter dem Stichwort der negativen externen Effekte die ökologischen Herausforderungen sowie unter dem Stichwort der negativen internen Effekte die Problematik von Machtasymmetrien im Tauschprozess diskutiert. Während aus seiner Sicht ökologische Probleme durch marktnahe Instrumente am besten zu lösen sind, sieht er angesichts der Situation von Verlierern der Marktprozesse - beispielhaft wird das Problem der Arbeitslosigkeit herangezogen - ein bedenkliches gerechtigkeitsethisches Defizit rein marktwirtschaftlicher Interaktionen. Aus diesem Grund plädiert er für "ergänzende marktexterne Realisierungen von Gerechtigkeit" (379), weshalb er eine über die Tauschgerechtigkeit hinausgehende Thematisierung des Konzepts der sozialen Gerechtigkeit im letzten Teil der Arbeit aufgreift. Hier diskutiert er in Auseinandersetzung mit den vertragstheoretischen Ansätzen von Hobbes und Rawls die Leistungsfähigkeit und die Grenzen des Tauschparadigmas. In diesem Zusammenhang stellt er "die Blindheit des Tausches gegenüber den Bedürfnissen der Menschen, die nicht am Markt aktiv sind" (398), als den entscheidenden ethischen Grund für eine notwendige Ergänzung der Tauschinteraktionen heraus. Es ist die Bedürfnisgerechtigkeit, verstanden als der Bedarf an elementaren Lebensgütern, welche sich weder über die Tauschrationalität begründen (401) noch durch rein marktvermittelte Institutionen sichern lässt. Für eine umfassendere Realisierung sozialer Gerechtigkeit knüpft der Vf. an die Theorie der Sphären der Gerechtigkeit von Walzer an und betont, dass "nicht eine Interaktionsordnung auf alle Systeme ausgeweitet" (420) werden darf. Zwar kann er vor diesem Hintergrund dem Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit ein relatives Recht zubilligen, betont jedoch, dass auch die Herstellung von Bedürfnisgerechtigkeit vorrangig durch marktnahe Mechanismen bearbeitet und nur als letzte Handlungsoption auf den Modus umverteilender Sozialtransfers zurückgegriffen werden sollte (449 f.). Die Bestimmung der Abgrenzungen von Marktsystem und Sozialtransfersystem muss eine offene Aufgabe bleiben, die den jeweiligen sozialkulturellen Standards zu entsprechen hat und durch neue Herausforderungen jeweils neu zu justieren ist. Generell betont der Vf. die zentrale Bedeutung der Marktinteraktion, welche er abschließend als "einen wesentlichen Baustein zur Realisierung sozialer Gerechtigkeit" (462) bewertet. Daher kommt - so das Resümee der Arbeit - dem Gedanken der Tauschgerechtigkeit eine konstitutive Stellung innerhalb des Gerechtigkeitsverständnisses zu. In der Konsequenz dieser Beurteilung plädiert der Vf. abschließend dafür, "eine größere gesellschaftliche Akzeptanz für die Einführung der Marktinteraktion auch in neuen Anwendungsgebieten" (470) zu schaffen und skizziert in Andeutungen, welche Konsequenzen ein solches Programm für die Interaktionsordnungen der Kirche haben könnte.

Die Stärke dieser Arbeit ist gleichzeitig ihre Schwäche. Der Vf. konzentriert sich zu sehr auf die Dimension der Tauschgerechtigkeit, was im Blick auf wirtschaftsethische Problemstellungen sicherlich nicht unberechtigt, aber dennoch zu einseitig sein dürfte. Daher werden andere Dimensionen der Gerechtigkeit, vor allem die distributive Gerechtigkeit, kaum angemessen gewürdigt. Darüber hinaus hätten insbesondere im dritten Teil der Arbeit neuere Fragestellungen, wie die Perspektive der Befähigungsgerechtigkeit im Anschluss an Nussbaum, aufgegriffen werden können. Ungeachtet dieser Anfragen hat der Vf. eine solide Studie über Bedeutung und Grenzen der Leistungsgerechtigkeit vorgelegt, welche den wirtschaftsethischen Diskurs bereichert.