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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

812–814

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Terstriep, Dominik

Titel/Untertitel:

Weisheit und Denken. Stilformen sapientialer Theologie. Premio Bellarmino 2001.

Verlag:

Roma: Pontificia Università Gregoriana 2001. XVI, 525 S. gr.8 = Analecta Gregoriana, 283. Kart. ¬ 36,15. ISBN 88-7652-902-0.

Rezensent:

Martin Abraham

Gerhard von Rad brauchte ziemlich genau siebzig Jahre, bis er ein Werk zum Thema "Weisheit" [in Israel] veröffentlichte. Dominik Terstriep, Jahrgang 1971, Priester der Diözese Münster, ist mutig, wenn er seine (zu erwartende) Karriere gleich mit einer weisheitlichen Dissertation beginnt. Im Bewusstsein des möglichen Verdachts auf Altklugheit gibt sein Doktorvater Elmar Salmann (OSB) im Geleitwort die Devise aus, es solle "die Ambivalenz, aber vordem die Größe und der überzeugende Charme weisheitlichen Denkens aufscheinen", in dessen Licht "das Christentum als liebenswert und lebensdienlich und als intellektuell glaubwürdig aufleuchten kann" (VI).

Es geht also bei T. schlicht ums Ganze, um "die Seinswelt als ein Ganzes" (21) - und zwar sub specie sapientiae. Den Cantus firmus bildet dabei das Wort Bernhards von Clairvaux "Meus Deus ipse catholice est" (9 u. ö.): Gott der Allumfassende, die coincidentia oppositorum, der "beständige Komparativ" (10). Vorweg: T. hat sich an diesem Meta-Thema nicht übernommen. Seine souveräne Beherrschung der Stoffmassen, seine elegante Sprache und Zitationsweise, seine disziplinierte Gedankenführung suchen unter den Dissertationen ihresgleichen und waren wohl auch ein Grund für die Verleihung des Preises "Premio Bellarmino" der Gregoriana. Hier wird nicht über weisheitliche Theologie referiert, sondern diese selbst getrieben - in mystisch-monastischer Tradition (daher der Hauptzeuge Bernhard von Clairvaux, 1090-1153), ergänzt durch den Blick auf die Weisheit der Scholastik (daher der Nebenzeuge Thomas von Aquin, 1225-1274). Monastisches und Scholastisches sollen als komplementäre Denkwege erwiesen werden.

In einem ersten Hauptteil bestimmt T. im Bezug auf Bernhard und Thomas die sapientiale "Gebärde" der Theologie; ein zweiter Teil benennt als materiale Hauptmotive der weisheitlichen Theologie des Zisterziensers u. a. Erkenntnis, imago Dei, Fall und Wiederaufstieg des Menschen zu Gott, weisheitliche Handlungs- und Lebensformen. T. geht es darum, das Leben der theologischen Wissenschaft aus der Vorgabe, ihre Verwurzelung im Vorwissenschaftlichen zu bedenken. Weisheitlich ist Theologie, wenn sie der Vielfalt der Phänomene, Strukturen und Systeme gegenüber offen bleibt, synthetisch-irenisch statt polemisch-abgrenzend vorgeht, das Plurale als polyphon, letztlich symphonisch wahrnimmt, wenn sie ihre Spekulation in der Erfahrung wurzeln lässt und auf die Praxis ausrichtet, wenn sie sich bewusst bleibt, dass es zwar ein Ende des Buches, aber kein Ende des Suchens gibt (493). Alles Seiende sei in einer Bipolarität verfasst, "die sich in den chalcedonischen Formeln christologisch erschließt", aber universalisiert werden könne auf "Gott und Mensch, Gott und Welt, Mensch und Welt, Subjekt und Objekt, Fleisch und Geist, Glaube und Vernunft, Liebe und Erkenntnis, Aktion und Kontemplation etc." (31). Derartig universale Reihungen durchziehen das gesamte Werk. Sie verweisen auf das neuplatonische Erbe katholisch-sapientialer Theologie sowohl in ihrer bernhardinisch-monastischen als auch in ihrer thomistisch-scholastischen Ausprägung: Das Viele hat (in abgestufter Weise) Anteil am Einen.

Damit nicht genug, weiten sich im dritten Teil die konfessionellen und epochalen Horizonte, indem "Perspektiven sapientialer Theologie in der Gegenwart" ins Gespräch kommen. Als Repräsentanten wählt der Autor hierfür den Benediktinermönch, Dogmatiker und Liturgiker Cipriano Vagaggini (1909- 1999), den Tübinger Lutheraner Oswald Bayer (geb. 1939) und den sprachspielenden Münchner Religionsphänomenologen Hermann Timm (geb. 1938). Gemeinsam sei diesen höchst unterschiedlichen Theologen der rationalismus- und modernismuskritische, ganzheitliche, eben: der sapientiale Ansatz. Im Umgang mit ihren in mehr als einer Hinsicht sperrigen Entwürfen erweist T. sich als geduldiger und in dubio ad optimam partem interpretierender Zuhörer. An Vaggagini interessiert ihn vor allem die Synthese von gnostisch-sapientialer, scholastischer und historisch-kritischer Perspektive sowie die Entfaltung der oben erwähnten bipolaren Seinsstruktur (379.387-390): "Das ganze Sein ist christiform" (389). Erscheint ihm allerdings schon bei Vaggagini der Duktus zuweilen als "langatmig" (393)- steril? -, so reißt ihm der Geduldsfaden merklich bei Timms "erdig"-neoromantischer Kosmosfrömmigkeit. T.s Rückfragen nach Realitätsnähe, theologiegeschichtlicher Redlichkeit und vor allem nach der Christlichkeit (geschweige denn Evangelizität) von Timms Naturtheologie sind berechtigt (452 f.).

Besonders aufschlussreich ist der Umgang mit Bayer. T. lässt mehrfach seine Sympathie für diesen Gesprächspartner durchblicken, der anders als Vagaggini den Dialog mit der Moderne nicht nur fordere, sondern ihn auch durchführe (426), und anders als Timm über der Leiblichkeit deren geschichtliche Verfasstheit und göttlichen Ursprung nicht vergesse (440 f.). Die Kritik fällt weithin konstruktiv aus; Desiderate sind eine stärkere Rezeption der vorreformatorischen Theologiegeschichte und eine weitere Ausarbeitung der Christologie sowie der Idealtypen "Scholastisches" und "Monastisches" (425). Ins Zentrum des Gegensatzes zwischen reformatorischer und katholisch-sapientialer Theologie führen dann aber T.s scheinbar beiläufige Bemerkungen über die zuweilen "polemische", "antihäretische" (Korsch) und "junkerhaft-trotzige" (425 f.) Leidenschaft des Tübingers. Salmann trifft den nervus rerum, wenn er fragt, "ob protestantische Theologie in ihrem alternativ-eschatologischen Glaubens-, Entscheidungs- und Christuspathos (Christus als singuläres Ereignis, als Bruch aller Verstehensgeschichte etc.) letztlich konsequent sapiential sein kann, ob sie nicht dem platonischen Elemente, das dieser eignet, widerstrebt" (394 f.).

Der Rez. kann nur sagen: So beeindruckend - wie gesagt: charmant, liebenswert und intellektuell glaubwürdig - T.s Werk sich auch darstellt, der reformatorisch geprägte Leser bleibt doch mit einer gewissen ratlosen Bewunderung respektive bewundernden Ratlosigkeit zurück. Bei aller Betonung des großen Tonraums der Theologie Bernhards, dem nichts Himmlisches zu hoch und nichts Irdisches zu banal sei, überwiegt im Zweifel doch der himmlisch-angelische Tonfall. Das Vertrauen auf die Selbstklärung der Einheit von Welt und Gott, der Optimismus hinsichtlich des Zusammenklangs von Glauben, Denken und Leben, das Spiel mit Allegorien und Symbolen, die weitgehende Unbeeindrucktheit von geschichtlichen Vorgängen geben solcher Theologie zwar etwas Imponierendes - inklusive überraschender Anklänge an die Postmoderne -, doch läuft sie auch Gefahr, als schöngeistiges Glasperlenspiel zu erscheinen: art pour l'art. Mystische Exerzitien (und das eine oder andere Tagungsthema für Evangelische Akademien) lassen sich auf diesem Wege sicherlich gewinnen, aber trägt "sapientiale Theologie" auch in Fragen der Glaubensgewissheit, des Trostes im Leid, der Ermutigung im grauen Alltag oder der ethischen Urteilsfindung in geistesgeschichtlicher Gemengelage? Wohl spricht T. kurz die Krise des weisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs an, doch geht es dann gleich weiter zum "Zugleich von Krise und Erneuerung der Themen des Glaubens" (37). Was T. mit Bernhard zur Sünde zu sagen hat (224-252), lässt sich auf die Formel "privatio boni" bringen, und selbstverständlich ist der "Aufstieg" "das ungeteilte Werk von Gott und Mensch" (305-312). Die wenigen Passagen über das Rätselhafte und Dunkle, auch zum Gebet in der Theologie (466-468) sind bemerkenswert, bleiben aber im Duktus des Gesamten ohne große Konsequenz.

Schlussfrage: Kann und darf Theologie - bei aller Glaubenszuversicht - so optimistisch die gegebene Vielheit als Auffächerungen einer Ur-Einheit auffassen? Oder hat sie sich nicht doch stärker auf die (nicht erst neuzeitliche!) Widersprüchlichkeit grundlegender "Widerfahrnisse" (Bayer; 406-410.420-424) einzulassen? Die Frage führt sicherlich über das hinaus, was von einem einzelnen Autor - und sei er auch ein Weiser - erwartet und verantwortet werden kann. Sie verweist auf den tiefgreifenden, bleibenden Unterschied zwischen urkatholischem und urprotestantischem Theologiegestus: zwischen einer allumfassenden theologia gloriae (Söhngen: "Teilhabe am göttlichen Wissen"! [33]), die in neuplatonischer Spur vieles mit vielem, vielleicht gar mit allem harmonisieren kann, einerseits - und einer reformatorischen, alles auf die Kontingenz des verbum externum setzenden und von ihm aus auch kritisch-polemischen Theologie andererseits.

Rückfrage: Wie sähe dann eine spezifisch evangelische Gestalt von Weisheit aus?