Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

807–810

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

1) Körtner, Ulrich H. J. 2) Sauter, Gerhard

Titel/Untertitel:

1) Vielfalt und Verbindlichkeit. Christliche Überlieferung in der pluralistischen Gesellschaft.

2) Evangelische Theologie an der Jahrtausendschwelle.

Verlag:

1) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 121 S. 8 = Forum Theologische Literaturzeitung, 7. Engl. Broschur, 14,50. ISBN 3-374-01952-8.

2) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 118 S. 8 = Forum Theologische Literaturzeitung, 4. Engl. Broschur, ¬ 14,50. ISBN 3-374-01823-8.

Rezensent:

Hermann Deuser

Was wird aus Christentum, Religion, Theologie und Kirche in absehbarer Zukunft, und welche Aufgabe kommt der Systematischen Theologie bei der Beantwortung dieser Fragen zu? Zwei neue Bände der Forum-Reihe (vgl. zu den ersten Bänden ThLZ 126 [2001], 1005-1010) sind diesem höchst aktuellen Thema gewidmet, und es ist die Form des pointierten Traktates, in der hier direkt zur Sache gesprochen werden muss. Das gelingt beiden Autoren sehr gekonnt, doch ihre Blickrichtung ist geradezu gegensätzlich und die Lagebeurteilungen weichen erheblich voneinander ab.

G. Sauter versucht einen Überblick zur Millenniumswende, gibt aber eher einen Rückblick auf ungelöste Problemstellungen des 20. Jh.s; und trotz aller Zukunftsaufgaben, die S. wohl begründet zu platzieren versteht (Gottesthematik, Biblische Theologie, geschichtliche Urteilsschemata in der Theologie, Notwendigkeit der Kirche) - ein gewisser Gestus der Resignation ist unübersehbar. Es sind da, in S.s Sicht der Dinge, einfach zu viele "irregeleitete theologische Anstrengungen" (7) zu beklagen, oder anders gesagt: "Die Kirche ist undeutlich geworden und ihre Einheit zutiefst gefährdet" (91). Diesem Urteil wird U. Körtners Diagnose eines universalen und wachsenden Pluralismus durchaus zustimmen, doch während aus seiner Perspektive unvermeidliche Erfahrungen analysiert werden, um auf sie angemessen reagieren zu können, beklagt S. vor allem die Verluste. M. Kählers Bildwort der Theologie als "eines der Schatzhäuser der Kirche" (117) dient zusammen mit dem Begriff der "Einheit" (Gottes, der Kirche, der Wirklichkeit, der Erfahrung) als Basis der überwiegend abwehrenden Beurteilungen zahlreicher theologischer Initiativen des 20. Jh.s. Weil diese den eigentlichen "Schatz" nicht heben und die Einheit aufs Spiel setzen (vgl. 11, 15 etc.), sind es Erfahrungen im Hören von Musik (27) und im Erleben von Literatur (37), die das an Unmittelbarkeit und Lebensnähe vermitteln, was den theologischen Interpretationen des christlichen Glaubens kaum mehr zu gelingen scheint. Das eigene Programm gibt sich bescheiden, verteidigt die "Begrenztheit der theologischen Aufgaben" (17), doch worin liegt eigentlich das Problem im Kern aller Warnungen und Klagen? "Gottes Handeln" (42), das als Schatz zu entdecken und als Einheit vorauszusetzen ist, bestimmt menschliche Wirklichkeit so, dass diese jenes weder in (theologischen) Begriffen noch in (anderen wissenschaftlichen) Deutungen je wird fassbar machen können. Das gesuchte Allerkonkreteste ist die "Wirkung" der Bibellektüre (mit M. Kähler, vgl. 49 f.58 f.72), der gegenüber jeder eigensinnige wissenschaftliche Interpretationszusammenhang fehl greifen muss. Das ist es, was allen theologischen Programmen seit Generationen vorzuhalten ist. Wir brauchen sie (die genannten und ungenannten) hier gar nicht mehr aufzuführen; im Prinzip gilt für sie alle, was in der Chronologie zuletzt ins Bild vom "Ameisenhaufen" von "Postmoderne und Pluralismus" gefasst ist (105). Nur die Hinweise auf manche nordamerikanischen und anglikanischen Initiativen scheinen dem deutschen Verdikt zu entgehen; positiv gewendet: Wir hören die Aufforderung mit Respekt, dass die anglikanische Basisorientierung an Patristik und Liturgie theologisch mehr erwarten lässt als die in Deutschland um sich greifenden Bemühungen um die "Deutungskultur" (vgl. 100.116 f.).

U. Körtner sieht den gegenwärtigen gesellschaftlichen Folgen der Moderne nicht nur ins Angesicht, er will sie von innen her kritikfähig halten und dem Pluralismus eine protestantische Einheit trotz und in der Differenz empfehlen. Diese Perspektive wird zunächst in knappen, aber sehr gut lesbaren und informativen Kapiteln zur Darstellung gebracht: Für die inner-wissenschaftlichen wie für die öffentlichen Diskurse gilt, dass Säkularisierung in Pluralisierung übergeht (Kap. I), Religion und Christentum sind mitten in diesem Geschehen, religiöser Glaube scheint optional zu werden, die "Protestantisierung" individueller Glaubensformen seit der Reformation wird zur Signatur der Religionsauffassungen weltweit (Kap. II). In diesem Strudel befinden sich die Ethiken (Kap. III) ebenso wie die Kirchen und ihre Konfessionalität (Kap. IV), die (evangelischen) Theologien werden zu Reflexionsprodukten dieser Situation und drohen den eigentlichen (kirchlich-religiösen) Boden zu verlieren (Kap. V); das lässt sich biblisch-hermeneutisch (Kap. VI) ebenso durchspielen wie im vielfach gefächerten Begriff der Ökumene (Kap. VII). Wie ist zu antworten? Die letzten Kapitel (VIII-X) gehen über Situationsschreibungen deutlicher hinaus und projektieren im Pluralismus einen alternativen Zug: Der in der ökumenischen Diskussion strapazierte Begriff der "versöhnten Verschiedenheit" könnte gerettet werden, wenn konfessionelle Traditionen respektiert und doch Veränderungen von Strukturen "dynamisch" im Blick bleiben (92). Die Wahrheitsfrage (99) darf im pluralen Auftreten und Anerkennen von Religionen nicht relativiert werden, was nur möglich ist, wenn vom jeweiligen Kontext des eigenen religiösen Glaubens (hier: der Rechtfertigungslehre, vgl. 102 f.) die Differenz der anderen Religionen anerkannt und ertragen wird. D. h. der protestantischen Tradition (Kap. X) wird von "Selbstsäkularisierung" abgeraten (119) und die prinzipielle "Anerkennung" der Differenz des Fremden empfohlen (121).

Nun wäre das auf den ersten Blick nichts Anderes als gängige spätmoderne Hermeneutiken allenthalben anbieten, wäre da nicht der durchgehaltene theologische Fragekern nach der "Verbindlichkeit" trotz und in aller "Vielfalt". Was ist es denn, das in der gesteigerten Differenzauffassung des sozialen Systems Religion, das um seine Unterscheidungen trotz Einheitsbildungen weiß (mit N. Luhmann, vgl. 52 f.), Verbindlichkeit festhalten lässt? Durchgängig legt K. aller "Protestantisierung" zum Trotz die Spur einer kreuzestheologischen Denk- und Erfahrungsfigur, die Unmittelbarkeit nicht ausschließt und doch von Gegensätzen und Fremderfahrung gezeichnet ist (51.57.78.86). Dann ist ein vorsichtiger Anschluss an die Wort-Gottes-Theologie K. Barths möglich (75), und das spätmodern-pluralistische Motto: "Abschied vom Prinzipiellen" (O. Marquardt, vgl. 58) wird sozusagen innertheologisch rezipiert und überholt zugleich: Der "Logos" gibt sich selbst in die "Hände seiner Widersacher" (soweit der Anhalt an neutestamentlicher Christologie); in der Sprachform spätmoderner Hermeneutik gesagt: der Logos ist nur greifbar "in Gestalt partikularer Interpretationen" (78). Geschieht hierin "bedingungslose" und damit "absolute" Anerkennung (119), so liegt eine (verbindliche!) evangelische Auffassung von Glauben und Rechtfertigung ebenso vor wie eine die (pluralistische!) Gesamtlage aufnehmende Figur der Anerkennung von Differenz.

Mir bleiben zwei Fragen zu diesem akzentuiert evangelischen Programm:

1) Ist es eigentlich sachlich richtig, die zweifellos global gegebene Pluralisierung von allem und jedem unter dem Motto "Abschied vom Prinzipiellen" zu akzeptieren? Ist es nicht so, dass mit jeder Pluralisierung nur immer andere, abstraktere, komplexer abgeleitete, schwerer zu integrierende, verdeckt doch unmittelbare etc. Einheitsbezüge hergestellt werden müssen? Und wenn es schon logisch und erkenntnistheoretisch keinen Sinn macht, dies zu bestreiten, warum sollen ontologische Konsequenzen derselben Einsicht gerade für die Theologie ausgeklammert bleiben? Luhmanns Begriff der "paradoxen Einheit" (53) muss nicht als Orakel hingenommen, sondern religionstheoretisch konsequenter analysiert werden. Dann würde erkennbar, warum Religion Einheitsorientierungen ermöglicht, ohne dass diese der wissenschaftlichen Reflexion wieder unter den Händen zerfallen; dann erst wäre auch eine kreuzestheologische Interpretation systematisch breiter begründbar.

2) Körtners Anwendung der Rechtfertigungslehre als Anerkennungsstruktur (102 ff.) hat alle Begründungslast zu tragen, dass überhaupt eine Möglichkeit von unmittelbarem Glauben (Verbindlichkeit) in universal verordneter Vielfalt sichtbar werden kann. Dazu wird die "Exklusivität" des biblischen Heilsgeschehens (Anerkennung des Sünders) so interpretiert, dass sie zugleich als Anerkennung von Widersprüchlichkeit überhaupt (Anerkennung des Fremden) verstanden werden kann. "Toleranz" wird als Anerkennung (wörtlich genommen) zugleich "Erleiden" - "eine Gestalt der Nachfolge Christi" (104). Doch liegt hier nicht eine kategoriale Differenz vor, die übersprungen wird? Und wenn dieser Sprung legitim wäre, wo ist die leitende Theorie (der Religion oder des Christentums) die dies ermöglicht? Der Verweis auf das Geschehen der Rechtfertigung reicht dafür nicht aus, denn diese ist in K.s Entwurf nur intern, d. h. als notwendige Perspektive des Christentums begründet (102). Wenn aber zuvor der Allgemeinstruktur von selbstreflexiver Identität in gesteigertem und grenzenlosem Differenzbewusstsein (tendenziell) Recht gegeben wurde, dann kommt es auf dieser Ebene nicht zu einer begründbaren Eigeninstanz des religiös verbindlichen Glaubens - es sei denn der, dass in der regierenden Vielfalt und existentiellen Orientierungsnot doch alles individuell Gewählte wieder legitim erscheint. Dann aber ist der diagnostischen Figur der "Protestantisierung" nicht zu entkommen - was gerade die dezidierte und sehr respektable Absicht in K.s Traktat darstellt, Vielfalt durch Verbindlichkeit zu interpretieren.