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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

801–803

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Krieger, Gerhard, u. Hans-Ludwig Ollig [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Fluchtpunkt Subjekt. Facetten und Chancen des Subjektgedankens.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2001. 284 S. gr.8. Kart. ¬ 41,00. ISBN 3-506-74819-X.

Rezensent:

Jörg Dierken

Das Thema Subjektivität gewinnt wieder an Konjunktur, trotz vielfältiger Verabschiedungen etwa durch Analytische Philosophie, Sprachdenken und Gesellschaftstheorie einerseits, durch Positivismus, Postmoderne und Naturalismus andererseits. Das für die Moderne klassische Subjektivitätsthema sei nicht nur, wie die Hrsg. einleitend ausführen, in neurophilosophischen und sprachanalytischen Kontexten mit überraschenden Akzenten wieder aufgebrochen, sondern es berühre vor allem auch "ein zentrales Moment unseres Selbstverständnisses" (16) - gehe es bei diesem Thema doch um die Frage, ob wir uns zu Recht "Subjektsein zusprechen können" oder ob es sich bei dem für unsere Selbst- und Weltwahrnehmung basalen Selbstvollzug nur "um eine Illusion handelt" (ebd.). Im "Fluchtpunkt Subjekt" bündelten sich daher die beiden Fragen "Wer bin ich? Was ist der Mensch?" (ebd.). Allerdings lassen sich nicht alle Beiträge dieses Sammelbandes, der aus einer Tagung deutschsprachiger katholischer Philosophiedozenten und -dozentinnen hervorgegangen ist, in dieser existential-anthropologischen Programmatik fokussieren.

Nach der einsichtigen Grobgliederung des Bandes thematisieren die Einzelstudien die Geschichte und Vorgeschichte des modernen Subjektivitätsparadigmas (I: 17-69), seine Stellung in wissenschaftstheoretisch-epistemologischen Kontexten (II: 71-132), seine Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis (III: 133-203) und die naturalistische Herausforderung des Subjektgedankens (IV: 205-269). So sehr hiermit wesentliche Aspekte des Desiderats einer "integrative[n] Subjekttheorie" aufgenommen sind, so sehr lassen die Hrsg. wohltuende Zurückhaltung im Blick auf den Anspruch, dieses umfassende Desiderat eingelöst zu haben, erkennen. Dies gilt um so mehr, als die Autoren eines Sammelbandes naturgemäß unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte verfolgen.

So finden sich in dem der historischen Dimension des Themas gewidmeten Teil gelehrte Abhandlungen zur Selbsterkenntnis des Nous bei Plotin (K. Kremer, 19-35), zum Subjektivitätsverständnis Augustins (J. Brachtendorf, 37-53) und zum Subjektgedanken im Kontext der Mystik (S. Wendel, 55-69). Während bei Plotin Selbstbewusstsein im Vollsinne auf den Ort des Nous in seiner Zwischenstellung zwischen dem Einen bzw. Guten und der menschlichen Seele beschränkt sei, gehe es bei Augustin um die in ihrer Strukturganzheit als Bild des trinitarischen Gottes begriffene, aber in ihrem Selbstbezug sich immer schon gegenwärtige Subjektivität der endlichen mens humana. Der Subjektivitätsgedanke der Mystik hingegen kenne den affektiven Selbstbezug des Menschen vor allem als Voraussetzung aller Hingabe - wenngleich sich trotz gegenteiliger Ausführungen nicht übersehen lässt, dass dieser Selbstbezug letztlich der Selbstpreisgabe und Einwohnung Gottes im Seelengrund untergeordnet wird.

Die wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Beiträge versammeln z. T. subtile Studien zum "subjectum scientiae" - vor allem bei Duns Scotus (M. Dreyer, 73-83), zu Buridans Lösung des Lügner-Paradoxes: Ich sage Falsches (G. Krieger, 85-104), zum diskurstheoretisch inspirierten Konzept epistemischer Rechtfertigung (Th. M. Schmidt, 105-120) und zum Geschichtsbegriff nach seiner postmodernen und strukturalistischen Verabschiedung (M. Lutz-Bachmann, 121-132). Die scotistische Konzeption konzentriere das Subjektthema im grammatischen Subjekt des wissenschaftlichen Satzes und dem hierin gegebenen Wissen. Aus Buridans scharfsinnigen Reflexionen ergebe sich die Selbstbejahung der Vernunft als Prinzip der Unterscheidung von Wahrem und Falschem; dies lasse sich auch in analytisch-philosophischen Kontexten fruchtbar machen. Freilich sind die Bezüge von den mittelalterlichen Selbstbezüglichkeitsfiguren zur modernen Subjektthematik eher formaler Art. Demgegenüber bietet das durch verschiedene Kontexte hindurch verweisungsoffene Modell der Rechtfertigung epistemischer Ansprüche fruchtbare Perspektiven auf den modernen Streit der Paradigmen von Intersubjektivität versus Subjektivität; die Überlegungen vermeiden eine Reduktion von Subjektivität auf einen bloßen Fall von Intersubjektivität und legitimieren gar Selbstzuschreibungen, die nicht restlos verallgemeinerbar sind. Die geschichtsphilosophischen Reflexionen schließlich führen plausibel aus, dass Geschichte sich ohne einen im Letzten praktischen Begriff des Subjekts, der sowohl auf die die Geschichte Erforschenden, als auch auf die in der Geschichte Handelnden abzielt, nicht verstehen lässt.

Die unter den Stichworten Subjekt und humanes Selbstverständnis zusammengefassten Beiträge verbinden qualitativ recht unterschiedliche Analysen, die einen teils eher philosophiehistorischen, teils stärker systematischen Akzent aufweisen. Auf einen Längsschnitt zu "Konjunkturzyklen" des Subjektivitätsthemas zwischen Analytischer Philosophie und Heidelberger Schule, der zu Recht auf die Systemtheorie als harte Nuss für das Subjektdenken hinweist (K. Müller, 135-150), folgen Erwägungen zum Verhältnis von "Person und Subjekt", die der Verkörperung weltdistanter Subjektivität im welthaften personalen Dasein nachgehen (H.-L. Ollig, 151-166). Weniger durchsichtig ist der von offenbarungstheologischen Reserven gegenüber dem Subjektivitätsparadigma begleitete Blick auf die Problematik der "Selbstbehauptung" bei E. Levinas (J. Disse, 167-178). An ihn schließen sich etwas rhapsodische Reflexionen zur Gewissensthematik an, die Kontinuitätslinien von Aristoteles über Thomas von Aquin zu Kant zu ziehen suchen (J. H. J. Schneider, 179-203).

Der abschließende Teil bündelt kritische Auseinandersetzungen mit naturalistischen Reduktionen des Subjektgedankens. Er wird eröffnet durch eine ambitionierte Skizze, die die Subjektivitätsstruktur im Kontext einer gleichsam transzendentallogischen Theorie des Lebens, das sich zu zunehmender Komplexion aufstuft, zu verorten sucht (T. Trappe, 207-222). Die letzten drei Beiträge bieten Auseinandersetzungen mit naturalistischen Gegenpositionen. Kritisiert werden D. C. Dennetts Bewusstseinstheorie (W. Löffler, 223-240), G. Roths neurophysiologischer Physikalismus (H.-D. Mutschler) und Theorien mentaler Repräsentationen, wie sie mit unterschiedlichen Akzenten Th. Metzinger, aber auch C. McGinn und andere Autoren im Umfeld der sog. Cambridge-Theorie vertreten (J. Quitterer, 253-269). Insbesondere der letzte Beitrag zeigt einleuchtend, dass in den Zirkeln vermeintlich rein empirischer Abbildtheorien etliche Probleme der Transzendentalphilosophie wiederkehren.

Wenngleich sich der Gesamtertrag eines Sammelbandes angesichts der thematischen und qualitativen Unterschiede seiner Beiträge schwer taxieren lässt, ist das gemeinsame Bemühen der Autoren um die Subjektivitätsthematik zu würdigen: "Facetten und Chancen des Subjektgedankens", so der Untertitel, werden vielfach kundig ausgelotet. Dass sich die Arbeitsgemeinschaft der an den Instituten des katholischen Theologiestudiums Philosophie Lehrenden dieses Themas annimmt, obzwar - wie kritisch notiert wird - Teile des kirchlichen Lehramtes den Subjektgedanken für eine "Illusion" halten und deshalb seine Implikationen durch Einfügung des Menschen in den "Leib der Kirche" zu überwinden suchen (138), verdient Aufmerksamkeit, nicht zuletzt aus protestantischer Perspektive. Mag man auch Reserven gegen allzu glatte Traditions- und Kontinuitätslinien haben und mag man auch innere Gegenläufigkeiten der Subjektivitätsstruktur sowie die Fragilität des individuierten Subjekts genauer beleuchtet wünschen: dass philosophisch-theologisches Denken gegenwärtig im Zeichen des Subjektivitätsthemas gepflegt wird, ist Anlass zu guter ökumenischer Nachbarschaft - zumal auch im protestantischen Bereich Reserven gegen dieses Thema gehegt werden. Doch seine Verabschiedung aus dem Spektrum der theologischen Prinzipienlehre dürfte nur dazu beitragen, dass die Chancen zu einer philosophischen Verständigung über christlich-religiöse Gehalte unter den Bedingungen der Moderne schwinden.