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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

796–799

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jacobi, Rainer-M. E. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2000. 416 S. m. Abb. gr.8 = Selbstorganisation, 10. Kart. ¬ 99,00. ISBN 3-428-10161-8.

Rezensent:

Karl F. Grimmer

"Selbstorganisation" verstehen die Herausgeber des Jahrbuchs als ein neues Paradigma in den Wissenschaften. Dieses neue Paradigma ist geprägt von der Einsicht, dass Wirklichkeit und Erkennen als offene Prozesse aufgefasst werden müssen. Damit verbunden ist die Kritik an einem substantialistischen Wirklichkeitsverständnis und einem Wissenschaftsverständnis, das sich vornehmlich am Begriff orientiert. Demgegenüber wird die Geschichtlichkeit der Natur, der Wahrnehmung und der Erkenntnis wie auch des Menschen und der Geschichte selbst hervorgehoben. Der vorliegende 10. Band thematisiert diese Einsichten in seinen Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen.

In seiner Einführung (7-12) nennt Rainer-M. E. Jacobi als eine Besonderheit des Konzeptes der Selbstorganisation für das Verstehen der Geschichte, dass die Kategorie der Kausalität für aufeinander folgende Zustände ausfällt und vielmehr von der Kontingenz und Offenheit geschichtlicher Prozesse auszugehen ist. Die Gegenwart kann daher weniger als Folge der Vergangenheit gesehen werden, sondern vielmehr muss das Bild der Vergangenheit als Folge der Gegenwart verstanden werden. Damit verbunden ist eine Kritik an jeglichem linearen Fortschrittsdenken.

Günter Kunert (13-20) beschreibt in einem Essay Verdrängung und Wirkung von Mythen. Die "momentane Orientierungsschwäche" (19) resultiere aus einem Verfall der Mythen, die mit unerschütterlicher Teleologie Erlösung versprachen. Wir sind heimatlos geworden und dazu verdammt, unsere offene Existenz, unser unaufhörliches Werden zu interpretieren. Das Phänomen der Krise wird von Hartmut Kuhlmann (21-35) als Interpretament in philosophischer (Blumenberg) und theologischer Perspektive (Augustin) dargestellt. Krise kann einerseits als Sinn stiftende Kategorie in der Geschichte auftreten, sie kann aber auch, verstanden als Katastrophe, gerade die "Sinn-Neutralität" der Geschichte einsichtig machen. Die geschichtliche Katastrophe des Nationalsozialismus evoziert die Frage nach geschichtlichem Sinn und Schuld. Dominic Kaegi (37-59) analysiert in seinem luziden Text im Rekurs auf Karl Jaspers Essay über die Schuldfrage die unterschiedlichen Dimensionen von Schuld und deren politische und anthropologische Konstitutionsbedingungen. Kaegi hebt dabei die Bedeutung politischer Rahmenbedingungen hervor, die es erst ermöglichen, mit individueller (bzw. existenzieller oder metaphysischer) Schuld - verstanden als Schuldigbleiben absoluter Solidarität - ausgleichend umzugehen. Ausgehend von Nietzsches Verständnis der Zeit als Erbschuld erörtert Stephan Grätzel (61-71) unterschiedliche Dimensionen und Aspekte der Zeit. Er weist nach, dass sowohl die Erfahrung als auch die Konzeptualisierung von Zeit kulturell bedingt sind. Gegen Nietzsches Präsentismus und das darin vorausgesetzte zyklische Zeitverständnis, das ein Ende der Geschichtsmetaphysik impliziert, beharrt Burkhard Liebsch (73- 98) auf einer Zukunft der Geschichtsphilosophie und der Geschichte. Diese Zukunft ist möglich, wenn Geschichte jeweils verstanden wird als Geschichte im Unterschied zu anderen Geschichten. Die Einheit der Geschichte lässt sich dann denken als Kombination der Pluralität aller mit der Singularität des Einzelnen. Liebsch deutet damit eine (post)moderne Deutung der Geschichte an. Jürgen Barkhoff (99-121) geht in seinem Beitrag auf die Geschichtsdeutung des triadischen Schemas ein, demzufolge einem vergangenen Goldenen Zeitalter die (je gegenwärtige) Zeit der Trennung und Entfremdung folgt, die von der Wiedergewinnung der paradiesischen Einheit abgelöst wird. Neben dem linearen Fortschrittsmodell und der Deutung der Geschichte als Zyklus ist diese triadische Geschichtsdeutung im kulturellen Gedächtnis dominant, wie Barkhoff an Beispielen unterschiedlicher Provenienz deutlich macht.

Weitere Beiträge des Bandes gehen in der Erörterung kulturgeschichtlicher Schlüsseltexte auf die kulturellen Wirkungen des Geschichtsbildes im jeweiligen historischen Kontext für das Verständnis der Natur, der Geschichte, des Menschen und der Erkenntnis ein. So erörtert Wolfgang Riedel (123-152) in einem gelehrten Beitrag die Geschichtlichkeit der Landschaftswahrnehmung bei Petrarca. Er weist nach, dass die Ventoux-Epistel ein paradigmatischer Text für die Stellung zwischen Mittelalter und Neuzeit ist. Wolfgang Krohn (153-167) stellt die experimentelle Methode als Paradigma eines neuzeitlichen Natur- und Selbstverständnisses vor. Die Unumgänglichkeit und Ambivalenz von Perspektiven und "Sichtachsen" arbeitet Hans-Jürgen Krug (169-193) im Blick auf Architektur, Geschichte, Sprache und Naturwissenschaften heraus. Wir können immer nur einen Teil unserer Wirklichkeit erfassen; gerade dies aber motiviert zu weiterem Suchen und Schauen. Richard Hoppe-Sailer (194-215) bearbeitet das Verhältnis von Geschichte und Wahrnehmung in neuen Werken der Kunst im öffentlichen Raum und deckt die medial vermittelte, häufig ortsreflektierende und dekonstruierende, somit auch irritierende Erfahrung von Geschichte auf. Eine "genuine Affinität" (223) von Dekonstruktion zur Geschichte als gegenseitiges Verweisungsverhältnis erkennt Emil Angehrn (217-236) in seiner an Derrida orientierten Analyse. Mit seiner These der Korrespondenz von Dekonstruktivismus und traditionellem Geschichtsdenken nimmt er allerdings dem Dekonstruktivismus seine kritische Schärfe. Dekonstruktivistisch kann auch das messianische Zeitverständnis bei F. Rosenzweig und W. Benjamin verstanden werden, dem sich Manfred Voigts (237-256) in seinem Beitrag widmet. Gemeinsam ist Rosenzweig und Benjamin nach Voigts die Hervorhebung des (messianischen) Augenblicks, bei Rosenzweig als Gelegenheit der konkreten Interpretation durch das Individuum, bei Benjamin als individuelle Fortschreibung der Geschichte in revolutionärer Perspektive. Heinz-Jürgen Goertz (257- 276) entwickelt in seinem Beitrag Franz Rosenzweigs Gedanken einer "erzählenden Philosophie" und weist dabei besonders auf die Verbindung von Standpunkt und Objektivitätspflicht hin. Die Betonung des Standpunkts und des Erzählens der Geschichte sind in Rosenzweigs Heimkehr ins Judentum begründet, also religiös fundiert. Mit der Lesbarkeit religiöser Erfahrung befasst sich Evelin Goodman-Thau (277-308) und arbeitet vor allem den Aspekt des Sehens heraus, wenn sie sich mit den erkenntnistheoretischen Einsichten von Cohen, Cassirer und Benjamin auseinander setzt. Mit Hinweisen auf Erfahrungen des Sehens in der Bibel und im Buch Sohar entwickelt sie eine Verhältnisbestimmung von Sehen, Sein und Sagen, die eine religiöse Erkenntnistheorie andeutet. In einer Analyse des Johannesprologs zeigt Johannes Beutler (309-317), dass im Gegensatz zu einer historisierenden Betrachtung die Form des Hymnus bzw. die Sprache des Liedes die angemessene Form ist, das Ereignis der Menschwerdung Gottes zur Darstellung zu bringen. Klaus Michael Meyer-Abich (319-336) legt in einer Interpretation der Johannes-Apokalypse das Verständnis eines kosmischen Christentums vor, dessen Kennzeichen im Blick auf die Geschichte ein apokalyptisches Zeitverständnis und die Vision der Hoffnung sind. Begriff und Phänomen der Apokalypse in geschichtlicher und aktueller Hinsicht analysiert Ulrich H. J. Körtner (337-350) in seinem Beitrag und kommt dabei zu dem Schluss, dass Apokalyptik "ausschließlich Antizipation des Möglichen" ist, christlicher Glaube demgegenüber von der "Erinnerung der Wirklichkeit des Heils" lebt (347) und einen adäquaten Umgang mit der Endlichkeit ermöglicht. Rainer-M. E. Jacobi (351-378) schlägt als Ergebnis seiner Rekonstruktion der pathischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers vor, diese als "Entwurf einer deskriptiven, empirisch validierten Kulturwissenschaft zu verstehen" (367), insbesondere aufgrund der fundamentalen Bedeutung der erzählten Krankengeschichte, die neben biologischen auch soziokulturelle und lebensgeschichtliche Aspekte zu berücksichtigen habe. Karl-Friedrich Wessels (379-387) thematisiert Geschichte unter dem Aspekt ontogenetischen Werdens und definiert den Menschen als homo temporalis. Das Verhältnis von persönlichem Erleben und historischer Erkenntnis thematisiert Friedrich Cramer (389-394) am Beispiel des Falls der Berliner Mauer und plädiert für einen Vorrang des persönlichen Erlebens.

Die von Rainer-M. E. Jacobi kommentierte Edition eines bislang unveröffentlichten Vortrags von Niklas Luhmann über "Tradition und Modernität. Über Beziehungen zwischen Religion und Wissenschaft" (395-405) und drei Buchbesprechungen zum Thema schließen den Band ab.

Bei aller Heterogenität bilden die Beiträge in ihrer Abfolge eine stimmige Reihe. Im Rahmen dieser Rezension ist eine eingehende Würdigung der einzelnen Beiträge leider nicht möglich. Sie bieten in der Regel erhellende Analysen und Hinweise auf das Verständnis von Geschichte und Geschichtlichkeit in ihrem jeweiligen Thema oder Kontext. Sie zeugen vom Ende der Geschichte als einer "großen Erzählung" und weisen hin auf die Geschichtlichkeit jeder Konzeption von Geschichte. Sie heben die Perspektivität und Zeitlichkeit jeden Geschichtsverständnisses hervor. Sie reflektieren den Doppelcharakter von Geschichte als Ereignis bzw. Erlebnis und als Konstruktion.

Dass diese Einsichten immer wieder mit jüdischem Denken und jüdischen Denkern verbunden sind, ist nicht nur derzeit en vogue, sondern Ausdruck des kulturellen und philosophischen Potentials der jüdischen Tradition und ihrer Rezeption in Philosophie und christlicher Theologie. Sowohl im Blick auf einzelne wissenschaftliche Disziplinen als auch das kulturelle Selbstverständnis unserer Gesellschaft enthalten die Beiträge des Bandes fruchtbare Hinweise auf die geschichtliche Entwicklung und den Umgang mit Dimensionen menschlicher Existenz. Allerdings schöpfen einige Beiträge das Potenzial des Konzeptes der Selbstorganisation nicht voll aus, sondern zeigen Spuren eines Geschichtsverständnisses und einer Epistemologie, die noch einem idealistischen Konzept von Ganzheit verhaftet sind. Dies im Einzelnen zu diskutieren ist hier nicht der Raum. Alle Einzelstudien sind aber durchaus eine Fundgrube im Blick auf das Verhältnis von Erlebnis und Erkenntnis in vielfältigen Bereichen der Wissenschaft.