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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

795 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grondin, Jean

Titel/Untertitel:

Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 167 S. 8. Geb. ¬ 24,00. ISBN 3-534-15618-8.

Rezensent:

Helmuth Vetter

Der Autor des vorliegenden Buches ist der vielleicht beste Gadamer-Kenner der Gegenwart. Es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen, die zwischen 1996 und 2000 entstanden sind; einer geht auf das Jahr 1966 zurück. Der Titel könnte die Vermutung nahelegen, hier werde ein Stück Geschichte der Hermeneutik in ihrem historischen Voranschreiten dargestellt. Doch geht es nicht um die Aufeinanderfolge zweier hermeneutischer Modelle, sondern um ein gleichzeitiges Spannungsverhältnis zwischen ihnen, das im Vorwort mit dem Hinweis auf zwei Grundmöglichkeiten der Philosophie angezeigt wird.

Heidegger ist auf der Suche nach einer angemesseneren Sprache (und Erfahrung) des Heiligen und Göttlichen in einer Epoche der Gottferne, Gadamer dagegen zielt ab auf eine Verständigung im "Sinn für das Tunliche, das Mögliche, das Richtige hier und jetzt" (Ges. W. 2, 448, zit. bei Grondin, 9), und dies auch mit der immer wiederkehrenden Bezugnahme auf die PHRONESIS der aristotelischen Ethik (noch die letzte Buchpublikation des 98-Jährigen galt dem dafür zentralen VI. Buch der Nikomachischen Ethik). Die verschiedene Akzentuierung zeigt sich auch in Heideggers Abschied vom Humanismus und, im Gegenzug dazu, in Gadamers Zuwendung zur Tradition der Rhetorik (I. Beitrag dieses Bandes). G. erblickt in dieser Spannung etwas Fruchtbares: Heidegger erinnere in seiner radikalen Destruktion der Metaphysik an die Grundfragen der Philosophie, Gadamer dagegen habe den Sinn für die Verständigung unterschiedlicher Gesprächspartner wiedergewonnen (II und III).

Es ist G.s Verdienst, die Nähe dieser beiden Philosophen auch einer Korrektur zu unterziehen: Der Heidegger-Schüler Gadamer hat zu den verschiedenen Phasen von Heideggers Hermeneutik (zur frühen Hermeneutik der Faktizität, zu der von Sein und Zeit und vollends zur späten seinsgeschichtlichen Hermeneutik) ein durchaus distanziertes Verhältnis. Das gilt auch für sein Eingehen auf den hermeneutischen Zirkel (wobei ihm zusätzlich die Affinitäten zu Husserls transzendentalphänomenologischem Ansatz zu groß erschienen) (IV). Dass auch Heideggers Verstehensbegriff von Gadamer modifiziert wird (V), gehört zu dessen weiterer Eigenständigkeit. Vielleicht bewegen sich trotz ganz unterschiedlicher Ansätze die beiden am ehesten in ihrem Verhältnis zur Sprache auf einem gemeinsamen Feld (VI, VII).

Gadamers Auffassung der Universalität der Kunst (VIII, IX, X) wird allerdings nicht mehr mit ständiger Hinblicknahme auf Heidegger untersucht, auch wenn dieser gewissermaßen indirekt wieder ins Spiel kommt (XI): durch Nietzsche. Gadamers vornehme Distanz diesem gegenüber - anders als Heidegger, der sich Nietzsche sosehr auslieferte, dass ihn dieser "kaputtgemacht" hat1 - beruht auf der Erkenntnis, dass Nietzsches Radikalität mit unserer Endlichkeit unvereinbar ist. Dass dies, wie G. zeigt, Gadamers vergleichsweise geringe Präsenz in Frankreich mit zur Folge hatte, wurde bekanntlich auch für das Gespräch mit Derrida (und damit für die Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion) zur Hypothek.

Es sind kenntnisreiche und belehrende Studien, dazu angetan, das Interesse an Hermeneutik lebendig zu halten. Ich meine allerdings, dass die eingangs erwähnte Spannung (die das Verhältnis zwischen Heidegger und Gadamer von Grund auf "spannend" macht) nochmals befragt werden könnte. Bedarf Heideggers Frage nach dem "göttlichen" Gott nicht gerade einer Hermeneutik des "Tunlichen", um nicht in die Bodenlosigkeit eines dem Alltag entzogenen Denkens zu entgleiten? Und gerät Gadamers Zurückhaltung gegenüber der Gottesfrage (bei aller berechtigten Ablehnung des Prophetischen im Bereich der Philosophie) nicht ihrerseits in die Gefahr, der offenen oder verkappten Gleichgültigkeit gegenüber Gott nicht mehr wirklich begegnen zu können? Dann wären es nicht nur "sehr verschiedene hermeneutische Wege" (15), die einander ergänzen, sondern denkerische Versuche, die einander bedürfen.

Fussnoten:

1) Hans-Georg Gadamer: Heidegger und Nietzsche: "Nietzsche hat mich kaputtgemacht!", in: Aletheia 5 (1994), 6-8.