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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

792–974

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Otte, Hans, u. Thomas Scharf-Wrede [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen.

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 2001. VI, 330 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Landschaftsverbandes Hildesheim, 12. Geb. ¬ 24,80. ISBN 3-487-11356-2.

Rezensent:

Bernhard Freist

Aus einer Tagung der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte und des Vereins für Kunst und Geschichte des Bistums Hildesheim im Herbst 1998 ist dieser Sammelband entstanden. Er enthält 15 Beiträge aus Caritas und Innerer Mission, eher zufällig ausgewählte Beispiele, wie sich die nationalsozialistische Wohlfahrtspolitik an der Basis und im regionalen Bereich auswirkte und wie Leiter der Einrichtungen reagierten. Vorausgestellt sind drei Aufsätze, die als Einführung in das Sachgebiet gedacht sind und die den Rahmen bilden für die Konkretisierungen in den nachfolgenden Einzelbeispielen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen, unter denen Caritas und Innere Mission ihre Arbeit zu leisten hatten, waren für beide Verbände die gleichen. Es ergeben sich jedoch insofern Unterschiede in den Reaktionen auf die Maßnahmen der NS-Regierung, als die Caritas institutionell stärker an ihre Kirche gebunden war und diese Bindung einen gewissen Schutz bot, während die Innere Mission weniger verkirchlicht war und ihre Einrichtungen weithin auf sich selbst gestellt waren.

Jochen-Christoph Kaiser weist in seinem Aufsatz "Konfessionelle Wohlfahrtspflege im Nationalsozialismus. Caritas und Innere Mission" darauf hin, dass es zwischen den beiden Verbänden keine Abstimmung gab. Sie versuchten jeweils das Beste aus der Situation zu machen. Im Blick auf die heutige Diskussionslage bei der historischen Aufarbeitung der NS-Zeit, insbesondere der Schuldfrage, und unter Berücksichtigung der sich mehrenden regionalgeschichtlichen und alltagsgeschichtlichen Arbeiten und die sich darin zeigenden Verstrickungen sind Kaisers Schlussbemerkungen wichtig und beherzigenswert. Sie leiten zu differenzierter Betrachtung an und lassen eine schlichte Bewertung des Verhaltens der damals in Caritas und Innerer Mission Verantwortung tragenden Persönlichkeiten aus der sicheren Entfernung heutiger Zeit nicht zu. Wer sich an die Schuldfrage herantraut, "wird Rechenschaft ablegen müssen, wie er sich selbst in den Konflikten unserer Zeit verhält, und ob er davor gefeit ist, zu irren oder Fehlentwicklungen nicht rechtzeitig zu erkennen." (59-61).

Die katholischen Beispiele schildern den damaligen Hildesheimer Bischof Joseph Godehard Machens (Gabriele Vogt), die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz (Lieselotte Sterner) und in zwei Beiträgen Caritas und Wandernde Kirche (Hartwig Drude und Thomas Scharf-Wrede). Eindrucksvoll ist die im Wortlaut wiedergegebene Predigt, die Bischof Machens im August 1941 im Hildesheimer Dom gehalten hat. Eindrucksvoll ist auch das Ringen um den Erhalt der Arbeit der Vinzentinerinnen unter der Führung der damaligen Generaloberin Sr. Honoria Roland. Wie auch viele andere Verantwortungsträger in Caritas und Innerer Mission mied sie die direkte Konfrontation mit dem NS-Staat. Dass die Generaloberin sich an das Flaggengebot des NS-Staates und an die Anordnung, in öffentlich zugänglichen Räumen Hitlerbilder anzubringen, gehalten hat und bei offiziellem Behördenverkehr den deutschen Gruß verwandte, hat in der Wertung dieses Verhaltens nicht dazu geführt, daraus eine nationalsozialistische Gesinnung abzuleiten. Letztlich hat sie damit die Eingriffe der Nazis nicht abwehren können, wie es auch andernorts nicht gelang.

Bei diesen Aufsätzen spürt der Leser die starke innere Verbundenheit der jeweiligen Verfasser mit ihrem Thema, richtiger gesagt: mit den dargestellten Persönlichkeiten, ohne dass dadurch Qualität und Zuverlässigkeit der historischen Darstellung beeinträchtigt wird.

Aus dem Bereich der Inneren Mission wird u. a. über drei große Einrichtungen berichtet: das Stephansstift Hannover (Michael Häusler), Neuerkerode (Joachim Klieme) und die Henriettenstiftung Hannover (Andreas Sonnenburg). Die Darstellungen sind in ihrer geschichtlichen Ergiebigkeit unterschiedlich. Michael Häusler schildert das erste Jahr nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten mit dem Versuch des damaligen Leiters des Stephansstiftes, Pastor Ernst Wolff, seine Anstalt aus der Politik herauszuhalten. Bedrückend sind die von Joachim Klieme geschilderten Vorgänge in Neuerkerode: die Umsetzung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und nach der Beschlagnahmung der Anstalt durch den NS-Staat, der Herauslösung aus dem Verband der Inneren Mission und der Einsetzung eines aus der Kirche ausgetretenen ehemaligen Pfarrers und fanatischen Nationalsozialisten als Leiter der Anstalten die Transporte in Tötungsanstalten. Hier zeigte sich die Grausamkeit des NS-Regimes gegenüber Behinderten, vor der es faktisch kein Entrinnen gab. Bedauerlicherweise, vielleicht aus der Betroffenheit erklärbar, gelingt es Klieme nicht, ein zutreffendes Bild der Mitarbeiterschaft einschließlich der Anstaltsleitung zu zeichnen. Unter Berufung auf ein einziges und dazu noch fragwürdiges Dokument, das er keiner kritischen Analyse unterwirft, erklärt er die gesamte Mitarbeiterschaft bis auf wenige Ausnahmen von "Unbelehrbaren" zu Nationalsozialisten: "Der Nationalsozialismus ist das uns Gemäße" (203). Es ist der Einsatzbereitschaft dieser Mitarbeiterschaft zu danken, dass Betreuung und Pflege der Bewohnerinnen und Bewohner von Neuerkerode in der NS-Zeit mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck auf die Anstalt und wachsender Personalknappheit nicht zusammenbrach. Auch das Bild, das Klieme vom damaligen Anstaltsleiter, Kirchenrat Ludwig Beyer, zeichnet, ist auf Grund der Quellenlage korrekturbedürftig. Jedenfalls hat die Mitarbeiterschaft von Neuerkerode ein derartiges und dazu falsches Pauschalurteil nicht verdient.

Dass Caritas und Diakonie sich zu einer gemeinsamen Tagung zusammenfinden mit der Aufgabenstellung, die NS-Zeit und ihre Auswirkungen auf die beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände regional aufzuarbeiten, erscheint uns heute angesichts der vielfältigen Kontakte zwischen beiden Kirchen fast als eine Normalität. Dass dabei in aller Offenheit auch das Verhalten einzelner Persönlichkeiten, die damals in hoher Verantwortung standen, zur Sprache kommt, ist richtig und notwendig. Dabei fällt auf, dass in beiden Verbänden immer wieder durch Lavieren und Konzessionen an den NS-Staat versucht wurde, seinem Zugriff zu entgehen, letztlich ohne nachhaltigen Erfolg. Die Grenze zwischen möglicher Konzession und Mittäterschaft zu bestimmen, ist vielfach sehr schwierig. Ein Vergleich zwischen den beiden Verbänden ist bei der zufällig anmutenden Auswahl der Beispiele nicht möglich.

Für beide Verbände wird das Spektrum der Arbeit nicht abgedeckt. Trotzdem stellt der Sammelband einen wichtigen Schritt zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit in Niedersachsen dar. Er bietet eine Fülle von Informationen und öffnet den Blick in eine von Sorgen, Ängsten, Verunsicherungen und Unsicherheit im Urteilen, von Irrtum und auch Versagen, von Mut, Glaubensstärke und Kampfeswille erfüllten Alltag.

Andreas Sonnenburg schließt seinen Aufsatz über die Henriettenstiftung mit folgender Feststellung: "Verhalten und Nichtverhalten der damaligen Leitung der Henriettenstiftung aus heutiger Sicht moralisch zu werten, wäre anmaßend. Persönlicher Mut ist nicht einklagbar, erst recht dann nicht, wenn die möglichen negativen Konsequenzen aus dem auf ihnen basierenden Handeln auch von anderen zu tragen sind." (259) Diese vorsichtige Zurückhaltung kennzeichnet die in dem Sammelband zusammengefassten Arbeiten, ohne dadurch an Qualität der historisch-kritischen Erforschung einzubüßen.