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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

790–792

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ostmeyer, Irena

Titel/Untertitel:

Zwischen Schuld und Sühne. Evangelische Kirche und Juden in SBZ und DDR 1945-1990. Mit einem Geleitwort v. J. H. Schoeps.

Verlag:

Berlin: Institut für Judentum 2002. 400 S. 8 = Studien zu Kirche und Israel, 21. Geb. ¬ 15,20. ISBN 3-923095-75-9.

Rezensent:

Michael Ulrich

Die zu besprechende Dissertation, betreut von Prof. Dr. Julius Schoeps, wurde im Sommersemester 1998 von der Historischen Fakultät der Universität Potsdam angenommen. Bisher gab es schon mehrere Untersuchungen über die Jüdischen Gemeinden in der DDR, auch über das differenziert zu beurteilende Verhältnis der DDR-Regierung zu den Juden. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Stellung der evangelischen Landeskirchen zu den Juden gab es noch nicht. Jetzt liegt sie vor und kommt zu einem "in vielem unerwarteten Bild" (Schoeps). Die Arbeit untersucht die Weichen stellende Zeit der Sowjetischen Besatzungs-Zone (SBZ) und die darauf folgende der DDR. Sie hat zwei Hauptteile:

I. Teil: Die Auseinandersetzung der evangelischen Kirche mit dem Judentum. Dieser Teil wird in 9 Kapiteln breit aufgefächert: 1. Rückschau auf die NS-Zeit, in der sich die Bekennende Kirche (BK) von den Deutschen Christen (DC) abgesetzt hatte, auch mit einer anderen Einstellung zu den Juden. 2. Frühe Erklärungen des ÖRK in Genf zur Schuld an den Juden; erste noch gesamtdeutsche zaghafte Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). 1969, nach der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR, kommt es 1975 zur Erklärung der leitenden Geistlichen des BEK zur Zionismus-Resolution der UNO; 1978 zum Wort an die Gemeinden zum 40. Jahrestag der sog. Kristallnacht. Zum 50. Jahrestag 1988 konnte bereits wieder ein gemeinsames Wort von der EKD und dem BEK verabschiedet werden. Die Erklärungen des BEK wurden möglich durch vorhergehende Äußerungen einzelner Landeskirchen. 3. Die Stellungnahmen des BEK zum Staat Israel unterscheiden sich wesentlich von den staatlichen. Sie konnten deshalb oft nur maschinenschriftlich vervielfältigt werden. 4. Die Darstellung der landeskirchlichen Presse nimmt ein weites Feld ein: Amtsblätter; fünf Kirchenzeitungen; Evangelischer Nachrichtendienst (ENO; ENA); Monatsschrift für kirchliche Mitarbeiter: Zeichen der Zeit; sogar über drei kleine staatsfreundliche Periodika: Glaube und Gewissen, Standpunkt, Weißenseeer Blätter wird berichtet, (über das Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR erst im II. Teil). 5.Die Behandlung des Judentums im kirchlichen Religionsunterricht wird dargestellt durch Lehrpläne und einschlägige Beiträge der Zeitschrift Christenlehre. Als einziges nichtstaatliches Meinungsbildungsinstrument hatte der kirchliche Religionsunterricht damals besondere Bedeutung. Er wurde in Pfarrhäusern gehalten. Entgegen anders lautenden Behauptungen vertiefte die Christenlehre nicht den Graben zu den Juden, sondern bemühte sich, nach und nach auch Brücken zum gegenseitigen Verstehen zu bauen. 6. Den Wandel der Darstellung der Juden in der Predigt bietet das Beispiel der Predigtmodelle für den Karfreitag und den Israelsonntag. 7. Praktische Hilfe für Jüdische Gemeinden bestand u. a. in Arbeitseinsätzen kirchlicher Jugendlicher auf Jüdischen Friedhöfen. Besonders wird berichtet vom Einsatz für die Friedhöfe Berlin-Weißensee und Adass Jisroel. Der Staatsjugend (FDJ) konnte es nur in sehr geringem Maße gelingen, solche Dienste nachzuahmen, weil es der FDJ von ihrer Ideologie her schwer fiel, Jugendliche für solche Arbeiten zu motivieren. Dennoch berichteten die öffentlichen Medien nur von ihnen. 8. Die Gestaltung des Jahresgedächtnisses der Pogromnacht ist ein Gradmesser für den Wandel. Erster Höhepunkt 1978, zweiter 1988. 9. Berichte von Mahnmalen auf kirchlichem Boden und Wanderausstellungen in Kirchen durch das ganze Gebiet der DDR schließen den Teil I ab, der aufzählt, was im Laufe dieser Zeit von den Landeskirchen (und unter ihrem Dach) in Bezug auf die Juden geschehen ist.

II. Teil: Die Entwicklung einer neuen Beziehung zwischen Evangelischer Kirche und Jüdischen Gemeinden/Juden in der DDR. Hier wird gefragt, wie konnte es zu dem berichteten Wandel in den Landeskirchen kommen? Was waren die Kräfte, die ihn bewirkten? 1.Versuch einer Theorie des christlich-jüdischen Dialoges. Er setze die seltene Chance der persönlichen Begegnung von Christen mit Juden voraus. Andernfalls könnte man höchstens von Beziehungen zwischen Christentum und Judentum reden und von gegenseitig bejahter Koexistenz. (Ich möchte ergänzen: zwischen den beiden Polen Dialog und Koexistenz gab es ein breites Feld christlich-jüdischer Begegnung und Zusammenarbeit.) 2. Der Weg ging von der Judenmission zu Dialog und Partnerschaft. 3. Wachstum der christlich-jüdischen Beziehungen in der DDR: 3.1 Beschreibung unserer jüdischen Partner, die vor allem durch ihre kleine Zahl gekennzeichnet war. 3.2 Aktion Sühnezeichen und 3.3 Kirchentage arbeiten übergemeindlich. Die christlich-jüdische Dimension gehört zu beider Arbeit, sie erschöpft sich aber nicht in ihr. 3.4 Aufzählung der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaften (ausführlichster Abschnitt des II. Teiles). Sie alle sind im Raum der DDR entstanden, wurden aber nicht von den Kirchenleitungen angeordnet. Deshalb haben sie sich unterschiedliche Namen gegeben: Leipzig, Mecklenburg-Rostock: Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum; Berlin: Arbeitsgemeinschaft Judentum und Christentum; Kirchenprovinz Sachsen: Christlich-jüdische Arbeit; Dresden: Arbeitskreis Begegnung mit dem Judentum; Thüringen-Erfurt, Greifswald, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz): Arbeitskreis Kirche und Judentum. Trotz Eigenständigkeit standen die Kreise in regelmäßigem Austausch und Koordination (ein- bis zweimal im Jahr) zunächst mit dem ältesten Kreis in Leipzig vor allem unter Pfarrer Siegfried Theodor Arndt, später zusätzlich in Berlin unter OKR Tschoerner im Auftrag des BEK und der Gemeinsamen Einrichtung Ökumene. Um sich ein anschauliches Bild von der Tätigkeit dieser Kreise machen zu können, sind dem Buch im Anhang ausführliche Veranstaltungspläne vieler dieser Arbeitsgemeinschaften beigefügt. Außerdem enthält der Anhang Zeittafeln, Dokumente, ein Quellenverzeichnis und Personenregister. Am Schluss des II. Teiles ist zu lesen:

"Zahlenmäßig war es jeweils nur eine sehr kleine Gruppe innerhalb der jüdischen und christlichen Gemeinden, die eine Begegnung suchte. Jedoch konnte durch sie einiges innerhalb der Kirche in Bewegung gesetzt und der Staat auf bestimmte Probleme aufmerksam gemacht werden. In Fragen wie dem Bekenntnis der Schuld an der Schoah und Stellungnahmen gegenüber dem Staat Israel stellten die christlich-jüdischen Arbeitsgruppen eine Alternative zur staatlichen Position dar. Diese Unabhängigkeit von der vorgegebenen Linie blieb auch im atheistischen Teil der DDR-Gesellschaft nicht ohne Echo. Insgesamt lässt sich die Wirkung auf die Gesellschaft durch die christlich-jüdischen Begegnungen in der DDR nur mit der der kirchlichen Basisgruppen in den 80er Jahren vergleichen." (305)

Neben viel Lob über diese hilfreiche und informative Arbeit zuletzt ein paar kritische Hinweise: Das Buch bietet mehr, als sein Titel erwarten lässt. Er ist vermutlich beeinflusst von einem Wort Professor Walks, dem ehemaligen Leiter des Leo Baeck Institutes in Jerusalem, an die Autorin, das am Beginn der Einleitung von ihr zitiert wird: "Was uns heute fehlt, ist eine wissenschaftliche Analyse der Beziehungen zwischen den jüdischen Gemeinden und der evangelischen Kirche in der DDR". Der I. Teil des Buches erfüllt diese Erwartung. Der II. Teil jedoch folgt der inneren Dynamik der Begegnung, indem er nicht mehr pars pro toto von der evangelischen Kirche, sondern fast nur noch von Christen und Juden spricht, was sich bereits in den Unterüberschriften äußert.

Denn bei der Begegnung von Christen und Juden geht es ja nicht um die Profilierung einer Konfession, sondern um die vor aller Kirchenspaltung liegende Erstspaltung des Gottesvolkes. So gingen auch die Initiativen zu den Begegnungsgruppen nicht von einer (immer notwendig konfessionell geprägten) Kirchenleitung aus, sondern von engagierten einzelnen Christen, etwa Pfarrer Siegfried Theodor Arndt, Pfarrer Johannes Hildebrandt, Missionsdirektor Christfried Berger, und von jüdischer Seite vom Historiker Helmut Eschwege. Sie luden nicht zu evangelisch-jüdischen Zusammenkünften ein, sondern zu christlich-jüdischen. So kamen denn auch die Vorbereitenden und Teilnehmenden dieser Veranstaltungen nicht nur aus Landeskirchen, sondern auch aus evangelischen Freikirchen und katholischen Gemeinden und sogar Kirchenferne machten mit. Trotzdem hatte der BEK in der DDR eine besondere Schutzfunktion für die christlich-jüdische Arbeit im Lande, denn freie Vereine konnten zu dieser Zeit nicht gegründet werden. Interessenten für diese Arbeit mussten sich entscheiden, ob sie einem staatlich gelenkten Dachverband beitreten wollten, etwa dem Kulturbund oder der Nationalen Front, oder einem kirchlichen (so in Dresden). Da bot sich damals als größter kirchlicher Verbund in der DDR der BEK an, unter dessen Schutz auch nicht-evangelische Christen, wie ich bezeugen kann, damals gut gefahren sind.

Als sachgemäßeren Titel des Buches hätte ich mir denken können, um auch seinen II. Teil mit einzubeziehen: Christen und Juden in SBZ und DDR; für den I. Teil: Die Evangelischen Landeskirchen in ihrer Beziehung zu den Juden (ergänzbar durch Hinweise aus anderen Kirchen). II. Teil: Die Entwicklung einer neuen Beziehung zwischen Kirchen/Christen und Jüdischen Gemeinden/Juden in der DDR. (Analog hatte man ja auch 1988/89 nicht vom Konziliaren Prozess der Kirche in der DDR gesprochen, sondern von einer Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen [Plural!] in der DDR).

Jetzt nach der Wende hat sich die Frage nach dem Träger der christlich-jüdischen Arbeit weitgehend gelöst, haben sich doch die einen Arbeitsgemeinschaften der Konferenz der Landeskirchlichen Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK) angeschlossen und die anderen (auch neu gegründete) dem Deutschen Koordinierungs-Rat der Gesellschaften für christlich- jüdische Zusammenarbeit e. V. Jede Form hat ihre Stärken und Grenzen. Die erstgenannte Form ist den Landeskirchen zugeordnet und hat die Chance, alle Kirchgemeinden einer Landeskirche anzusprechen, die zweite ist deutlicher ökumenisch geöffnet, denn jede Gesellschaft hat eine jüdische, eine evangelische und eine katholische vorsitzende Person.