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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

789 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Hartmut

Titel/Untertitel:

Protestantisches Christentum im Prozeß der Säkularisierung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 218 S. 8. Kart. ¬ 29,90. ISBN 3-525-36250-1.

Rezensent:

Dietz Lange

Die 10 Aufsätze des Bandes, zwischen 1983 und 1999 geschrieben und zur Hälfte bisher nicht veröffentlicht, behandeln drei Themenfelder: Nationalismus und Antisemitismus bei den deutschen Protestanten (Nr. II-V), Luthers Vereinnahmung durch die SED im Lutherjahr 1983 (VI und VII), die Christianisierung Amerikas und Dechristianisierung Europas im 19. und 20. Jh. (VIII und IX). Kap. I und X sind Einleitung und Zusammenfassung.

Die mittlere Gruppe enthält eine instruktive und kritische Einzelanalyse der 15 Thesen der SED von 1983 und ihrer Entstehungsgeschichte. Doch gilt das vorrangige Interesse des Autors der ersten und dritten Gruppe.

Der Nationalismus ist für die neuere Geschichte des Protestantismus in der Tat von ebenso zentraler wie unrühmlicher Bedeutung. Der m. E. bedeutendste diesbezügliche Aufsatz ist der 5., der das Thema anhand von E. Voegelin, G. Mosse und K. Barth grundsätzlich behandelt. Dazu kommen drei sorgfältige Untersuchungen über den Antisemitismus protestantischer Pfarrer zwischen 1918 und 1939 anhand einer Zirkularkorrespondenz, den Wandel von H. Preuß' Lutherbild sowie eine Auswahl deutscher Lutherliteratur nach 1945. Das scharfe Licht, das hier auf nationalistische und antisemitische Verblendung sowie auf opportunistische Äußerungen nach 1945 fällt, beweist einmal mehr die Unentbehrlichkeit exemplarischer Miniaturen neben der großen Zahl umfassender Monographien, die es über diesen Zeitraum gibt.

Den kritischen Urteilen des Vf.s stimme ich weitgehend zu. An zwei Punkten habe ich jedoch Anfragen. Der eine betrifft die Nr. IV. Der Vf. vertritt zwar nicht die durch den etwas reißerischen Titel "Muss Luther nach Nürnberg?" nahe gelegte, von Th. Mann, K. Barth und anderen vertretene, simple Genealogie Luther - Bismarck - Hitler. Und die Selbstverteidigungsfunktion deutscher Luther-Apologetik nach 1945 gab es in der Tat; der Kritik an den Tiraden des späten Luther gegen die Juden ist selbstverständlich Recht zu geben. Trotzdem ist es zu einfach zu suggerieren, Luthers Obrigkeitsschrift propagiere einen kritiklosen Gehorsam, und die schrecklichen Äußerungen gegen die Juden spielten in seiner Wirkungsgeschichte eine eher marginale Rolle, bis die Antisemiten des 19. Jh.s sie gezielt ins Feld führten.

Der zweite Punkt betrifft die Sympathie des Vf.s für K. Barth. Dessen Verdienste für eine Überwindung des deutschen protestantischen Nationalismus sind natürlich unbestreitbar. Doch sollte man daneben nicht seine problematische Wirkung auf den so genannten Linksprotestantismus nach 1945 verschweigen, der politische Entscheidungen unmittelbar aus dem christlichen Bekenntnis abzuleiten suchte (Friedensdiskussion).

Die Arbeiten über die gegensätzliche Entwicklung des Christentums in Amerika und Deutschland enthalten viele interessante Informationen, haben auch als Typisierungen einen (begrenzten) Erkenntniswert, sind aber m. E. etwas zu schematisch geraten. Der Autor setzt sich zwar mit dieser Kritik auseinander, doch m. E. nicht auf sehr überzeugende Weise. Die "viel harmonischere ... Verbindung von christlichen Werten und von politischen Zielsetzungen" (167) in den USA mit ihrer Bejahung der Menschenrechte hat als Kehrseite den Rassismus konservativer christlicher Kreise und den starken Einfluss des Fundamentalismus auf große Teile der Republikanischen Partei. Und sind TV-Evangelisten oder Unternehmer-Organisationen, die "health and wealth" als Evangelium ausgeben, Zeichen für "Christianisierung"?

Insgesamt ist das Bändchen jedoch ansprechend geschrieben und lesenswert auch da, wo es zum Widerspruch reizt. Sympathisch ist, dass der Autor stets die begrenzte Tragfähigkeit seines methodischen Ansatzes im Blick hat.