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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

784–786

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Rydstrøm-Poulsen, Aage

Titel/Untertitel:

The Gracious God. Gratia in Augustine and the Twelfth Century.

Verlag:

Kopenhagen: Akademisk Forlag 2002. 555 S. gr.8. Geb. DKr 460,00. ISBN 87-500-3675-0.

Rezensent:

Volker Leppin

Dass Augustins Gnadenlehre nicht das gesamte Mittelalter hindurch vergessen war, hat die theologische Forschung zum späten Mittelalter mittlerweile deutlich herausgearbeitet. Weit weniger bearbeitet ist in dieser Hinsicht das frühe und hohe Mittelalter- obwohl die vorliegende Arbeit wieder zeigt, welch beneidenswert großzügige Textbasis der Migne hier bereithält.

So ist es hochwillkommen, dass R.-P. in Kopenhagen eine auf langjähriger Forschungstätigkeit beruhende Dissertation vorgelegt hat, die freilich in dem Bemühen, die große Materialmenge breit darzustellen, nicht immer von Redundanzen frei ist. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Entwicklung der Gnadenlehre bis zu Petrus Lombardus nicht als Dekadenzgeschichte, sondern als anknüpfende und weiterführende Augustin-Rezeption zu deuten.

Trotz der geschlossenen Deutung, die R.-P. Augustins Gnadenlehre ab 395 gibt, identifiziert er bei ihm Elemente, die einer unterschiedlichen Rezeption fähig sind. Das betrifft insbesondere das Nebeneinander einer christologisch zentrierten Vorstellung von der Sündenvergebung und einer eher pneumatologisch gedachten Heiligungsvorstellung.

Die Stärke der Arbeit liegt dabei in der elementarisierenden Isolierung geistesgeschichtlicher Stränge anhand der jeweils verwendeten gratia-Definition - eine Stärke freilich, die mit dem Verzicht auf individuelle Profilierungen und Kontextualisierungen der jeweils untersuchten Denker erkauft ist. Dieser Methode, die nach dem Wiederauftreten bestimmter Formeln sucht, eignet zudem von vorneherein eine Konzentration auf konservativ-tradierende Momente des Denkens gegenüber innovativen. Insofern präformiert sie - ohne dass dies ihren Wert pauschal in Frage stellen müsste - ein Ergebnis, in dem die beharrenden Momente - in diesem Falle das authentische Augustin-Verständnis - im Vordergrund stehen.

Als dessen Schlüsselmerkmal nimmt R.-P. das Verständnis von gratia als Sündenvergebung heraus, dessen Rezeption er in einem auf die Augustin-Analyse folgenden zweiten großen Abschnitt bis zu Lanfrank (ca. 1005/10-1089) als dominante Linie nachzeichnet, der ein verhältnismäßig schwaches Rinnsal pelagianischer Tradition entgegensteht, das in das Werk Wilhelms von Champeaux (ca. 1070-1122) mündet.

Bei seiner Untersuchung von drei namhaften frühscholastischen Schulhäuptern im dritten Kapitel sieht R.-P. dann vor allem Gilbert von Poitiers (ca. 1080-1154) und die ihm folgenden Porretaner als radikale Vertreter jenes augustinischen Erbes an, die jedes Mitwirken menschlichen Verdienstes ausschließen. Doch auch Petrus Abaelard wird gegenüber dem schon zeitgenössischen Vorwurf des Pelagianismus durch den Hinweis in Schutz genommen, dass die bei ihm überwiegende pneumatologische Dimension, in der Gottes Liebe und die aus ihr fließende caritas des Menschen eng aufeinander und auf den Heiligen Geist bezogen werden, ihrerseits durchaus an augustinisches Denken anknüpfen kann, ja, Abaelard wird gar als "quite conservative" apostrophiert (197), worüber man gewiss geteilter Meinung sein kann. Eine entscheidende Etappe in der Umformung augustinischen Denkens stellen dann nach R.-P. die Viktoriner dar, bei denen gegenüber dem Verständnis von Gnade als Sündenvergebung ein andere Aspekte in Augustins Oeuvre aufgreifendes sakramentales Gnadenverständnis leitend ist, das in der Gnade eine Kraft sieht, die den gefallenen Menschen wieder aufrichtet.

Auf diese scholastischen Theologen folgen nach dem von Leclercq etablierten Schema im folgenden Kapitel zwei monastische Theologen: Wilhelm von Saint-Thierry (ca. 1080/5- 1148) - von dessen Erforschung R.-P.s Studien offenbar ausgingen - steigert den Gedanken der Sündenvergebung zu einer über Augustin deutlich hinausgehenden Vergottungstheologie, während Bernhard von Clairvaux, ohne Augustins Betonung der Souveränität Gottes preiszugeben, den Aspekt der Gnade als Kraft und Hilfe zum rechten Leben betont.

Die Untersuchung gipfelt im fünften Kapitel in einer Darstellung des Lombarden und der Diskussion um ihn in Paris. Auch er wird als legitimer Erbe Augustins gedeutet, der jeden Synergismus ausschließt und eine Alleinwirksamkeit Gottes zum Heil lehrt. Bedeutsam wird bei ihm die Zuspitzung, dass die Wirkung der wiederum vornehmlich als Gabe und nur ausnahmsweise als Sündenvergebung gedeuteten Gnade darin besteht, dass der Heilige Geist als caritas im Menschen präsent ist. Während hier die pneumatologische Erklärung die augustinische Souveränität Gottes im Heilsgeschehen bewahrt, sieht R.-P. bei Wilhelm von Auxerre (ca. 140/50-1231) den Übergang zu einer Lehre von der Gnade als Besitz des Menschen, die schließlich in die aristotelisch verfärbten Habitus-Lehren der Hochscholastik mündet. Auch wenn man die damit angedeutete antithomistische Wendung des Werkes, die wohl auch als ein Gegenschlag gegen die nach wie vor in weiten Bereichen thomistisch dominierte Scholastikforschung zu verstehen ist, nicht mitvollziehen mag, lädt R.-P.s Rekonstruktion der Entwicklung der Gnadenlehre Mediävisten, Reformationshistoriker und Ökumeniker zu weiterer Reflexion ein, zu der auch eine kritische Überprüfung der Tragfähigkeit seines rezeptionsgeschichtlichen Ansatzes gehören muss.

Die Studie stellt einen wesentlichen Baustein zu einer angemessenen Würdigung der Geschichte des mittelalterlichen Augustinismus und eine wohltuende Verunsicherung eingefahrener Denkmuster dar. Deutlich wie selten wird hier erklärt und erhellt, wie eine sich selbst als Augustinrezeption verstehende Theologie Grundlage für theologische Modelle bilden konnte, die in der Reformationszeit als Abweichungen von Paulus und Augustin identifiziert werden mussten. Vor allem aber zeigt sie, welche Differenzierung beim historischen Gebrauch normativ gewordener Begriffe und Namen nötig - und möglich - ist. Das voluminöse Werk hat in einem Themenbereich von höchster Bedeutung für das Selbstverständnis der westlichen Christenheit echte Grundlagenarbeit geleistet.