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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

780–782

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Berndt, Rainer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

"Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst". Hildegard von Bingen (1098-1179).

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2001. 696 S. m. zahlr. Abb. gr.8 = Erudiri Sapientia, 2. Geb. ¬ 94,80. ISBN 3-05-003568-4.

Rezensent:

Peter Dinzelbacher

Die heilige Hildegard hat Geburtstag, und alle feiern mit. Nicht nur Institutionen und Institute, Universitäten und Akademien, sondern last not least auch die Verlage. Man könnte eine gar nicht knappe Liste derer erstellen, die das Jubiläumsjahr 1998 für entsprechende Publikationen genutzt haben, im In- und Ausland. Auch der Akademie-Verlag, früher als engagierter Verbreiter eines ziemlich anderen Weltbildes bekannt, hat sich dem Trend an- und dem katholischen Publikum aufgeschlossen und die von dem Jesuiten Rainer Berndt herausgegebene theologiegeschichtliche Serie mit dem metathetisierten Titel einer bekannten Zeitschrift in sein Programm aufgenommen. Mit dem vorliegenden Band kommen nun die Tagungsakten des im März 1998 in Mainz abgehaltenen Symposiums zum Druck, die sich meistenteils von ähnlichen Unternehmungen (vgl. ThLZ 124 [1999/1], 59 ff.) positiv abheben und auch von der speziell in der amerikanischen Mediävistik so üblichen feministischen Hildegarddeutung absehen.

Überblättert man die bei solcher Gelegenheit offensichtlich nach wie vor obligaten Elogen eines Bischofs, eines Rektors und einer Ministerin, um zu den wissenschaftlichen Beiträgen zu kommen, stößt man zu Beginn auf einen sechzigseitigen Vergleich zwischen Hildegards religiösen Konzeptionen mit denen innerhalb der Reformbewegungen ihrer Zeit. F. Felten zeigt darin gründlich und kompetent, wie das monastische Umfeld auf dem Disibodenberg aussah (traditionell), welche vita religiosa Hildegard auf dem Rupertsberg realisierte (ebenso traditionell, von einigen Details abgesehen), und wie sie sich zu den Reformbewegungen stellte (in der Praxis nicht von ihnen berührt, theoretisch kritisch). Dabei wird ausführlich Hildegards Zeit (die nicht als Reklusendasein missinterpretiert werden darf) unter der Leitung der nunmehr auf Grund ihrer kürzlich entdeckten Vita besser bekannten Jutta gewürdigt, desgleichen die wachsende Skepsis gegenüber der Einrichtung Doppelkloster, Hildegards Urteile über das Mönchtum und ihr Kommentar zur Benediktusregel u. a. Genau gleich lang und ebenso gründlich ist der Beitrag von M. Embach, ein Vorgriff auf seine zu erwartende Monographie über die Überlieferungsgeschichte der Werke Hildegards und speziell die Editio princeps des Scivias (1513) und ihren Einfluss auf die Hildegard-Kenntnis der Neuzeit. Es wird deutlicher als bislang, dass die Visionärin im Mittelalter recht weitgehend als Prophetin angesehen wurde, die durch Exzerpte präsent blieb, wogegen ihre Originalschriften kaum mehr gelesen wurden.

Neben diesen beiden wissenschaftlich ertragreichsten Arbeiten finden sich noch folgende Aufsätze: G. Iversen stellt Passagen v. a. aus den Hymnen zusammen, in denen Hildegard über die Himmelschöre der Engel spricht (jedoch ohne Kenntnis der maßgeblichen Monographie von B. Bruderer Eichberg, Les neuf choeurs angéliques, Poitiers 1998, aber auch älterer einschlägiger Arbeiten wie der von C. Lutz). Über die Standortbestimmung der Frauenklause auf dem Disibodenberg handelt E. Nikitsch, auch er wie die bisherige Forschung ohne konkretes Ergebnis. F. Staab rollt die Legende vom Ordensübertritt zu den Zisterziensern auf, geht aber dann auf die Besitzgeschichte ihres Klosters über. Das Verhältnis der Nonne zu den Kanonikern und Kanonissen thematisiert in etwas mühsam zu lesenden Ausführungen U. Vones-Liebenstein, die die (nicht überzeugende) Hypothese aufstellt, Hildegard habe sich erst ab 1158 widerwillig mit dem Benediktinertum identifiziert und vorher eine andere Lebensform angestrebt. Den elektronischen Thesaurus Hildegardis Bingensis, der alle möglichen Arten von Wort- und Satzsuchen ermöglicht, stellen P. Tombeur und C. Pluygers vor. Die fachtheologischen Beiträge enthalten eine Studie von J. van Banning über Hildegards Theologie in den Predigten, die nur als wirr zu bezeichnen ist und in dieser Form nicht hätte gedruckt werden sollen. Er geht darin speziell auf die allegorische Methode ein, beginnt aber völlig bezuglos Inhalte von modernen Filmen zu erzählen, wiederholt sich mehrfach u. ä.

Die Homilien der Seherin - ihre am wenigsten bekannten Schriften - nimmt sich auch B. Kienzle vor, namentlich die Exegese der Parabel vom verlorenen Sohn. Der Herausgeber handelt von der Theologie der Vision und versucht eine "Semantik von Hören und Sehen" (273), d. h. von Vision und Audition. Da er völlig auf religionspsychologische Zugänge verzichtet, die in diesem Zusammenhang unerlässlich sind, bleibt es bei einer vagen Zusammenfassung. Die Verwendung von Stellen aus dem Propheten Ezechiel untersucht J. Schröder (der einzige Autor, der auch mittelalterliches Bildmaterial heranzieht). H. Feiss möchte in einem sehr knappen Beitrag eine Christologie Hildegards erarbeiten; sie läuft auf ein im Mittelalter ganz übliches Bild hinaus: Christus als Sieger über den Satan, der ihn nicht in seiner Göttlichkeit erkannte. Inwieweit Visionen vor Hildegard und zu ihrer Zeit religionspolitisch eingesetzt wurden, stellt C. Mews dar; sie waren, wie bekannt, ein allgemein übliches Medium (vgl. ergänzend etwa R. Pauler, Visionen als Propagandamittel der Anhänger Gregors VII.: Mediaevistik 7, 1994, 155-180). Weitere Artikel beschäftigen sich mit den medizinischen Schriften der Autorin, die in ihrer Authentizität nur teilweise gesichert sind. Eine Zusammenfassung des stets auch im moralischen Bereich angesiedelten Naturverständnisses der Autorin bietet M. Enders in Form einer nach ihren Werken geordneten Deskription, nützlich angesichts ihrer Breite und Komplexität. Was nicht gesagt wird, ist, wie abstrus auch vor dem Hintergrund der sonstigen Theologie und Naturkunde des 12. Jh.s nicht weniges bei Hildegard bleibt, z. B. die (aus der Mikrokosmos-Makrokosmos-Theorie zu erklärende) Aussage über den die ganze Welt umfassenden Magen. Erst wenn man Hildegard mit Zeitgenossen wie etwa Adelard von Bath konfrontieren würde, die auf diesem Gebiet wesentlich fortschrittlichere Positionen einnahmen, würde ihre Stellung in der Geschichte der Naturerkenntnis deutlich, was eine bloße Doxographie nicht leisten kann. Den magischen Elementen in den Schriften Hildegards wendet sich L. Moulinier zu, es geht nicht nur um den bekannten Exorzismus, sondern auch um die empfohlenen Mittel gegen seelische Krankheiten.

Wieder im Bereich der Rezeptionsgeschichte befindet sich A. Einarsson, der die kosmologische Allegorie im altnordischen Raudulfs thattr (A. 13. Jh.), einer kurzen Geschichte, die in den Sagas über Olav den Heiligen überliefert ist, mit Allegorien bei Hildegard, und mehr noch mit denen des Isländischen Homilienbuches vergleicht. Es ergibt sich jedoch der vorhersehbare Schluss, dass eine Einwirkung nicht nachweisbar ist. Dass Hildegard mittelalterlichen Lesern v. a. durch das Pentachronon des Gebeno von Eberbach (um 1220) bekannt wurde, zeigt E. Stein. Dieser Zisterzienser hatte in antiapokalyptischer Tendenz v. a. die prophetischen Stellen aus ihrem Werk exzerpiert und damit die Originalschriften verdrängt.

Den Überresten der Heiligen gilt der mit Abbildungen ausgestattete Aufsatz von W. Lauter, an dem sichtbar wird, wie wichtig die Reliquienverehrung im Katholizismus immer noch ist: Lauter hat in mühsamer Arbeit alle Institutionen und Personen kontaktiert, die Hildegard-Reliquien besitzen, und zu einem Katalog verarbeitet. So erfahren wir etwa über Culver City, CA: "Seit Mitte August 1998 ist Sr. Nacy Fierro CSJ im Besitz einer Partikel vom Chorkleid der heiligen Hildegard." (509). Über die gescheiterten Kanonisationsbemühungen und die trotzdem übliche Zuschreibung des Heiligentitels an Hildegard handelt J. Santos Paz, der als Anhang den entsprechenden Abschnitt aus dem Legendarium des Pedro Calo (um 1330) abdruckt.

Für die Hildegard-Biographie ist es vielleicht am bemerkenswertesten, zu wie konträren Stellungnahmen einige der Beiträger und Beiträgerinnen gelangten: Felten, Vones-Liebenstein und Staab schreiben Hildegard namentlich in ihrer ersten Lebenshälfte unterschiedliche Orientierungen zu. So meint etwa Vones-Liebenstein, Hildegard habe Christus nicht in Armut, sondern in seinem Glanz folgen und nicht selbst die Benediktusregel annehmen wollen (240), wogegen sie Staab S. 179 sich "sehr stark den zisterziensischen Idealen" annähern lässt. Dies wird sicherlich Thema kommender Diskussion werden. Gelegentlich gibt es unpräzise, sogar auch falsche Übersetzungen aus dem Lateinischen (228.298 usw.). Dem Band sind eine Bibliographie und ein Register beigegeben. In summa findet man hier mehrheitlich durchaus weiterführende Arbeiten vereinigt, aber auch einiges ohne Schaden zu Vernachlässigende. Die künftige Hildegardforschung sollte sich freilich am besten an dem orientieren, was der Philosophiehistoriker K. Flasch am 14. IV. 98 in der FAZ gegen alle möglichen Formen illusionärer Interpretation schrieb.