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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

754–756

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baum, Armin Daniel

Titel/Untertitel:

Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit ausgewählten Quellentexten samt deutscher Übersetzung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2001. XVI, 313 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 138. Geb. ¬ 49,00. ISBN 3-16-147591-7.

Rezensent:

Michael Lattke

Seit den entsprechenden Werken von K. Aland, N. Brox, D. Guthrie, M. Hengel, K.-H. Ohlig, J. A. Sint und W. Speyer, um nur einige herausragende Namen zu nennen, hat sich auf dem Gebiet der antiken Pseudepigraphie vor allem im englischsprachigen Raum einiges bewegt. Es ist schade, dass der seit 1993 als Dozent für Neues Testament an der Freien Theologischen Akademie Gießen wirkende Vf. dieser auf den von Speyer und Brox erarbeiteten Grundlagen aufbauenden Untersuchung sich zwar ausführlich und abweichend mit D. G. Meade auseinander setzt (Pseudonymity and Canon, WUNT 39, 1986), doch die unveröffentlichten Dissertationen von J. Duff (Oxford 1998), C. K. Horn (Southwestern Baptist Theological Seminary 1996), T.L. Wilder (Aberdeen 1998) nur indirekt berücksichtigt und sogar diejenige von D. Guthrie (London 1961) als "unzugänglich" bezeichnet.

Das übersichtlich gegliederte, flüssig geschriebene und äußerst sorgfältig hergestellte Buch von Baum weist außer einigen Kleinigkeiten in den Bereichen der Interpunktion (z. B. 91, Z. 21; 111, Z. 14; 163, Anm. 75) und Rechtschreibung (z. B. 8, Z. 17: "des" statt "das"; 23, Z. 22: "derer" statt "deren"; 40, Z. 1: "Zeitgenossen"; 52, Z. 2: "setzen"; 56, Z. 25: "Schüler"; 70, Z. 2: "Assur"; 176, Z. 19: "nachzuweisen"; 253, Z. 8: "Marcian"; 267, Z. 31: "ill[ustribus]"; 268, Z. 17: "Yerushalmi"; 285, Z. 30: "Cilician") nur einen gravierenden orthographischen Fehler auf. Statt "Gölger" muss es "Gögler" heißen (außer 278 u. 304 vgl. 139, Anm. 263). Beim Stichwort "orthographisch" blickt der Rez. zurück auf anregende und interessante Lektüre von fast 200 Seiten an monographischem Text und mehr als 60 Seiten mit gut ausgewählten und hilfreich übersetzten griechischen bzw. lateinischen Quellentexten (die geschickt in die eigentliche Untersuchung integriert sind) und fragt sich, ob es demnächst "orthograph" statt "orthographisch", "monograph" statt "monographisch" oder auch "epigraph" statt "epigraphisch" heißen wird. Am Ende der Lektüre hat sich der Rez. fast daran gewöhnt, dass Baum das Adjektiv "pseudepigraphisch" - vielleicht in Analogie zu "apokryph" oder "pseudonym" (73)- durchgehend zu "pseudepigraph" verstümmelt hat. Die Herausgeber M. Hengel und O. Hofius hat diese Wortschöpfung offenbar nicht gestört (J. Frey war für die Aufnahme dieses Bandes noch nicht zuständig). H.-J. Klauck spricht auch von "pseudepigraphen Briefen" (Die antike Briefliteratur und das Neue Testament [UTB 2022; Paderborn: F. Schöningh 1998], 298 u. ö.). Dieses Lehr- und Arbeitsbuch wird von Baum allerdings nicht erwähnt.

In dem auf umfassende Quellenangaben (263-272) folgenden Verzeichnis der Sekundärliteratur (273-292) hätte es sich gut gemacht, wenn R. Bultmann mit seiner postum veröffentlichten Habilitationsschrift Die Exegese des Theodor von Mopsuestia (Stuttgart: W. Kohlhammer 1984) eingereiht worden wäre und dann zu Theodor Erwähnung gefunden hätte (139, Z. 3- 5). Und zum so genannten dritten Korintherbrief (173-174. 242-243), den man im differenzierten Register (293-313) nicht ganz leicht findet (303, s. v. [Paulus]), ist hinzuweisen auf V. Hovhanessian, Third Corinthians: Reclaiming Paul for Christian Orthodoxy (Studies in Biblical Literature, vol. 18; New York u. a.: P. Lang 2000).

Die knappe Einführung (1-6) stellt u. a. "These und Aufbau des Buches" vor (3-5): "Die Hauptthese dieser Arbeit lautet, daß die literarische Echtheit eines Buches in der Antike nicht aufgrund der Herkunft seines Wortlauts, sondern auschließlich und durchgängig aufgrund der Herkunft seines Inhalts beurteilt wurde. Eine primär (also vom Autor) mit einem Verfassernamen versehene Schrift galt folglich (außerhalb der Dichtung) als literarische Fälschung, wenn man ihren Inhalt nicht auf die in ihrem Titel genannte Person zurückführte. Die kanonische Geltung pseudepigrapher Apostelschriften wurde in der alten Kirche daher nahezu einheitlich abgelehnt" (3-4; im Original z. T. kursiv, was auch für weitere Zitate gilt).

Obwohl Baum in Kap. A ("Definitionen, Analogien und Voraussetzungen" [7-30]) nach eigener Aussage "nichts grundsätzlich Neues" bieten will (4), sind seine diagrammatischen und terminologischen Übersichten zu den "Spielarten der Pseudepigraphie" (7-17) eine gute Orientierungshilfe. Als verwandte Phänomene kommen inhaltliche Fälschung, Plagiat und Interpolation zur Sprache (17-21). "Antike Echtheitskritik" gab es auch schon (21-30), was häufig von Kritikern moderner Kritik übersehen wird.

Kap. B ("Die Täuschungsabsicht frühchristlicher Pseudepigraphen" [31-93]) ist ebenfalls durchsetzt mit mehr oder weniger treffenden Schaubildern, z. B. zu "Reden in Geschichtswerken" (35), zu "Pythagorasschriften laut Porphyrius" (55) oder zur "Lehre des Herrn (durch die zwölf Apostel)" (83). Hier findet auch die ausführlichste Auseinandersetzung mit D. G. Meade statt, und zwar unter der Überschrift "Der jüdische Traditionsbegriff" (72-79). Baum selbst kommt zu dem Ergebnis: "Neutestamentliche Pseudepigraphen sind ... nicht ohne Täuschungsabsicht verfaßt worden, sondern als literarische Fälschungen einzustufen" (80). Dieses Urteil klingt wie Dynamit, wird aber eigentlich kaum auf das kanonische NT angewandt. Was am Ende - und an manchen anderen Stellen - zu den Pastoralbriefen gesagt wird, klingt doch eher apologetisch (93).

Aus Kap. C ("Die Rezeption pseudepigrapher Bücher durch ihre Leser" [95-148]) ist auch dann viel zu lernen, wenn man der Gleichsetzung von Schriftwort und Gotteswort kritischer gegenübersteht als Baum. Vom verschiedenartigen "Umgang mit orthodoxen Pseudepigraphen" (99-125) dringt der Vf. vor zum "Hintergrund der kanontheologischen Differenz" (125- 147) und kommt zu folgendem Fazit: "Kanonische Pseudepigraphie wurde in der alten Kirche nahezu einheitlich verworfen. Dieses Urteil war tief im frühchristlichen Schriftverständnis verwurzelt und ergab sich aus der konsequenten Anwendung seiner kanontheologischen Implikationen" (148).

In Kap. D ("Die moralische Bewertung literarischer Fälschungen durch ihre Autoren" [149-177]) behandelt B. zunächst die "Entstehungsbedingungen von Offenbarungsfälschungen" (151-157). Hätte er z. B. den Montanismus berücksichtigt, wäre seine Behandlung der "prophetenlosen Zeit" differenzierter ausgefallen. Was er zur "Verurteilung literarischer Offenbarungsfälschung" sagt (157-164), bleibt im Hinblick auf Paulus ganz unbefriedigend, was nicht nur an der konservativen Beurteilung von 2Thess liegt (162-164; vgl. zur "Authentizitätsfrage" Klauck, a. a. O., 298-301). In Bezug auf die "Verteidigung literarischer Offenbarungsfälschung" (164-177) unterscheidet B. zwischen der antiken "Rechtfertigung der nützlichen Lüge" (165) und der "Rechtfertigung nützlicher Offenbarungsfälschung" (170), wobei vor allem die pseudo-clementinischen Schriften, 3Kor und das Henochbuch in den Blick geraten.

Etwas enttäuschend ist Kap. E ("Neutestamentliche Pseudepigraphie in der modernen Kanontheologie" [179-191]), in dem auf die äußerst knappe Behandlung der "Kanonunfähigkeit" die etwas differenziertere Behandlung der "Kanonfähigkeit" pseudepigraphischer Briefe und anderer Schriften folgt (181-191). Wo Baum sich selbst im Entweder-Oder-Fazit einordnet, wird nicht ganz klar (191). Das "Kern"-Problem von "Kanon im Kanon" oder "Mitte der Schrift" (187) wird jedenfalls völlig verzerrt dargestellt, weil "gefälschte Verfasserangaben" niemals zum "Kanon im Kanon" gehören (189) und das durchaus rationale Ringen (z. B. von Kümmel und Käsemann) um den theologischen Kern christlicher Botschaft gar nicht ein für allemal "zu einem konsensfähigen Ergebnis" (190) führen kann. Neutestamentlern und kritischen Bibelbenutzern geht es nicht anders als Historikern und sonstigen Wahrheitssuchern. Die von Baum in Bezug auf "die moderne Kanontheorie" gezogene "Konsequenz" ist trotz seiner ausführlichen Behandlung der "verfügbaren Quellen" keineswegs das letzte Wort (194; aufs deutschsprachige Fazit in Kap. F [193-194] folgt ein von J. Anderson angefertigtes "Summary" [194-196]).

Zur Auseinandersetzung mit B., vor allem aber auch zum eingehenden Studium der von ihm zusammengestellten Quellentexte (198-261), sei diese wissenschaftliche Untersuchung allen Bibelwissenschaftlern wärmstens empfohlen.