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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

742–745

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Albertz, Rainer

Titel/Untertitel:

Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 344 S. m. Abb. u. Tab. gr.8 = Biblische Enzyklopädie, 7. Kart. ¬ 22,80. ISBN 3-17-012336-X.

Rezensent:

Rüdiger Liwak

Nach N. P. Lemche (Die Vorgeschichte Israels, 1996), V. Fritz (Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., 1996), W. Dietrich (Die frühe Königszeit in Israel, 1997) und A. Schoors (Die Königreiche Israel und Juda im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr., 1998) hat R. Albertz einen weiteren Band in der von W. Dietrich und W. Stegemann herausgegebenen Reihe "Biblische Enzyklopädie" vorgelegt. In Übereinstimmung mit den anderen Bänden (vgl. dazu die Rezensionen in ThLZ 122 [1997], 657 f. und 1112 f.; 125 [2000], 265-268 und 388- 390) folgt der Vf. einem vierteiligen Schema, nach dem das biblische Bild der Epoche, die wissenschaftliche Rekonstruktion, die Literatur der Epoche und der theologische Ertrag zu präsentieren sind.

Am Anfang der Darstellung (11 f.) wird das Problem der Epochenabgrenzung erörtert: Es soll um den Zeitraum von 587/6 bis 520 v. Chr. (und nicht wie üblich bis 539 v. Chr.) gehen, also um die Zeit von der Zerstörung und Deportation bis zur ersten größeren Rückkehrbewegung, mit der erst um 520 v. Chr. gerechnet wird. Dem Mangel an biblischen Exilsdarstellungen begegnet der Vf., indem er zunächst im Alten Testament nach theologisch begründeten "Exilskonzeptionen" (13-22) sucht, dann nach entsprechenden Konzeptionen in späten erbaulichen Erzählungen (23-40) und schließlich in apokalyptischen Geschichtsreflexionen (40-45).

Beachtenswert sind die Nuancierungen, die zwischen Jer 39-43, 2Kön 25 und 2Chr 36 herausgearbeitet werden, es scheint allerdings neben der Deutung des Exils "als (vorläufiges) Ende der Geschichte" (2Kön) und "als Sabbatruhe für das Land" (2Chr 36) das Verständnis "als verspielte Heilschance" (Jer 39-43) überzogen, auch wenn Jer 39,10 und 40,7-12 auf ökonomische und gesellschaftliche Chancen für die mittellose Bevölkerung schließen lassen. Die "Vorstellung einer Chance, welche die Entfernung der Großgrundbesitzer für das Land immerhin bot" (19), darf nicht zur sozialromantischen Idealisierung verführen, solange nicht klar ist, was die Abhängigkeit von den Babyloniern politisch und vor allem wirtschaftlich bedeutet hat.

Die Schwierigkeit, in nachexilischer Zeit die Exilsepoche in die Geschichte Gottes mit seinem Volk zu integrieren, und die Spannweite von späteren Deutungen des Exils als Bewährung und Bedrohung zeigt der Vf. in bemerkenswerter Dichte anhand legendarischer Danielerzählungen (Dan 1-6), der Erzählungen von (Susanna und von) Bel und dem Drachen, der Pagenerzählung (3Esra 3,1-5,6) sowie der Tobit- und Juditherzählung. Damit stellt sich freilich das grundsätzliche Problem, dass sich der geschichtliche Wert und der theologische Ertrag unter historischem Aspekt von der Zeit in den Erzählungen auf die Zeit ihrer Entstehung verschieben.

Die Rekonstruktion der exilischen Geschichte (46-116) ist plausibel strukturiert. Das Quellendunkel soll dabei von der Geschichte der altorientalischen Reiche aufgehellt werden. Zunächst wird die Geschichte des neubabylonischen Reiches vom Aufstieg bis zum Abstieg mit Schwerpunkt auf der Regierungszeit Nebukadnezars (47-65) thematisiert. Dabei kommen schon Juda und Jerusalem in den Blick, punktuell auch Ägypten. Der Überblick ist höchst informativ und bietet immer wieder überraschende Schlussfolgerungen, die allerdings z. T. ungeschützt sind. Ob man aus der richtigen Annahme, dass die Babylonier die judäischen Verhältnisse gut kannten, schließen sollte, dass Nebukadnezar mit Plünderung und Zerstörung des Tempels "die theologische Grundlage der antibabylonischen Partei treffen wollte" (54), sei dahingestellt.

So informativ wie die Darstellung der babylonischen Geschichte ist auch der Teil zur Geschichte Israels während der Exilszeit (65-97).

Trotz der Ankündigung im Vorwort (7) werden leider archäologische Befunde - zumindest was die materielle Kultur betrifft - kaum herangezogen, allerdings Zerstörungskontexte genannt (67) und aus Oberflächenforschungen gewonnene demographische Überlegungen vorgetragen (73-80). Der Vf. unterscheidet drei Exilierungen, datiert sie 597, 587 und 582 v. Chr. (68-73) und diskutiert ausführlich deren Ausmaß (73-80), das er in Analogie zu den assyrischen Deportationen im Nordreich gegen die Zahlen der biblischen Texte mit 25 % der Bevölkerung schätzt, so dass er für die Zeit zwischen 600 und 580 v. Chr. unter Einschluss der ägyptischen Gola und von Opfern der Militäraktionen auf eine judäische Restbevölkerung von 40.000 Personen kommt. 80.000 Bewohner vor der babylonischen Exilierung vorausgesetzt, bedeute das eine Halbierung der Bevölkerung. Damit wäre das Land nicht menschenleer gewesen (so vermutlich 2Chr 36,20), aber sein Lebensnerv doch entscheidend getroffen.

Dem dürftigen Quellenbefund entsprechend, wird nur wenig zur Geschichte Judas im Exil ausgebreitet (81-85). Der Vf. ist vor allem an der sozialen Entwicklung interessiert und will hier kreative Maßnahmen der Babylonier entdeckt haben. Ob er nicht die politischen und ökonomischen Großmachtinteressen unterschätzt? Der Vf. gesteht die probabylonische Tendenz in Jer 40,7 ff. zu, will aber auch die realistisch wirkenden antibabylonischen Klagen von Klgl 5 ebenfalls als "etwas einseitige Sicht eines Dichters" (82) relativieren. Die Ermordung Gedaljas wird als Grund für die dritte Exilierung 582 v. Chr. genannt; Gedalja hätte danach vier bis fünf Jahre als Statthalter gewirkt. Insgesamt werden Leser und Leserin umfassend über das Leben der ägyptischen und besonders der babylonischen Gola informiert (85-97). Weil sich nach dem vorliegenden Band die Exilszeit bis 520 erstreckt, wird konsequent die persische Geschichte von Kyros bis Darius I. mitberücksichtigt (98-102) und auf dieser Grundlage die Frage um Rückkehr und Tempelbau erörtert (102-112). Eine Rückkehrbewegung (etwa 10.000 Personen) sei nicht schon unter Kyros, sondern erst unter Darius I. entstanden, weil der eine "organisierte Steuerverwaltung" (104) praktiziert habe, die sich in dem partiell für authentisch gehaltenen Text Esra 6,3-5 (dem sog. Kyros-Edikt) widerspiegele.

Der Verlust von Königtum und Tempel bewirkte eine Reihe von Veränderungen (112-116), nicht zuletzt eine Dezentralisierung der religiösen Traditionen und in deren Folge "ein[en] geradezu explosionsartige[n] Anstieg der literarischen Produktion und eine gegenüber vorexilischen Verhältnissen noch weitergehende Aufsplitterung in verschiedene theologische Schulen" (113). Der Literatur widmet sich der Vf. anschließend so ausführlich, dass der vorliegende Band tendenziell zur exilischen Literar- und Literaturgeschichte (vgl. 7 f.) wird, die kaum angemessen referiert, geschweige denn rezensiert werden kann.

Der Schwierigkeit bewusst, nicht alle Texte und Textkomplexe hinreichend sicher datieren zu können, gibt der Vf. im Teil zur Literatur der Exilszeit (117-323) zunächst einen Überblick über die für jene Zeit typischen Gattungen (117-162). Dazu rechnet er Klagen des Volkes und Stadtuntergangsklagen, Heilsworte, Völkerworte und Predigten. Zu den zeitgenössischen Literaturwerken (163-323) rechnet er weder die Priesterschrift noch Formen des Pentateuch, denn beides weist er erst dem 5. Jh. zu; allenfalls konzediert er Anfänge priesterschriftlicher Traditionsbildung in spätexilischer Zeit. Als exilische Literaturwerke werden im Einzelnen analysiert: ein Vier-Prophetenbuch, das Habakukbuch, das Deuteronomistische Geschichtswerk, das Jeremiabuch, das Ezechielbuch und das Deuterojesajabuch.

Der Vf. vertritt zunächst auf der Grundlage begründeter kompositorischer Verklammerungen (166), z. T. mit neuen Erkenntnissen, die auf J. Nogalski zurückgehende kompositions- und redaktionskritische Hypothese eines aus Teilen Hoseas, Amos', Michas und Zephanjas bestehenden Vier-Propheten-Buches (164-185), das nach 550 v. Chr. in Juda entstanden sei, während das Habakukbuch (185-191) frühestens in spätexilischer Zeit seine erste literarische Gestalt erhalten habe.

Ein interessanter, die traditionelle Urkundenhypothese hinter sich lassender Entwurf sieht eine Exilische Vätergeschichte vor (191-209), die in zwei Ausgaben (tabellarische Übersicht 198 f.) aufgeteilt wird, von denen die erste für eine Rückkehr der Gola plädiert habe, während die zweite die Diasporaexistenz akzeptierte. "So eröffnet die Exilische Vätergeschichte den theologischen Streit über die Alija, die Heimkehr ins gelobte Land, der im Judentum bis heute anhält." (209) Die Stärke des Modells liegt in der berechtigten Annahme, dass auch geschichtliche Überlieferungen in der Exilszeit Aufmerksamkeit auf sich lenkten und vor allem die Erzvätertraditionen nach dem Zusammenbruch staatlicher Institutionen neue Bedeutung erhielten.

Zur Erklärung des Deuteronomistischen Geschichtswerks (210-231) bedient sich der Vf. weder des sog. Schichtenmodells noch des Blockmodells. Er hält "mit M. Noth an der weitgehenden Einheitlichkeit" (214), allerdings "mit z. T. umfangreichen nachdeuteronomistischen Ergänzungen" (214), fest, rechnet dabei jedoch mit einer Trägergruppe, deren kontroverser Diskussionsprozeß Varianten und Spannungen hervorgerufen habe. Bei jenem Werk, das in Babylonien, zum größten Teil vor 547/6 v. Chr. verfasst sei, gehe es zwar, wie oft angenommen, um eine Aufarbeitung des Zusammenbruchs, aber auch um Wiederbelebung des Staatskultes und der davidischen Monarchie (230 f.).

Eine besonders intensive deuteronomistische Bearbeitung nimmt der Vf. beim Jeremiabuch an (231-260), das er in drei, durch Nachfahren von Reformbeamten gestaltete deuteronomistische Ausgaben (in Juda um 550, 545-540 und 525-520 v. Chr. entstanden, danach noch Zusätze) aufteilt. Besonders mit der Ablehnung einer Restitution von Tempel und Königtum gewinnen jene Buchgestalten ihr besonderes Profil. Die Überlegungen des Vf.s sind hier sehr anregend, freilich auch nach eigener Einschätzung "noch mit einigen Unsicherheiten belastet" (236). Das größte Problem dieses Erklärungsmodells liegt wohl in der mangelnden Trennschärfe zwischen den Redaktionsgruppierungen.

Das Ezechielbuch (260-283) wird als genuin literarisches Werk von prophetisch-priesterlicher Herkunft gedeutet, ohne dass zwischen dem Propheten, der um 570 gestorben sei (264), und seinen Interpreten klar unterschieden werden könne. Die Entstehungszeit des Buches wird zwischen 545 und 515 v. Chr. gesucht. Der Vf. liest das gesamte Buch "weitgehend als literarische Einheit" (265). Es gehe "den Ezechielschülern um eine Erneuerung ihres Volkes an Haupt und Gliedern" (271).

Hinter dem Deuterojesajabuch (283-323) schließlich vermutet der Vf. eine Prophetenschule mit Affinität zu ehemals national-religiösen Kreisen. Er nimmt auf dem Boden neuerer Redaktionsmodelle zwei Ausgaben des Buches an (40,1-52,12*, 521 v. Chr., und 40,1-55,13, Ende 6., Anfang 5. Jh. v. Chr., beide in Jerusalem verfasst).

Im kurzgefassten "Theologischen Ertrag" (324-332) wird die Exilserfahrung im alten Israel wirkungsgeschichtlich sehr hoch veranschlagt, denn ohne sie hätte es keinen Monotheismus und keine Transzendierung der Nationalreligion gegeben und damit kein Judentum, Christentum und Islam. Man ist wohl besser beraten, wenn man Vorsicht vor monokausalen Erklärungen walten lässt! Im Übrigen plädiert der Vf. eindringlich angesichts der Geschichte von Kirche und Gesellschaft dafür, "daß das Erbe der biblischen Tradition immer wieder wachgerufen wird" (332). Nun zeigt freilich seine Literargeschichte sehr deutlich, dass das Erbe vielfältig war, also kritisch zu rezipieren ist.

Wer das Buch zur Hand nimmt, wird es mit Gewinn benutzen. Es ist gut lesbar und jeweils auf der Höhe der neuesten Forschungen, mit denen ein konstruktives Gespräch gesucht wird. Die Textanalysen versucht der Vf. immer real-, sozial- und religionsgeschichtlich plausibel zu machen. Sehr hilfreich sind neben einer Zeittafel (9) und einer Karte des Vorderen Orients (10) bei vielen Abschnitten eine Quellenübersicht, eine (in ihrer Auswahl nicht immer durchschaubare) Literaturzusammenstellung und viele Tabellen, die die diskursiv gewonnenen Ergebnisse auch graphisch-tabellarisch visualisieren. Ein Namen- und Sachregister, das die Texte allerdings nur in Auswahl bietet, ohne darauf hinzuweisen, schließt das verdienstvolle Buch ab, das die klassischen Bereiche Geschichte, Theologie und Einleitung miteinander verschränkt und sich damit auf einen biblisch enzyklopädischen Weg im wörtlichen Sinne begibt.