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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

875–877

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schorn-Schütte, Luise

Titel/Untertitel:

Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996. 635 S. gr.8 = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 62. Lw. DM 168,-. ISBN 3-579-01730-6.

Rezensent:

Ernst Koch

Das hier vorzustellende Buch, aus einer Habilitationsschrift beim Fachbereich Geschichtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen vom Jahre 1992 erwachsen, stellt eine in mehrfacher Hinsicht paradigmatische Publikation dar. Eine Historikerin befaßt sich in ihm mit einem Gegenstand, der interdisziplinär erschlossen wird und auch fachtheologisch von höchstem Interesse ist, und zwar in einer vergleichenden Untersuchung von drei Territorien über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten hin. Zielstellung, Methodik und Durchführung lassen erwarten, daß die Publikation den Arbeiten zuzurechnen sein wird, die nicht nur vorübergehend als vorbildhaft gelten können.

Die Vfn. versteht das Verhältnis von Religion und Gesellschaft als "eine für die Charakterisierung der frühneuzeitlichen Sozialordnung zentrale Verständnisachse" (15) und bezieht damit in der gegenwärtigen methodologischen Diskussion deutlich Position, die sie u. a. auch zur Auseinandersetzung mit der sog. "Modernisierungthese" führt. Die Arbeit verbindet in überzeugender Durchführung sozialgeschichtliche und biographische Verfahrensweise. Sie möchte die "Einbindung der neuen Sozialgruppe evangelische Geistlichkeit in die Teile der frühmodernen Ständegesellschaft" charakterisieren, "die als Bürgertum bezeichnet werden", und gleichzeitig "eine Analyse ihres Anteils an den sozialen und politischen Wandlungen jener stets als statisch charakterisierten Sozial- und Politikordnung" vorlegen (19). Welches Maß von Quellenerschließung für die gewählte Methode notwendig war, davon gibt allein der etwa ein Viertel des Bandes (457-618) umfassende Teil Kunde, der Abbildungen, Verwandtschaftstafeln, Tabellen, Graphiken, Karten, weitere Beilagen, Quellen- und Literaturverzeichnis umfaßt. Einschließlich der stadtbraunschweigischen Geistlichen und ihrer Ehefrauen lagen der Arbeit biographische und amtsbezogene Daten von 1477 braunschweigisch-wolfenbüttelschen und 1770 hessen-kasselschen Pfarrern und ihrer Ehefrauen zugrunde, wobei die vollständige Erfassung aller Pfarrer des gesamten Zeitraums nur für den Bereich der Stadt Braunschweig möglich war und erstrebt wurde und für das Gebiet von Hessen-Kassel lediglich das Metropolitanat Sontra und für Braunschweig-Wolfenbüttel die Generalsuperintendentur Gandersheim als innerkirchliche Verwaltungseinheiten ausgewählt wurden. Es leuchtet ein, daß angesichts auch nur dieser Beschränkungen der Einsatz elektronischer Datenverarbeitung notwendig wurde.

Für Durchführung und Ergebnisse der Untersuchung tragend sind eine Reihe von Erkenntnissen, die die Vfn. teilweise bereits in früheren Arbeiten formuliert hat. Zu ihnen gehören die Existenz eines "geistlichen Sonderbewußtseins", entwickelt auf der Basis der Dreiständelehre und sich aktualisierend im Anspruch des status ecclesiasticus gegenüber dem status politicus und dem status oeconomicus, sowie das in antiabsolutistisch-patriarchalischer Tendenz in Anspruch genommene Recht der konfessionellen Wahrheit, das sich eben auch politisch zu artikulieren verstand. Mit dieser Erkenntnis wird das Erklärungs- und Verstehenskonzept der Modernisierung, sofern es die "Entsakralisierung des Gesellschaftlichen" (M. Stolleis) einschließt, zumindest relativiert und der Beobachtung Raum gegeben, daß von einer zunehmenden Funktionalisierung der Geistlichkeit im Interesse weltlicher zentraler Herrschaft erst in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg gesprochen werden kann (25). Die damit ausgesprochene Kritik an Ernst Troeltschs Geschichtsbild führt die Vfn. u. a. zum Hinweis auf die Bedeutung der disziplingeschichtlichen Reflexion als "unverzichtbare Funktion ... gerade in sozialgeschichtlichen Untersuchungen" (26 Am.36). Sie ist aber über diesen Hinweis hinaus eben auch für die Theologie anzumahnen.

Eine weitere grundlegende und eingeschliffene Meinungen in Frage stellende Erkenntnis der Untersuchung liegt in der Beobachtung von Differenzen zwischen sozialer Zugehörigkeit der Geistlichkeit und "geistlichem Sonderbewußtsein", die es nicht zulassen, frühneuzeitliche Geistlichkeit ungebrochen als bürgerliche Funktionsträgerschaft zu bezeichnen. In dieser Beziehung kommt wie bereits bei dem erwähnten Sonderbewußtsein das Desiderat einer systematischen Untersuchung des gesellschaftskritischen Widerstandspotentials der lutherischen Geistlichkeit der frühen Neuzeit zur Sprache.

Die Untersuchung wendet sich nach der Einleitung, die über Fragestellung und Stand der Forschung Auskunft gibt und die Territorien, mit denen sie sich beschäftigt, nach Verwaltungsstruktur und Verfassung vorstellt (Kap. I), den Themen soziale Herkunft und Verflechtung (Kap. II), regionale Mobilität und Bildungsstand im konfessionellen Vergleich (Kap. III), materielle Ausstattung im Vergleich der Konfessionen (Kap. IV), Ehe und Familie, "Ganzes Haus" (Kap. V), das Amt als Beruf im konfessionellen Vergleich (Kap. VI) und Geistlichkeit zwischen Obrigkeit und Gemeinde (Kap. VII) zu und resümiert in einem abschließenden Kapitel die Ergebnisse unter den Stichworten "geistliche Bürger" und "politische" Geistliche (Kap. VIII). Hilfreich angesichts der Stoffülle ist die Formulierung von Zwischenergebnissen, die jeweils am Schluß der Kapitel nochmals in größeren Zusammenhängen als Ergebnisse reflektiert werden.

Es ist ausgeschlossen, sie im Rahmen eines vorgegebenen begrenzten Rahmens auch nur in Auswahl vorzustellen. Jedoch sei darauf aufmerksam gemacht, daß dem Kirchenhistoriker in dem vorliegenden Band ein Arbeitsmittel zur Verfügung steht, das geeignet ist, bisher relativ unbefragte Allgemeinüberzeugungen (so z. B. von der Selbstrekrutierung des Pfarrerstandes, dem Bildungsstand der Amtsträger oder der politischen Ethik) in Frage zu stellen bzw. zu relativieren. Auch die Theologiegeschichte der Epoche erfährt manche überraschende neue Beleuchtung, vor allem was den konfessionellen Vergleich angeht. Speziell hingewiesen sei auf die Berücksichtigung der Geschichte der Pfarrfrauen und ihre Schicksale als Witwen.

Die Untersuchung verlockt in allen ihren Teilen dazu, die erhobenen Ergebnisse mit den Verhältnissen in weiteren Territorien zu vergleichen. Sie stellt einen Vorstoß dar, der viele Fragen neu formulieren hilft und künftiger Forschung eine Fülle von Anregungen vermittelt.