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Ausgabe:

Juni/2003

Spalte:

668–670

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Aram I

Titel/Untertitel:

L'Église face aux grands défis.

Verlag:

Antélias (Liban): Catholicossat Arménien de Cilicie 2001. 290 S. 8. Kart.

Rezensent:

Martin Tamcke

Die hier in französischer Übersetzung vorgelegten Rapporte des Katholikos des Großen Hauses von Kilikien, Aram I. (1995 in dieses Amt gewählt), sind jene, die er als Moderator jährlich im Zentralkomitee des Weltkirchenrates zu geben hatte (Rapports du modérateur). Sie zeigen den westarmenischen Hierarchen in seinen theologischen Reflexionen und ökumenischen Bemühungen in der Periode von der siebenten Vollversammlung des Weltkirchenrates in Canberra 1991 bis zur achten Vollversammlung in Harare 1998, in einer Phase also, in der besonders den orientalisch-orthodoxen Kirchen zusehends eine Vermittlerfunktion zwischen den zumindest zeitweilig ökumenisch sich reservierter gebenden Kirchen der chalcedonensischen Orthodoxie einerseits und dem Weltkirchenrat andererseits zukam.

Dabei bewährte sich die kleine Konfessionsfamilie der orientalisch-orthodoxen Kirchen (Armenier, Syrisch-Orthodoxe, Kopten, Äthiopier, Indisch-Orthodoxe) und stärkte die ökumenisch gesonnenen Kreise auch der übrigen Orthodoxie. Manches ist dabei mutig schon auf den ersten Seiten ausgesprochen, was aber selbst in Arams eigener Kirche weithin noch der Umsetzung bedarf. Da wird etwa gefordert, die Ökumene auf eine breitere Basis zu stellen ("L'oecuménisme ne peut rester un domaine propre à la hierarchie et à une élite dans les Églises. La totalité de l'Église, comme peuple de Dieu, doit se l'approprier", 10). Welcher ökumenisch gesonnene Mensch der Gegenwart wäre nicht dieser Meinung? Und doch ist es symptomatisch, dass sich etwa auch bei den Feierlichkeiten anlässlich der 1700-jährigen Christianisierung Armeniens - dem ersten Staat mit christlicher Staatsreligion in der Geschichte - Ökumene, wenn sie sich darstellte, doch auch weithin als Ökumene der Hierarchen nach außen darstellte. Übrigens bedankt sich der Katholikos ausdrücklich geradezu symbolisch bei der Moderatorin der COE-Konsultativgruppe, Manouchag Boyadjian, der Direktorin des Yéghishé-Manoukian-Kollegs (für Relektüre und Überwachung der Publikation), sodann - nicht weniger symbolträchtig - beim Generalsekretär Konrad Raiser und dessen Vorgänger Emilio Castro (für "notre collaboration fructueuse et les échanges d'idées constructifs dans le cadre de notre engagement oecuménique commun"). Der Dank zeugt so auf seine Weise von den angesprochenen Problemen, die - wie die Beteiligung der breiten Basis - weithin mehr zu verfolgende, aber nicht einfach zu erreichende Ziele sind.

Es versteht sich, dass sich die Vorträge teilweise überlappen. Wenn der erste Beitrag deutlich das Visionäre aufnimmt - Vers une vision oecuménique globale -, so treten die verhandelten Themen aber auch in dem zweiten - Pour une pléitude de la koinonia - wieder auf. Da wird eine Kultur des Dialogs beschworen und Globalität ins Bewusstsein gerufen, da werden die konstitutiven theologischen und ekklesialen Faktoren der koinonia benannt, die niemals partiell oder unvollständig sei, die vielmehr eine konkrete Realität darstelle und stets eine eschatologische Dimension habe. Koinonia als Modell der sichtbaren Einheit wird erschlossen als koinonia de foi, koinonia eucharistique und koinonia conciliaire; Kirche, Humanität und Schöpfung werden aus der Perspektive des Reiches Gottes gesehen. Große Themen der vergangenen Jahre werden programmatisch kurz entfaltet: "Une société responsable au sein d'une création viable, foi et culture, l'église et l'ethnicité, l'oecumenisme: un engagement de foi, ensemble vers l'unité". Andere Themen werden gestreift - missio Dei etwa oder vertikales und horizontales ökumenisches Denken oder das Verhältnis von Glaube und Kultur, Indigenisierung, Kontextualität, Pluralismus und die Frage einer ökumenischen Hermeneutik.

Allgegenwärtig in oft nur indirekter Weise hingegen ist das Modell der "familles d'Églises", das besonders angesichts der Spannungen mit den orthodoxen Gliedkirchen anempfohlen wird. Keine Kirche der ökumenischen Gemeinschaft dürfe sich ignoriert oder marginalisiert fühlen. Dieses "ne devrait se sentir" nimmt zwar besonders die subjektive Befindlichkeit des jeweils so Gestimmten ernst, aber führt auch auf eine Verstärkung der kollektiv subjektiven Ebene hinaus, die der möglicherweise mehr "objektiven" zwar etwa die Unerbittlichkeit demokratischer Mehrheitsentscheidungen nimmt zu Gunsten einer Stützung der Minderfraktionen, aber doch in der Sache noch nicht allein weiterführend sein kann. Angesichts der ethnischen Konflikte von Nagorny-Karabach bis Ossetien, Tschetschenien, Abchasien, Moldawien bis Burundi und Ruanda entwirft A. Gedanken zum Verhältnis von Kirche und Ethnos, unterscheidet eine Kultur der Solidarität von einer Kultur der Exklusion, kritische Identifikation und blinde Identifikation.

Während hier auf die mobilisierenden und Konflikt überwindenden Aspekte kirchlichen Engagements hingewiesen wird, kommen dabei die Involvierungen der Kirchen durch blinde Identifikationen natürlich zu kurz. Was A. dann aus seiner Kirchenfamilie heraus der chalcedonensisch-orthodoxen Kirchenfamilie zu sagen hat angesichts der Besorgnis erregenden Entwicklungen vor Harare, ist unzweideutig. Die historischen Wurzeln in kommunistischer Zeit für die gegenwärtigen Entwicklungen mit haftbar machend, fordert er nachdrücklich den Wandel vom Monolog zum Dialog, von der Reaktion zur Aktion, vom Beitrag zur Beteiligung. Die Abwesenheit orthodoxer Kirchen auf der 8. Versammlung sei kein orthodoxes, sondern ein ökumenisches Problem. Ökumenismus sei nicht fakultativ: "etre l'Eglise, c'est etre oecumenique".

Die Themen und Thesen sind hier nicht eingehend zu erörtern, zeugen aber als ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges von den großen Veränderungen in der Ökumene nach der politischen Wende. Aram I. dürfte einer der bemerkenswertesten Repräsentanten gegenwärtiger Ökumene auch in künftig historischer Perspektive bleiben, nicht allein, weil er in spezieller Weise die konfessionelle Vielfalt im ÖRK repräsentiert, sondern weil er theologische Themen aufnimmt, die die Ökumene seit je bestimmten und persönlich engagiert geradezu visionär gegen die sichtbaren Erlahmungsprozesse unablässig neu reformuliert. Diese Haltung schützt ihn vor der Maxime unkreativer Bewahrung der Ist-Zustände, die so keine Zukunft mehr hätten, sie feit ihn aber auch vor der Reduktionslust der indifferenzfreudigen Minimalisten. So lesen sich die Dokumente schon jetzt wie ein Kommentar zur institutionalisierten Ökumene zwischen Canberra und Harare und damit zu jenen Jahren, die das Gesicht der Ökumene ein weiteres Mal zeitbedingt entschieden verändert haben dürften.